Köln – Sie hängen in Ecken und an Decken, klemmen an Fassaden oder sitzen auf Masten und Pfeilern. Manche klein und unscheinbar, andere wuchtig und unübersehbar. An offiziell bekannten 3866 Standorten inklusive Züge, Busse und Bahnen überwachen Videokameras inzwischen den öffentlichen Raum in Köln. Das ergeben Recherchen bei Stadt, Polizei, Bundespolizei, KVB und der Deutschen Bahn.
Die Betreiber versprechen dadurch mehr Sicherheit, Kriminologen aber zweifeln das stark an. Wissenschaftlich eindeutig belegt, sagen sie, sei das nicht. „Der Nutzen wird in der Öffentlichkeit allgemein überschätzt“, sagt etwa Mario Bachmann, Kriminologe an der Universität Köln. Jens Hälterlein, Soziologe an der Uni Freiburg, wird noch deutlicher. Zur Verhinderung von Straftaten, sagt er, bringe Videobeobachtung „fast gar nichts“.
Elektronische Überwachung scheint unaufhaltsam
Und dennoch: Der Trend zur elektronischen Überwachung scheint unaufhaltsam. Bei den 3866 bekannten Standorten in der Stadt sind weitere hunderte, eher tausende Kameras noch gar nicht mitgezählt. Sie werden von Privaten betrieben, die nicht gezwungen sind, den Einsatz der Technik zu melden. Die Geräte hängen in Einkaufszentren, Geschäften, Banken und Museen. In Parkhäusern, an Tankstellen, Geldautomaten und in Schwimmbädern. In Stadien, am Flughafen, in Veranstaltungssälen und anderswo. Hinzu kommen so genannte Bodycams, die die Polizei zurzeit in Köln im Testversuch bei Einsätzen trägt und Dashcams, die auf Armaturenbrettern von Autos montiert sind.
Und auch das ist noch nicht das Ende: Die Polizei will nächstes Jahr 32 weitere Kameras in Betrieb nehmen. Nach den Ringen und dem Dom-Umfeld werden dann auch Neumarkt, Ebertplatz, Wiener Platz und Breslauer Platz überwacht. Die KVB rüstet zurzeit ihre letzten 30 bislang nicht überwachten Haltestellen mit Technik aus, und auch die Bundespolizei will zusätzliche Kameras installieren. Dabei ist es schon heute unmöglich, sich unbeobachtet in Köln zu bewegen, zumindest in der Innenstadt. Wer Busse oder Bahnen nutzt, landet unausweichlich auf Datenträgern der KVB – wenngleich diese nach 48 Stunden automatisch wieder gelöscht werden.
Überwachter Spaziergang durch Köln
Eine einstündige Tour vom Verlagshaus an der Amsterdamer Straße in Niehl mit der KVB zum Hohenzollernring, weiter zu Fuß über die Ehrenstraße und die Breite Straße zum Dom und von dort mit der Bahn zurück zeigt: Auf der knapp zwölf Kilometer langen Strecke ist man auf ungefähr zehn Kilometern einer lückenlosen Überwachung durch Kameras der KVB und der Polizei ausgesetzt.
Auf den restlichen zwei Kilometern läuft der Fußgänger sporadisch in den Fokus verschiedener Kameras, deren Betreiber nicht immer klar sind. Die Geräte hängen vor Einfahrten, Tiefgaragenzugängen und an Geschäften. Grundsätzlich ist das erlaubt – sofern ein Schild auf die Überwachung hinweist und solange nur Geschäftsräume, das eigene Grundstück oder das direkte Umfeld erfasst werden – also Zugänge, Fassaden oder Schaufenster. Nur der öffentliche Straßenraum ist tabu, Ausnahmen sind nur in seltenen Fällen erlaubt.
Viele Privatbetreiber halten sich nicht an die Vorschriften
In der Praxis aber herrscht Wildwuchs. Viele Privatbetreiber halten sich nicht an die gesetzlichen Vorschriften. Auch auf der Ehrenstraße, der Breite Straße und der Richartzstraße fallen immer wieder Kameras ins Auge, die auch auf die Straße oder den Gehweg gerichtet sind. In einer Bankfiliale etwa filmt eine Kamera im Vorraum durch die gläserne Eingangstür offensichtlich auch die Passanten auf dem Bürgersteig.
Videoüberwachung in Köln in Zahlen
194 Kameras der Deutschen Bahn hängen allein im Hauptbahnhof.
2520 Kameras filmen die KVB-Fahrgäste in Bahnen, Bussen und an Haltestellen. Die Leitstelle kann Livebilder der Stationen sehen, in den Fahrzeugen wird nur aufgezeichnet.
200 Kameras betreibt die Bundespolizei an verschiedenen Haltestellen und Bahnhöfen in der Stadt.
76 Kameras hat die Polizei Köln ab 2019 in Betrieb, derzeit sind es
44 auf den Ringen und im Umfeld des Doms.
882 Kameras hängen in
63 Zügen im S-Bahn-Netz.
26 Kameras der Stadt Köln überwachen den Verkehr an Knotenpunkten. Sie liefern ausschließlich Standbilder für Stauprognosen.
Vielfach fehlen die vorgeschriebenen Hinweisschilder. Für den Laien ist meist nicht ersichtlich, ob es sich um funktionierende oder defekte Kameras handelt oder nur um Attrappen. Auch wer da genau filmt, ob die Kameras Livebilder senden oder nur aufzeichnen oder beides und vor allem wie lange die Daten gegebenenfalls gespeichert werden – all das bleibt unklar. Kontrolliert wird es auch nicht.
Klagen gegen Videoüberwachung nehmen zu
Die Kommunen hätten dazu keine Berechtigung, erklärt Kölns Stadtsprecherin Inge Schürmann. Wer Zweifel hege, ob eine Kamera ordnungsgemäß installiert sei, müsse sich bei der Landesdatenschutzbeauftragten Helga Block in Düsseldorf beschweren. Aus ihrer Behörde heißt es, die Klagen gegen Videoüberwachung durch Private nähmen von Jahr zu Jahr zu: 600 seien es 2015 gewesen, 660 ein Jahr später. Die Ausweitung der Videoüberwachung sehe man kritisch. Sie führe nicht automatisch zu mehr Sicherheit.
„Klar ist“, sagt Helga Block, „dass die Folge dieser Ausweitung weitere erhebliche Beeinträchtigungen für die Bürgerinnen und Bürger haben wird.“ Unklar sei hingegen, ob die erwünschten Wirkungen überhaupt eintreten. „Ich habe Zweifel an der abschreckenden Wirkung vermehrter Videoüberwachung.“
Extrem dünne Forschungslage
Im deutschsprachigen Raum, wo das Thema Videoüberwachung erst am Anfang steht, ist die Forschungslage dazu extrem dünn. In England, das als Mutterland der Videoüberwachung gilt, ist die Präventionswirkung dagegen vergleichsweise gut erforscht. „Die Ergebnisse sind ernüchternd“, fasst der Kölner Kriminologe Mario Bachmann zusammen. Bei Gewaltdelikten könne man kaum eine präventive Wirkung feststellen, bei Eigentumsdelikten wie Diebstählen und bei Sachbeschädigungen eine etwas größere.
„Interessant ist“, sagt Bachmann, „dass ein Engländer sich bei weitem nicht sicherer fühlt als ein Deutscher – und das, obwohl es in England viel mehr Videoüberwachung gibt.“ Ursache könne womöglich ein gewisser Gewöhnungseffekt sein. Je nach Statistik kommt in London eine Überwachungskamera auf ungefähr acht Einwohner, in Köln eine auf 333.
Polizei Köln setzt auf Ausweitung der Videoüberwachung
Auch die Polizei Köln folgt dem Bundestrend und setzt auf die Ausweitung der Videobewachung von öffentlichen Straßen und Plätzen, die sie als Kriminalitätsbrennpunkt definiert – denn nur das ist gesetzlich erlaubt. Seit kurzem zeichnet die Polizei Köln nicht mehr nur stundenweise, sondern rund um die Uhr auf, an 365 Tagen im Jahr. Sofern keine Straftaten zu erkennen sind, werden die Aufnahmen nach zwei Wochen gelöscht.
Montag bis Freitag beobachten Beamte die Livebilder auf Monitoren im Präsidium bis in die Nacht, an Wochenenden bis zum frühen Morgen. Erkennen sie brenzlige Situationen, schicken sie sofort einen Streifenwagen los.
Polizeipräsident Uwe Jacob wertet die Kameras positiv
Die Kameras wertet Polizeipräsident Uwe Jacob als „wichtigen Beitrag“, um die „gefühlte und tatsächliche“ Sicherheit der Menschen zu erhöhen. Wo bereits überwacht werde, seien die Kriminalitätszahlen teils deutlich gesunken – auch wegen der Kameras, ist Jacob überzeugt. 249 Einsätze seien voriges Jahr aufgrund von Live-Videobildern absolviert worden, 85 mal seien Straftaten aufgezeichnet worden.
Ist das nun viel? Oder wenig? Rechtfertigt das Ergebnis den technischen und personellen Aufwand? Allein die Installation der 32 neuen Kameras im kommenden Jahr kostet eine Million Euro, finanziert aus dem Landeshaushalt. Wissenschaftler Hälterlein ist skeptisch. Die Zahlen 249 und 85 sagten erst einmal nichts aus: „85 Straftaten von wie vielen? Was für Einsätze waren das? Und hätte es die vielleicht auch ohne Videoüberwachung gegeben?“
Die Zukunft der überwachten Stadt
Einen Blick in die Zukunft der überwachten Stadt kann man in Mannheim und Berlin werfen. Dort initiieren Landes- und Bundespolizei derzeit Pilotprojekte. In Mannheim wertet ein Computerprogramm Videobilder von 71 Kameras aus. Erkennt die Software untypische Bewegungen, ein Schlagen, Rennen oder Fallen, blinkt eine Lampe auf. Ein Polizist schaut sich die Szene am Monitor an und schickt im Zweifel eine Streife los. In der Hauptstadt, am Bahnhof Südkreuz, scannen Kameras die Gesichter der Passanten. So sollen Straftäter herausgefiltert werden. Die Polizei hält eine Fehlerquote von einem Prozent für realistisch.
Forscher haben Zweifel, dass die Projekte in naher Zukunft in den Regelbetrieb übergehen, schon aus technischen Gründen. Eine Fehlerquote von einem Prozent höre sich erstmal sehr gut an, sagt Kriminologe Bachmann. Bei 160.000 Pendlern pro Tag seien das aber immerhin 1600 Fehlalarme. „Eine irre Zahl“, findet Bachmann. „Das wird die Polizei nicht mitmachen.“