„Voluntourismus““ Wenn Freiwilligendienste wie Pauschalreisen verkauft werden
Köln – Klatsch. Der Rohrstock landet auf den Fingern des jungen Schülers. Er konnte beim Morgenappell nicht still halten. Nun bestraft die Lehrerin ihn dafür. Wieder saust der Stock auf die Finger hinunter. Das Kind fängt an zu weinen.
Es sind Bilder wie diese, die Helena Müller (18) nicht mehr loslassen. Im Herbst kehrte sie nach nur drei Wochen aus ihrer Freiwilligenarbeit an einer Schule in Ghana zurück. Geschockt, frustriert und vor allem enttäuscht. Ihre Auslandserfahrung hatte sie sich anders vorgestellt.
„Sie wollen einfach geld verdienen!“
Dass ghanaische Kinder zu Erziehungszwecken geschlagen werden, hatte Müllers Organisation „Praktikawelten“ mit keinem Wort erwähnt. „Keiner kann mir erzählen, dass die Organisation das nicht weiß“, stellt die Abiturientin aus dem Agnesviertel beim Gespräch im Textilcafé fest. Das schlanke Mädchen mit den langen braunen Haaren drückt sich ansonsten vorsichtig aus. Doch hierbei ist sie ganz deutlich. „Sie wollen einfach Geld verdienen.“
So wie Müller zieht es viele Jugendliche nach Schulabschluss ins Ausland. Sie wollen mehr als nur Reisen – sie wollen für andere etwas Gutes tun. Immer mehr Reiseanbieter haben den Trend für sich entdeckt und bieten Kurzfreiwilligenarbeit als Pauschalreise an – manchmal mit zweifelhaften Folgen für die Teilnehmer.
Der sogenannte „Voluntourismus“, eine Kombination aus Reisen und kurzfristigem sozialen Engagement, ist ein neuer Verkaufsschlager. „Oft geht es mehr um Abenteuer und Freizeit als um nachhaltiges Engagement“, urteilt Robert Helm-Pleuger vom Informationsnetzwerk Eurodesk.
Pädagogische Betreuung bleibt auf der Strecke
Der Projektkoordinator berät Jugendliche auf dem Weg ins Ausland. Seine Organisation unterscheidet zwischen rechtlich geregelten Freiwilligendiensten wie dem Weltwärts-Programm und kommerzialisierter Freiwilligenarbeit. Bei letzterem bleibe die pädagogische Betreuung der Freiwilligen oft auf der Strecke. „Viele Jugendliche kennen bis dahin nur Schule und Urlaub“, so Helm-Pleuger.
Der Kulturschock, das Klima sowie persönliche Erfahrungen im Entwicklungsland müssten deshalb begleitet werden. „Viele kommerzielle Anbieter blenden die Vorbereitung der Freiwilligen häufig aus“, stellt er fest. „Solche Anbieter verkaufen Freiwilligenarbeit wie eine Pauschalreise, bei der die Vorbereitungsseminare optional und kostenpflichtig hinzugebucht werden können“, so der Projektkoordinator weiter.
Helena Müller bricht ihre Arbeit in Ghana frühzeitig ab
Helm-Pleugers Kritik ist eine Zusammenfassung von Helenas Erfahrungen mit Praktikawelten. Vom allgemeinen Vorbereitungsseminar in München hatte ihr die Organisation wegen der langen Anfahrt abgeraten. Auch die Koordinatorin später in Ghana nimmt Helenas Kritik lediglich hin. Die junge Frau hat nicht das Gefühl, das sie ihre Probleme wirklich interessieren. Schließlich wechselt die 18-Jährige die Schule. Sie sitzt nun in einem anderen Klassenraum. Die gewaltsame Bestrafung aber bleibt dieselbe.
Die Sinnhaftigkeit ihrer sozialen Arbeit im Ausland geht verloren. Müller ist maßlos enttäuscht, fühlt sich hilflos. „Manchmal wollte ich einfach nur hingehen und den Rohrstock zerbrechen“, schildert die 18-Jährige während des Interviews.
Bei einem Skype-Telefonat mit ihren Eltern schließlich sprudelt alles aus ihr hinaus. Sie bricht ab. Nach nur drei Wochen von den geplanten sechs Monaten kehrt sie nach Köln zurück.
Praktikawelten bedauert den Fall
Auf Nachfragen äußert Praktikawelten bedauern über diesen Fall. „Länder wie Ghana rufen oftmals einen Kulturschock hervor, da die Unterschiede zu Deutschland doch sehr vakant sind“, erläutert Pressesprecherin Sandra Geisler.
Grundsätzlich werde in allen vorbereitenden Reiseunterlagen auf ein andersartiges Bildungs- und Erziehungssystem hingewiesen. „Unsere Teamleitung war erst vor wenigen Wochen selbst in Ghana und war hellauf begeistert – wie auch die Teilnehmer“, so Geisler weiter.
Müllers Erfahrung, die mangelnde Begleitung durch die Organisation – laut Projektkoordinator Robert Helm-Pleuger ein Klassiker. Und die Problematik ist nicht neu. In den USA, Australien und Neuseeland boomt der Markt des Voluntourismus seit Jahren. Laut einer Studie von Brot für die Welt, Tourism Watch, Ecpat Deutschland und dem Arbeitskreis Tourismus und Entwicklung aus 2015 übersteigt die Teilnehmerzahl in kommerzialisierten Angeboten hierzulande mitunter die in staatlich-geregelten Programme.
Es gibt kaum gesicherte Daten
Gesicherte Daten gibt es darüber allerdings nicht. Ein großer Kritikpunkt für die Verfasser der Studie: Die Bewerber werden selten einem kritischen Auswahlverfahren unterworfen. Nur sieben Prozent der untersuchten Anbieter führten ein persönliches Bewerbungsgespräch mit Interessenten durch. 79 Prozent forderten nicht mal einen Lebenslauf an.
Der Studie zufolge sind Projekte in Kindergärten, Schulen oder Jugendtreffs der Verkaufsschlager. Dabei bliebe das Interesse der Kinder meist auf der Strecke. „Die Arbeit mit Menschen ist immer Beziehungsarbeit“, stimmt Helm-Pleuger von Eurodesk zu. Es gäbe immer eine Bindungsproblematik. Selbst bei längerfristigen Projekten ist der Einsatz von Freiwilligen umstritten. „Wenn sie nach nur wenigen Wochen wieder verschwinden, drehen die Kinder im Projekt doch am Rad“, fügt er hinzu.
Jugendliche sind nur Besucher in den Projekten
„Es ist ein Auslandsaufenthalt mit sozialem Touch“ beurteilt auch Müller ihre Auslandserfahrung. „Es herrscht ein großer Durchlauf der Freiwilligen“, beschreibt sie. Die Jugendlichen seien nur Besucher in den Projekten. Das habe wenig mit Nachhaltigkeit zu tun. Auch von den Programmkosten, bei Helena rund 3400 Euro für sechs Monate, fließt das meiste an die Organisatoren. Wie viel davon tatsächlich an das Projekt geht, ist unklar.
Aus diesem Grund rät Eurodesk zur gründlichen Auswahl der Vermittlungsorganisationen. Interessenten sollten in jedem Fall Anbieter auf Qualitätsstandards und eventuelle Gütesiegel überprüfen. Die rechtlich geregelten Angebote wie das Weltwärts-Programm, der Internationale Jugendfreiwilligendienst, ein Freies Soziales oder Freies Ökologisches Jahr im Ausland werden von verschiedenen Bundesministerien gefördert. Wem diese Programme nicht zusagen, dem rät Helm-Pleuger zu Workcamps.
Dort könnten Freiwillige zwei bis vier Wochen kulturelle oder umweltorientierte Langzeitprojekte aktiv unterstützen. Grundsätzlich aber gelte, so der Projektkoordinator: „Informiert euch bei neutralen Beratern, welcher Anbieter am besten zu euch passt.“
Tipps um seriöse Anbieter von Freiwilligendiensten zu erkennen
Die Internetseite „Wege ins Ausland“ gibt Tipps, wie man seriöse Anbieter erkennt:
Geschäftsbedingungen, Programmablauf und Kosten sollten klar und leicht zugänglich dargestellt werden.
Die Kosten des Programms sollten gegenüber einer Insolvenz des Reiseanbieters abgesichert werden, alle wichtigen Inhalte sollten Teil eines Vertrags sein.
Eine pädagogische Betreuung während des Auslandsaufenthalts sollte es ebenso geben wie Vor- und Nachbereitungskurse.
Die Bedingungen für einen Rücktritt vom Freiwilligendienst sollten transparent dargestellt werden.
Die Organisation sollte Mitglied in einem Verband sein, der sich Qualitäts-Standards gibt.
Recherchen in Internet-Foren können dabei helfen, schwarze Schafe unter den Anbietern herauszufiltern. Auf der Internetseite der Organisationen selbst werden in der Regel ausschließlich positive Erfahrungen veröffentlicht.
Hier gibts noch ein paar hilfreiche Internetseiten
Auf einer englisch-sprachigen Seite informieren Sebastian Drobner und Daniel Großbröhmer über verantwortungsbewusste und nachhaltige Freiwilligendienste.
www.responsible-volunteering.com
Der deutsche Ableger von Eurodesk sammelt Informationen rund ums Thema Auslandsaufenthalte und Freiwilligendienste.
Bei der Agentur für Qualität in Freiwilligendiensten (Quifd) können sich Interessenten über Qualitätsstandards in Freiwilligendiensten informieren. Die Agentur vergibt auch ein Gütesiegel.