Nachruf auf Gabi Schneider-WesslingAls ihr Mann starb, legte sie sich zu ihm ins Bett
Köln – Als es für ihren Mann ans Sterben ging, legte Gabi Schneider-Wessling sich zu ihm ins Bett und umarmte ihn. In den letzten Stunden vor der Stille wollte sie ihm so nah wie möglich sein.
Als sie erfuhr, dass sie selber sterben würde, war sie eher überrascht als erschrocken. Sie hörte weiter ihre Musik, Springsteen, Patti Smith, Cohen, Dylan, und tanzte weiter in der Wohnung über dem Bauturm-Theater, einem Kaleidoskop menschenfreundlicher Dinge, in dem sie ihr halbes Leben verbracht hatte. Sie hörte weiter den Stadtvögeln auf der Terrasse zu und den Geschichten ihrer Enkel, Kinder, Freundinnen. Immer wollte sie alles erfahren.
„Im Angesicht des Todes hat sich die ganze Wildheit unserer Mutter gezeigt“, sagt ihre Tochter Kaiyum Lutze, eines von fünf Kindern. „Die Liebe zu uns Kindern und unserem Vater war ihr immer wichtiger als ihr Bedürfnis, sich zu schützen.“
Manchmal habe sich Gabi gefragt, wie ihr Leben verlaufen wäre, wenn sie nicht 1956 auf einer Schifffahrt nach Amerika ihren späteren Mann kennengelernt hätte, sagt Jutta Muthesius, eine der ältesten Freundinnen. „Gabi war eine starke, emanzipierte Frau, unabhängig und freigeistig. Aber es gab in diesem Leben auch Erich, ihren Mann, der sehr angesehen war und den sie sehr verehrte. Und es gab die Familie, die ihre Kraft forderte.“
Nach außen hin war er der Starke
Nach außen hin war er, Erich Schneider-Wessling, der Starke. Er baute zukunftsweisende Häuser und erhielt Preise, er war mit Künstlergrößen wie Karlheinz Stockhausen und Eduardo Paolozzi befreundet, er gründete mit Peter Busmann und anderen die legendäre Architekten- und Ingenieurgemeinschaft Bauturm, er wirkte selbstsicher, rhetorisch gewandt und witzig. In seiner Rolle als Künstler-Architekt, Weltbürger und Familienvater fühlte Erich Schneider-Wessling sich aufgehoben und strahlte das aus.
„Eigentlich aber“, sagt der langjährige Freund Achim Mantscheff vom Bauturmcafé, „war sie die Stärkere, obwohl sie nicht in erster Linie stand, sondern andere auf die Bühne geschickt hat.“
Beeindruckt war Mantscheff, „mit welcher Eigenständigkeit und Menschlichkeit, Zuneigung und Akzeptanz Gabi die Fährnisse ihres Lebens meisterte. Ohne sie wäre ihre Familie viel fragiler gewesen“. Sie habe die „Gabe gehabt, Menschen zu verbinden“.
Tochter Dorothee erinnert sich, dass „sie für unseren Vater die wichtigste Instanz war. Sie bereitetet Vorträge und arbeitete ihm inhaltlich zu. Er besprach seine Entwürfe und Reden mit ihr und hörte in der Regel auf sie.“
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Nach außen hin blieb Gabi Schneider-Wessling die Frau an seiner Seite. Intelligent, charismatisch, neugierig, nach dem Soziologie-Studium in einem empirischen Institut forschend, vor allem aber eben: die Ehegattin eines erfolgreichen Architekten, die ihm „den Rücken freihielt“, wie es in Reden, zu denen sie dann lächeln sollte, hieß.
„Rolle war zu wenig und zu viel“
Die zugedachte Rolle habe ihre Mutter manchmal überfordert, sie habe auch nicht zu ihr gepasst. Sie sei „zu wenig und zu viel zugleich gewesen“, erinnern sich bei Kuchen und Tee im Café am Bauturm neben Dorothée die zweitgeborene Tochter Kaiyum und Dervisha, der einzige Sohn.
Nicht da sein kann Tochter Desirée, die am Tag nach Gabis Diagnose Hirntumor am 6. Oktober 2021 aus Amsterdam anreiste und bis zum Tod der Mutter mit in der Wohnung am Bauturm blieb.
Fünf Kinder kamen in sieben Jahren, das erste, als Gabi 23 war. Für eigene Interessen und Sehnsüchte blieb wenig Raum. Dass es „stark in ihr arbeitete und wir Kinder das oft merkten“, wie Kaiyum sich erinnert, lag womöglich auch daran, dass sie zu Hause die jüngste von fünf Schwestern war.
Vater und Mutter – er arbeitete als Klempner und Starkstromelektriker, sie führte in Rösrath ein Haushaltswarengeschäft – waren oft weg.
Kennenlernen auf Schiff Richtung USA
Kaum erwachsen, ging alles so schnell: Als sie sich 1956 auf einem großen Dampfer Richtung Amerika kennenlernten, war Erich noch mit einer anderen Frau verlobt. Während ihrer Zeit in den USA schrieben sie Briefe. Als sie vom College in Minneapolis und er von einem Jahr in Los Angeles, in dem er in einem Büro des Star-Architekten Richard Neutra arbeitete, zurückkehrte, trafen sie sich wieder.
1958 heirateten sie in der Kapelle Madonna in den Trümmern in Köln. Nach der Hochzeit zogen sie nach Venezuela, wo er ein Büro von Neutra leitete und sie die erste Tochter Daniele gebar.
Umzug nach Köln 1960 – nicht München oder Hamburg, weil Köln als die bei weitem interessantere Kunst- und Kulturstadt galt, und hier „das Chaos, nicht wie in München die Ordnung herrschte“, wie Erich Schneider-Wessling sagte. 15 Monate nach Daniele kam am 1. Juli 1960 Dominike zur Welt, (die sich später Kaiyum nannte).
Freigeistiges Leben und Konventionen
So rasant und vielströmig ging es weiter: Das Paar tauchte in die Fluxus-Bewegung ein, er entwickelte revolutionäre Stadt- und Raumkonzepte, die Ideen wie Car-Sharing und Mehrgenerationenwohnen vordachten.
Die Wohnung am Appellhofplatz, später das Haus im Severinsviertel und ab 1987 die Wohnung über dem Bauturm-Theater standen jedem offen. Immer stand ein großer Topf Suppe auf dem Herd, selten war die Familie unter sich.
Gabi kümmerte sich um die Kinder und bewirtete die Gäste, die manchmal für Wochen blieben, wie ein Straßenmusiker, der sich ein Bein gebrochen hatte und von Familienfreund Klaus dem Geiger ins Haus gebracht worden war. Die Räume schmückte sie mit Blumen und Kerzen, Offenheit und Wärme.
Freigeister, die ihre Ideen lebten und frei liebten, schwebten tags und nachts durchs Haus, Menschen voller Energie und Tatkraft, Konventionen hinterfragend, egal ob in Erziehung, Politik, Wohnen oder Liebe.
Mittendrin: Gabi, mit ihren Ideen und Talenten, gebunden an so viele Konventionen. Aus denen sie ausbrach, als sie mit Erich für drei Monate nach Südamerika ging – derweil die fünf Kinder auf fünf Familien aufgeteilt wurden.
VW Bus war ihr Fluchtfahrzeug
Der VW Bus, mit dem die Familie im Sommer nach Südfrankreich und im Winter in das Engadin fuhr, war für die Mutter „wie ein Fluchtfahrzeug“, erinnern die Kinder. Zu wissen, dass sie immer einfach wegfahren könnte, sei ihr so wichtig gewesen wie der Karneval mit dem Herausschlüpfen aus der eigenen Identität.
Und die Filme, am liebsten mit abgründigen Helden. Schon als Ursulinenschülerin ging Gabi nach dem Unterricht in Kölner Kinos und tauchte ab in die Geschichten, die Möglichkeiten anderer Leben in ihrer Widersprüchlichkeit und Flüchtigkeit.
Erstgeborene Tochter starb mit 35 an Krebs
Was Flüchtigkeit heißt, traf die Familie mit ganzer Wucht, als die Erstgeborene Dani 1994 nach schwerer Krebserkrankung starb, mit 35 Jahren. Die Zeit teilte sich für die Familie fortan in ein davor und ein danach.
Gegen Ende des langen Krankheitsverlaufs las Gabi „Das Tibetische Buch vom Leben und vom Sterben“, deren Autor Sogyal Rinpoche ihr spiritueller Meister wurde. Es habe ihr geholfen, den schmerzhaften Tod der Tochter anzunehmen – „und Danis Übergang in eine andere Welt zu unterstützen“, wie Tochter Dorothée beschreibt. Die Mutter wollte daran glauben, dass das Leben mit dem Tod nicht zu Ende ist.
Katholisch erzogen, interessierte sie sich schon als junge Frau mehr dafür, wie sich das Leiden beenden lasse als das Leiden – wie es das christliche Verständnis nahelegt – als Voraussetzung für Erlösung hinzunehmen.
Nach Danis Tod führte Gabi morgens und abends Gebetszeremonien durch und engagierte sich bei der Gründung des buddhistischen Zentrums in Köln.
Demut und Liebe zu Details
Die inneren Kämpfe um das (Nicht-)Ausleben eigener Sehnsüchte wichen Demut und Liebe zur Gegenwart. Neugier und Sinn für Details blieben: Jeden interessanten Artikel aus dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ schnitt sie für ihre Lieben aus. Immer mussten frische und getrocknete Blumen in der Wohnung sein. Sie hörte weiter ihrem Atem, Vögeln, Kindern, Enkeln und Freunden zu.
Spirituell interessiert waren auch ihre Kinder, einige nahmen Namen von einem spirituellen Meister an. „Vor allem für unseren Vater war das eine Herausforderung“, sagt Dorothée. Er habe Schwierigkeiten gehabt, die antiautoritäre Erziehung der Kinder zu möglichst frei denkenden Menschen mit dieser Art der Spiritualität zusammenzubringen. „Irgendwann hat er es akzeptiert, unserer Mutter fiel das deutlich leichter.“
Mit dem eigenen Tod, sagen die Kinder, habe ihre Mutter kein Problem gehabt. Auch wenn sie die Diagnose kaum glauben konnte. Wie alle Menschen, die sie kannten, hielt Gabi sich für sehr gesund – und innerlich jung. Sie war überzeugt gewesen, sehr alt zu werden.
Als der Tumor aufs Gehirn drückte, Schmerzen verursachte und Lähmungserscheinungen, wollte Gabi Schneider-Wessling keine Chemotherapie und keine Operation. Das sagte sie früh und blieb dabei. „Sie stellte sich dem Tod und das hieß für sie auch, so lange zu leben, bis er eben da war“, sagt ihr Sohn Dervisha Schneider.
Schwer fiel es ihr, in den letzten Monaten auf Hilfe angewiesen zu sein, so dankbar sie war, dass Desirée bei ihr lebte und auch die anderen Kinder immer für sie da waren. Selbstbestimmung war für sie ein Lebensthema. Nach dem Tod von Erich war sie auch gern allein.