Tod nach Vollnarkose„Mama, wenn ich gleich schlafe, bekomme ich eh alles mit!“
- Die sechs Jahre alte Sophia aus Köln hatte zu eng anliegende Backenzähne.
- Weil sie den Mund für eine Behandlung nicht öffnete, entschieden die Eltern sich für eine ambulante OP in Vollnarkose.
- Ärzte beklagen einen „Systemfehler", die Risiken ambulanter Vollnarkosen würden bewusst in Kauf genommen.
Köln – Bevor sie von ihrer Tochter erzählen, zeigen Claudia und Christian H. eine handschriftlich verfasste Liste mit Todesfällen von Kindern nach Vollnarkosen. Neben dem Datum der Veröffentlichung stehen Alter und Name der Kinder, Ort und mögliche Todesursachen: Sina-Mareen, 3 Jahre, Bad Mergentheim, Bakterien im Narkosemittel. Jeanette, 3 Jahre, Kamp Lintfort, falscher Beatmungsschlauch. Faouzane, 9 Jahre, Hamburg, Sauerstoffmangel. Celine, 10 Jahre, Limburg, Herzstillstand.
Am Ende der Liste steht Emilia, 4 Jahre, aus Hessen, über deren Fall im Juni 2021 viele Medien berichteten. Auch sie starb nach einer Vollnarkose beim Zahnarzt. Die Ermittler vermuten eine Sepsis aufgrund eines verunreinigten Narkosemittels. Alle Kinder, die auf dem Zettel aufgelistet sind, starben nach einer Vollnarkose in einer Zahnarztpraxis.
„Uns geht es nicht nur um Sophia“
Sophia, 6 Jahre, aus Köln, gestorben am 17. Mai 2020, steht auf dem Papier in einer Reihe mit den anderen. An viertletzter Stelle. Hinter der Todesursache steht ein Fragezeichen. „Uns geht es nicht nur um Sophia“, sagt die Mutter. „Wir wollen einfach alles tun, was in unserer Macht steht, um andere Eltern und Kinder vor diesem Schicksal zu bewahren.“
Dringend brauche es engmaschigere Kontrollen und höhere Qualitätsanforderungen – wenn nicht gar ein Verbot von ambulanten Operationen in Zahnarztpraxen. Wir können es nicht ertragen, dass diese unschuldig verstorbenen Kinder als Einzelfälle abgetan werden“, sagt der Vater. „Man muss nur einmal konkreter im Internet schauen, um zu wissen, dass sie es nicht sind.“
Der Staat nehme Risiko in Kauf, sagen Ärzte
Die Entscheidung, die Geschichte von Sophia öffentlich zu erzählen, ist mehr als ein Hilferuf verzweifelter Eltern. Sophias Tod ist mehr als ein tragisches Einzelschicksal. Führende Kindermediziner und Anästhesisten sprechen von einem „Systemfehler“ – das Risiko von ambulanten Operationen bei Kindern werde vom Staat seit Jahrzehnten in Kauf genommen.
„Ambulante Operationen bei Kindern unter Vollnarkose sind auch deswegen ein heikles Thema, weil sie vom Gesetzgeber explizit so gewollt sind“, sagt Prof. Christoph Eich, Chefarzt der Abteilung Anästhesie, Kinderintensiv- und Notfallmedizin am Kinderkrankenhaus „Auf der Bult“ in Hannover. „Es ist ein Dilemma, weil die Kostenträger zum Beispiel bei Zahnoperationen in der Regel nur die Versorgung im ambulanten Bereich vergüten. Das Credo in unserem dualen Gesundheitssystem lautet: „Ambulant vor stationär.“
Die Zahl der ambulanten Operationen hat sich in den vergangenen 25 Jahren mehr als verdoppelt. Das liegt auch daran, dass sie seit dem Jahr 2000 vom Gesetzgeber gefördert werden. Arztpraxen können die Eingriffe ohne Pauschalisierung gesondert abrechnen. Ob der Arzt in der eigenen Praxis operiert oder ein ambulantes OP-Zentrum anmietet, wird bei der Vergütung nicht gesondert berücksichtigt.
Risiken seit Jahrzehnten bekannt
Das Problem von Komplikationen und Todesfällen nach Vollnarkosen bei Kindern ist bekannt. Säuglinge und Kleinkinder verbrauchen viel Sauerstoff, können ihn aber schlechter als Erwachsene speichern. In zahlreichen wissenschaftlichen Aufsätzen wird beschrieben, warum Vollnarkosen bei Säuglingen, Kleinkindern und jüngeren Schulkindern weitaus höhere Risiken bergen als bei Erwachsenen und warum es besonders wichtig ist, dass bei Operationen von Heranwachsenden höchste Qualitätsstandards eingehalten werden – die in dafür ausgerichteten Zahnkliniken und Krankenhäusern leichter erreicht werden als in ambulanten Praxen.
Die Folgen eines Gesundheitssystems, das bei vermeintlich leichten Eingriffen ambulante Operationen vorsieht, sind Einbußen bei der Patientensicherheit und Behandlungsqualität. „Allein in Hannover haben wir jedes Jahr einige Dutzend relevant vorerkrankte Kinder, die ambulant versorgt werden müssen, obwohl sie stationär besser aufgehoben wären“, sagt Anästhesist Eich. Auf „zwei bis drei Dutzend pro Jahr“ schätzt Eich die Anzahl der Fälle, in denen Kinder nach zumeist leichteren Komplikationen bei praxis-ambulanten Operationen allein in seinem Kinderkrankenhaus weiterbehandelt werden müssten. Die Zahlen ließen sich hochrechnen.
Versuche mit örtlicher Betäubung scheiterten
Claudia und Christian H. haben sich getrennt, als Sophia drei Jahre alt war. Wenn es um ihre Tochter ging, haben sie trotzdem immer zusammen entschieden. So war es auch, als eine Operation von Sophias zu eng stehenden Backenzähnen anstand, die Karies in den Zahnzwischenräumen begünstigten. Mehrere Versuche einer örtlichen Betäubung scheiterten, weil Sophia den Mund nicht öffnete, als der Bohrer sich näherte.
Von einer Lachgasbehandlung habe der Arzt abgeraten, weil zu viele Zähne betroffen seien, erinnern sich die Eltern. Neugierig habe Sophia alle Instrumente in der Praxis in Augenschein genommen, sagt die Mutter. „Sie war voller Energie, ein lebensfroher Wirbelwind.“
Schnell habe die Zahnärztin eine Vollnarkose ins Spiel gebracht. „Wir hatten anfangs große Bedenken: Eine Vollnarkose in einer Praxis? Für eine routinemäßige, aber aufwändige Zahn-Operation?“, erinnert sich der Vater. „Aber wir haben uns nach langem Hin und Her überzeugen lassen.“ Auch weil Sophia sich in der Praxis wohlgefühlt habe.
Nachdem sie den Aufklärungsbogen mehrfach gelesen und Bedenkzeit erbeten hatten, entschieden die Eltern, Sophia in der Praxis operieren zu lassen. „Auf dem Aufklärungsbogen stand zwar etwas von möglichen, seltenen Komplikationen, aber vor allem von Dingen wie Halsschmerzen. Hervorgehoben wurde, dass solche Narkosen absolute Routine seien“, sagt die Mutter. Der Vater sagt: „Da wurde suggeriert, eine Vollnarkose sei in etwa so gefährlich wie Zähne putzen.“ Auch der Anästhesist habe von einer „Routine-OP“ gesprochen. Ausweislich seines Lebenslaufes auf seiner Website sei er sehr erfahren in der Intensivmedizin mit Kindern gewesen.
In Klinik kann schneller reagiert werden
„Viele niedergelassene Kolleginnen und Kollegen arbeiteten sehr sorgfältig und mit hohen Sicherheitsstandards“, betont Christoph Eich. „Vielen würde ich blind vertrauen.“
Trotzdem gebe es auch „Kinder-unerfahrene und unzureichend vorbereitete Kolleginnen und Kollegen – und immer wieder Komplikationen, bei denen in einem Krankenhaus viel schneller und sachgerechter reagiert werden kann. Allein schon, weil wir in der Klinik immer sofort erfahrene Kolleginnen und Kollegen dazu rufen können“.
Komplikationen haben zugenommen
„Die Komplikationen während ambulanter Zahnoperationen bei Kindern haben leider in den vergangenen Jahren zugenommen“, sagt Jörg Karst, Vertreter der niedergelassenen Anästhesisten in Deutschland. Die allermeisten Kolleginnen und Kollegen arbeiteten vorbildlich, aber es gebe auch „schwarze Schafe“ – und dazu „Rahmenbedingungen, die Fehler wahrscheinlicher machen“.
Karst spricht davon, dass die Budgetierung beim ambulanten Operieren „einige Kolleginnen und Kollegen dazu verleitet, zu sparen“; die Infrastruktur einiger Praxen sei nicht auf Operationen ausgelegt.
„Zu wenig Kompetenz bei Vollnarkosen“
„Ich habe schon erlebt, dass ein zweites Behandlungszimmer als Aufwachraum diente – oder das Kind irgendwo auf einer Liege in einem Hinterzimmer aufwachen sollte – statt in einem dafür eingerichteten Raum.“ Es gebe in Praxen „kein Sicherheitsnetz bei Komplikationen, das es in einer Klinik gibt“, sagt Karst. Auch die mangelnde humanmedizinische Ausbildung von Zahnärzten spiele eine Rolle: „Bezüglich der Risikoabwägung von Vollnarkosen haben Zahnärzte zu wenig Kompetenz.“
In Großbritannien sind ambulante Operationen in Zahnarztpraxen seit dem Jahr 2000 verboten – seitdem ist dort laut Statistik kein Kind mehr nach einer Vollnarkose für eine Zahnbehandlung gestorben. Für Deutschland bringt Jörg Karst einen Mittelweg ins Spiel: „Wenn wir die Strukturen so verbessern, dass Operationen nur in einem angemessenen Umfeld durchgeführt werden und stärker darauf geachtet wird, dass in der Kinderanästhesie erfahrene Kolleginnen und Kollegen die Narkosen durchführen, senken wir das Risiko schon erheblich.“
Ermittlungsverfahren läuft
Am 13. Mai 2020 fährt Claudia H. mit ihrer Tochter in die Praxis. Sophia ist nervös, die Mutter versucht, sie auf ihrem Schoß zu beruhigen. Nach der Narkoseeinleitung wird die Mutter gebeten, im gut gefüllten Wartezimmer zu warten. Nach Ablauf der besprochenen Zeit für die Operation sei es unruhig geworden in der Praxis. Irgendwann sei sie in ein Nebenbehandlungszimmer gebeten worden, erinnert sich Claudia H.
Dort sei ihr gesagt worden, dass sie nicht beunruhigt sein solle, der Notarzt sei verständigt worden, da Sophia nicht richtig wach werde. „Dann trafen bald schon die Rettungsärzte ein. Erst da wurde mir mitgeteilt, dass Sophia einen Herzstillstand erlitten hatte“, sagt die Mutter.
Seit April 2021 wissen die Eltern einige Details. Wie lange ihre Tochter womöglich nicht mit Sauerstoff versorgt war und zu welchen Ergebnissen Gutachter bisher kamen. Von diesen Ereignissen soll hier nicht die Rede sein, weil die Ermittlungen nach der Strafanzeige gegen die Ärzte noch nicht abgeschlossen sind, wie der Kölner Oberstaatsanwalt Ulrich Bremer auf Anfrage mitteilt. Ein medizinischer Gutachter kläre derzeit, ob das Mädchen aufgrund eines ärztlichen Fehlverhaltens gestorben sei.
Ambulant vor stationär: „Ein Riesenproblem“
Dass Gesetzgeber und Kostenträger immer stärker auf ambulante Operationen pochen, bezeichnet Anästhesist Christoph Eich als „Riesenproblem“, das allerdings „hausgemacht“ sei und seit vielen Jahren ambivalent diskutiert werde: „Höhere Standards durch zum Beispiel strengeres Qualitätsmanagement bedeuten letztlich auch höhere Beiträge.“
Vor diesem Hintergrund würde fast jeder Eingriff ins Gesundheitssystem diskutiert. Er selbst, sagt Eich, würde es „nicht verantworten wollen, Narkosen bei Kindern in einer Praxis durchzuführen, deren medizinische und personelle Infrastruktur darauf nicht ausgerichtet ist.“
Fünf Tage auf der Intensivstation
Fünf Tage liegt ihre Tochter auf der Intensivstation des Krankenhauses. Die Eltern wachen im Wechsel jeden Tag ununterbrochen an Sophias Bett. Sie führen ein Tagebuch und schreiben alles hinein, was ihnen auffällt: Puls, Sauerstoffsättigung, Atemfrequenz, Muskelzucken, Bewegungen des Mundes, Augen flirren, Bewegungen, Temperatur. „Wir gaben und taten alles was irgendwie helfen konnte, ihr die Chance zu geben das zu überleben und zu uns zurückzukommen, auch wenn es bedeutet hätte, dass sie danach sehr wahrscheinlich schwerstbehindert und bettlägerig gewesen wäre. Bis sie am Ende leider doch in meinem Arm starb“, sagt der Vater.
„Ich habe bis heute alles ständig vor mir: Die Geräusche der Maschinen, die Gerüche und Stimmen der Ärzte und Pfleger, Sophia, wie sie da liegt, zuckt, weit weg zu sein scheint – und wie sie sich beruhigt, wenn wir sie auf den Arm nehmen.“ Am fünften Tag wird ihr Hirntod festgestellt.
Vater ist „innerlich zerstört“
Christian H. sagt, der Tod seiner Tochter habe ihn „innerlich zerstört“. Er hat versucht, wieder zu arbeiten, merke aber, dass es nicht geht. Seine Ärzte stellten ein komplexes posttraumatisches Belastungssyndrom fest.
Viereinhalb Monate hat der 40-Jährige zuletzt in stationären Kliniken verbracht. Die Sitzungen beim Therapeuten brächten Linderung, „aber keine Heilung“. „Mental“, sagt der Kölner, „bin ich bis heute auf der Intensivstation. Jeden Tag und jede Nacht. Immer.“
Mutter kann nicht mehr in Kita arbeiten
Die Mutter wird inzwischen von Eltern aus dem Umfeld und im Internet um Rat gefragt, wenn es um ambulante Zahnarztnarkosen geht. Sie rate grundsätzlich ab, sagt sie. Claudia H. hat eine Trauerseite für ihre Tochter erstellt, auf der sie über Sophias Schnuffeltuch, ihre Liebe zur Musik, ihre zwei Rennmäuse Lora und Ella und über ihre letzten Sätze schreibt: „Mama, wenn ich gleich schlafe, bekomme ich eh alles mit!“
Auch sie ist in therapeutischer Behandlung und nutzt das Angebot einer Trauerbegleiterin. Als Erzieherin in einem Kindergarten konnte Claudia H. nach dem Tod ihrer Tochter nach einem Jahr nicht mehr arbeiten. Sie arbeitet jetzt in einem anderen Job, schlechter bezahlt, keinen Kontakt zu Kindern in Sophias Alter. „Sophia und ich haben ja Tag und Nacht alles zusammen gemacht, deswegen erinnert mich auch alles an sie“, sagt sie. „Und die Gesellschaft verlangt indirekt ständig, dass man normal weiterleben und funktionieren soll. Das ist verrückt.“
Sie rede viel über ihre Trauer. „Bei mir muss alles raus“, sagt sie. „Für uns hat sich mit Sophias Tod alles verändert, nichts ist mehr, wie es war. Wir schaffen den neuen Alltag innerlich nur schwer, denn das Wertvollste wurde uns genommen.“
Vereint sind Claudia und Christian H. in ihrem Schmerz – und in ihrem Willen, über Vollnarkosen bei Kindern in ambulanten Praxen aufzuklären. „Uns hier zu engagieren, hilft uns auch mit unserer eigenen Hilflosigkeit umzugehen“, sagt Christian H. „Wenn man die Berichte von Todesfällen liest und die Wahrscheinlichkeiten von Komplikationen, ahnt man, dass die Dunkelziffer gewaltig sein muss.“
Dass schwere Komplikationen nach Vollnarkosen in ambulanten Praxen nicht nur seltene Einzelfälle sind, leugnen Anästhesisten wie Christoph Eich oder Jörg Karst nicht. Sie sind sich der Fehler im System bewusst.
Keine Statistiken über Todesfälle
Belastbare Statistiken zu Komplikationen nach ambulanten Vollnarkosen bei Kindern gibt es nicht. Es gibt kein Register über Todesfälle, keine Statistik, wie viele ambulante Operationen in Deutschland überhaupt durchgeführt werden und keine darüber, wie viele Kinder in Deutschland jedes Jahr nach Atem-Kreislauf-Stillstand wiederbelebt werden.
„Wir würden uns ein solches Register sehr wünschen, um die Ursachen besser analysieren zu können“, sagt Jörg Karst. „Ich wundere mich auch mitunter, welche Statistiken es hierzulande nicht gibt“, sagt Christoph Eich.
Claudia und Christian H. sagen, ihnen gehe es nicht darum, dass ein Arzt, der ihre Tochter behandelt hat, vor Gericht zur Rechenschaft gezogen wird. Wenn der Tod von Sophia „irgendeinen Sinn gehabt haben soll, dann den, dass sich etwas ändert und anderen Kindern und Familien so ein Schicksal erspart bleibt“.