Vor einem Jahr trafen wir die Ukrainerin Inna Pavlik im Ankunftszentrum für Flüchtlinge am Hauptbahnhof. Wie geht es ihr heute?
„Das Gute ist unbesiegbar“Wie es der Ukrainerin Inna Pavlik nach einem Jahr in Köln geht
Vor einem Jahr änderte sich das Leben von Inna Pavlik, wie das von Millionen anderer Ukrainer, dramatisch. Die 31-Jährige Recruiterin aus Kiew hat sofort nach den ersten Raketeneinschlägen ihren Notfallkoffer gepackt und war zusammen mit ihren 61-jährigen Eltern und ihrem kleinen Hund Basia geflohen. Ursprünglich wollten sie in die Westukraine fahren, aber nach einigen Tagen hatte der Krieg die gesamte Ukraine erfasst.
Unerwartete Schwierigkeiten bei der Flucht
Während der Flucht musste die Familie viel ertragen. Ihr Nachbar, der sie aus Winnyzja, einer kleinen Stadt in der Westukraine, zur polnischen Grenze fahren sollte, hielt sein Auto mitten in der Nacht neben einem Feld an und weigerte sich, sie weiter Richtung Grenze zu fahren. Er nahm das ganze Geld, das Pavlik ihm für Benzin und seine Hilfe gegeben hatte und fuhr allein weiter. Dank Freiwilligen schaffte die Familie es nach Polen. Dort konnte sie aber nicht lange bleiben, weil die Flüchtlingsunterkünfte überfüllt waren. Nach anderthalb Wochen kam die Familie in Köln an – erschöpft und hoffnungslos.
Knapp ein Jahr ist es her, dass uns Inna Pavlik am Kölner Hauptbahnhof ihre Geschichte erzählte. Sie hatte einen zitternden Hund im Arm und neben ihr stand eine kleine Tasche, in die sie ihr ganzes Leben gepackt hat – ohne zu wissen, was auf sie zukommen wird. Nun haben wir sie wieder getroffen. „Damals konnte ich nicht daran glauben, dass es irgendwann besser sein wird“, sagt sie. Aber es wurde besser. Sie lebt seit Jahresbeginn mit ihren Eltern in einer eigenen Wohnung in Köln. Doch der Weg bis dahin war schwer.
Viele Monate im Flüchtlingsheim in Köln
Inna Pavlik kam vor einem Jahr mit ihren Eltern in eine Flüchtlingsunterkunft. Dort hat sie versucht, so schnell wie möglich in einen Alltag zurückzufinden. Sie hat angefangen, den anderen Geflüchteten zu helfen. „Zunächst haben wir die Menschen nur mit Zahnbürsten und Kleidung versorgt. Später organisierten wir viele Projekte“, erzählt sie. Mit der Zeit erfuhren immer mehr Organisationen von ihrem Engagement.
Pavlik half bei der Verteilung von Spenden, bei der Wohnungssuche für Geflüchtete und organisierte in Kooperation mit Restaurants Essen. Durch ihre Arbeit fand sie viel Kraft und auch eine gewisse Ablenkung – trotz der dramatischen Lage. Sie verbrachte unzählige Stunden mit dem Ent- und Beladen von LKWs mit Spenden für die Ukraine.
Ihre Hilfsbereitschaft sprach sich im Lager herum, und so lernte Pavlik viele Menschen kennen. In der Flüchtlingsunterkunft traf sie eine Familie aus der Ukraine mit autistischen Zwillingssöhnen. Im April erhielt der Vater eine E-Mail, in der stand, dass seine 15-jährigen Jungen in das ukrainische Paralympics-Team aufgenommen wurden. „Ich werde nie vergessen, wie er mit einem glücklichen Lächeln und stolz erhobenem Kopf auf mich zueilte, um mir das zu erzählen“, sagt sie.
Anderen Geflüchteten zu helfen, gab ihr selbst Kraft
In diesem Moment sei ihr klar geworden, dass das Glück nicht von dem Ort abhängt, an dem man sich befindet. Dieser Mann habe seit mehreren Monaten in einem winzigen Zimmer unter schrecklichen Bedingungen in der Unterkunft gelebt und er wusste, dass seine Kinder wegen des Krieges nicht an den Paralympischen Spielen teilnehmen können. „Aber er verbreitete trotzdem Freude und Glück und gab das an uns alle weiter.“ Glück habe nichts mit materiellen Dingen zu tun. „Und in einer Situation, in der wir im Grunde alle durch Trauer zusammengebracht werden, können wir trotzdem glücklich sein“, so Pavlik.
Viele Monate lebte Pavlik in der Flüchtlingsunterkunft. Sie hat vielen Menschen geholfen, aber sich selbst konnte sie zunächst nicht helfen. Die Sprache war fremd, die Stadt schien unübersichtlich und sie wusste nicht, wie deutsche Strukturen funktionieren. Sie spürte oft Leere und Hoffnungslosigkeit in sich. „In diesen Momenten dachte ich, dass ich mich hier nie wiederfinden werde und dass es besser ist, zurückzufahren. Ich wusste, dass in der Ukraine Krieg herrscht, aber oft dachte ich, dass der Krieg leichter zu überstehen ist, als sich in Deutschland anzupassen und eine Wohnung zu finden.“
Vater freute sich über gespendete Schuhe in Größe 46
Im letzten Jahr, sagt Pavlik, habe sie zwei Dinge gelernt: Dass das Wichtigste im Leben die Familie ist und es im Leben ein Bumerang-Prinzip gibt. „Während des Krieges funktionierte der Bumerang in meinem Fall blitzschnell. Je mehr ich den Menschen half und versuchte, etwas für andere zu tun und in irgendeiner Weise zu helfen, desto mehr Gutes bekam ich zurück“, erzählt Pavlik. Sie verteilte zum Beispiel gespendete Kleidung an Geflüchtete.
Doch für ihren Vater mit der Schuhgröße 46 konnte sie lange nichts finden. Der Frühling kam und er trug immer noch seine Winterstiefel. Als eine Hilfsorganisation die Flüchtlingsunterkunft besuchte, sagte Pavliks Mutter: „Unsere Tochter hilft jedem bei jedem Anliegen, aber für ihrem Vater kann sie keine Schuhe finden.“ Die Frau von der Hilfsorganisation gab ihrer Mutter eine Adresse und sagte: „Da finden Sie bestimmt etwas für Ihren Vater.“ „Als wir an diesem Ort angekommen sind, haben sie uns zwölf Schuhpaare in seiner Größe angeboten. Mein Vater war sehr bewegt.“
Dies ist nur eine von vielen Geschichten, die ihr in diesem Jahr widerfahren sind. Auf die Frage, wie man in einer solch schwierigen Situation ein positiver Mensch bleibt, antwortet sie: „Man hat gar keine andere Chance, sonst verzweifelt man.“ Davon, dass es ein Bumerang-Gesetz im Leben gibt, ist sie nun felsenfest überzeugt. Ihre Familie ist vereint, ihr Mann ist inzwischen auch nach Deutschland gekommen, sie lernt intensiv Deutsch und hört nie auf, den anderen zu helfen. Ihr Hund zittert nicht mehr in ihren Händen und sie blickt zuversichtlich in dies Zukunft. Und sagt: „Das Gute ist unbesiegbar.“