Köln – Lisa und Leon sind im Digitalunterricht, Lara macht Hausaufgaben, Lars darf eine Serie gucken, Lili sitzt auf Mamas Schoß. Die fünf Kinder sind so ruhig, als sei niemand zu Hause. „Das glaube ich gerade fast selbst nicht“, sagt Kathrin Kremer und lacht. „Wenn es mal richtig laut wird, bin leider meistens ich der Grund. Ich kann manchmal einfach nicht mehr und dann ist es mit der Ruhe vorbei. Die Kinder kommen meistens erstaunlich gut mit der Situation klar. Ich bin immer wieder überrascht, wie flexibel sie sind. Und wie gut sie sich zusammenreißen.“
Zu siebt in vier Zimmern
Familie Kremer lebt in einer Vier-Zimmer-Wohnung in Vingst. Der Vater ist morgens aus dem Haus und kommt abends von der Arbeit als Lagerist nach Hause, die anderen sechs sind seit Beginn der Pandemie fast immer da. Der 14-jährige Leon ist Asthmatiker und deswegen besonders vorsichtig, der fünfjährige ist Lars anfangs noch zur Kita gegangen, inzwischen nicht mehr, „weil er es nicht verstehen würde, dass seine Geschwister zu Hause sind und er nicht“, sagt Kathrin Kremer. Lars sei in seiner Entwicklung verlangsamt – „hat dafür die meiste Energie von allen und kann jetzt abends nicht schlafen, weil er die Energie natürlich nicht los wird hier“.
„Man fühlt sich vom Staat allein gelassen“
Mit fünf Kindern allein zu Haus, wie geht das seit mehr als einem Jahr, ohne durchzudrehen? „Durch Disziplin und eine gewisse Strenge“, sagt die Mutter. „Wir halten zusammen. Und manchmal geht es auch eigentlich gar nicht mehr und man fühlt sich vom Staat ein bisschen allein gelassen.“
Der Wecker von Kathrin Kremer klingelt spätestens um 5.30 Uhr. Für eine halbe Stunde genießt sie dann die Ruhe. Trinkt Kaffee – und überlegt, was am Tag ansteht. Um 6.15, spätestens 6.30 Uhr werden die Kinder geweckt. „Bevor um 8.30 Uhr der Digitalunterricht losgeht, mache ich in den Zimmern sauber, das muss für mich sein.“ Die Großen haben ihre Aufgaben: Leon kümmert sich um den Müll, gemeinsam mit der 13-jährigen Lisa macht er auch die Wäsche. Den Tisch decken auch Lara (9) und Lars (5) schon mit. Lars schläft abends selten vor 22 Uhr. Bis sie dann aufgeräumt habe, sei es 23 Uhr, sagt Kremer. „Manchmal gucke ich dann noch eine Serie, weil ich Zeit für mich brauche. Aber das rächt sich oft am nächsten Morgen.“
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Was es für sie heiße, sich vom Staat allein gelassen zu fühlen? Es sei schlicht nicht nachvollziehbar, dass sich der Unterricht für die Schulen von Woche zu Woche ändere, sagt Kremer. „Mal Distanzunterricht, dann Wechselunterricht, dann vielleicht mal wieder normaler Unterricht. Getestet wurde erst sehr, sehr spät und auch da gab es eine klare Linie. Und natürlich hat man auch nicht das Gefühl, dass es dem Staat in erster Linie um Kinder geht oder sogar um Familien mit vielen Kindern. Immerhin stecken die Kinder jetzt seit mehr als einem Jahr zurück – und mit ihnen die Eltern, die die Lehrer zu Hause ersetzen.“
Ihr ältester Sohn kommt vom Bio-Distanzunterricht und lächelt seine Mutter verständnisvoll an. Leon ist ein ruhiger, überlegter Typ, der in der Schule am liebten Biologie und Physik mag. „Natürlich läuft es besser, wenn man sich auf irgendetwas einstellen kann“, sagt er. „Mir ist reiner Distanzunterricht lieber, was das Lernen angeht. Nur wenn man eigene Fragen hat, braucht man natürlich auch mal die Lehrer vor Ort.“ Leon und Lisa sind sehr gut in der Schule, das ist in den Lockdowns so geblieben. Ihrer Mutter ist das wichtig.
Höhere Einkaufs-, Wasser- und Stromkosten
Familie Kremer hat nicht viel Geld, obwohl der Vater hart arbeitet „haben wir jeden Monat kaum mehr Geld zur Verfügung als wenn wir komplett von Sozialhilfe leben würden“, sagt die Mutter. Corona habe die Kosten spürbar erhöht: Sie koche jetzt oft zweimal am Tag warm und müsse mehr einkaufen, auch die Strom- und Wasserrechnungen seien deutlich höher. Vor einigen Monaten habe sie es deswegen mit Zeitungaustragen versucht, das Baby Lili habe sie mitgenommen. „Aber das ging natürlich nicht auf Dauer.“
Im Moment haben die Kremers eine Baustelle im Bad, es gibt einen Wasserschaden. Weil die Handwerker die Haustür aufgelassen hätten, sei vor ein paar Tagen der Kinderwagen geklaut worden. „Für uns ist das eine Katastrophe.“
Zum Glück gebe es die Pfarrgemeinde nebenan. Wenn nicht gerade Pandemie ist, gibt Kathrin Kremer den Kommunionskindern Unterricht – „der Glaube und die Kirche helfen mir seit einigen Jahren, zur Ruhe zu kommen. Ich bin ein sehr temperamentvoller Mensch, der eigentlich immer Menschen um sich herum braucht. Auch deswegen fallen mir Distanz und Abstand schwer.“
Hilfe von der Kirchengemeinde
Neben der Ruhe gebe die Kirche ihr auch ein bisschen Sicherheit. Nicht nur durch den Glauben, auch ganz handfest. Zu Pfarrer Franz Meurer könne sie immer gehen, wenn es mal an etwas fehle – einem Fahrrad oder auch: einem Kinderwagen. „Wir möchten das so selten wie möglich in Anspruch nehmen, aber manchmal geht es eben nicht anders.“
Die 13-jährige Lisa kommt vom Distanz-Unterricht ins Wohnzimmer. „Ich vermisse die Schule und meine Freundinnen, sonst eigentlich nichts“, sagt sie. „Ich vermisse die Schule auch am meisten“, sagt Leon. „Ich auch“, sagt die neunjährige Lara. Im Moment lernt die Drittklässlerin jeden Morgen mit ihrer Mutter, am Videounterricht soll sie nicht teilnehmen, weil sie das überfordere, meint Kathrin Kremer. „Ich finde es nicht so gut, wenn sie so viel vor dem Bildschirm sitzt – und da schreien dann eh immer alle wild durcheinander, so dass Lara nichts mitbekommt.“ Das stundenlange vor dem Bildschirmhocken der Kinder findet sie „schon krass. Sonst sagen die Lehrer ja immer: Am besten höchstens eine halbe Stunde Fernsehen pro Tag, und bitte Internet und Computerspiele stark kontrollieren“.
Die Angst vor dem Klischee
Kathrin Kremer ist es wichtig, nicht als „Asi-Familie mit vielen Kindern“ wahrgenommen zu werden. Sie bekomme es ja mit: Die Blicke, wenn sie mit den Kindern in den Park gehe oder zum Einkaufen. „Das Klischee haben doch alle im Kopf.“ Also achtet sie darauf, dass die Kinder sich genug bewegen – manchmal springen die Kinder im Wohnzimmer Seilchen oder üben mit dem Hula-Hoop-Reifen. In der Schule tragen die Kinder FFP-2-Masken, keine normalen OP-Masken. „Auf dem Spielplatz sind manchmal 20 Familien, und die meisten Eltern tragen gar keine Maske. Ich verstehe das nicht“, sagt die fünffache Mutter.
Frage an die neunjährige Lara, ob sie verstehe, was das eigentlich bedeute, Pandemie? „Wir müssen Masken tragen und Abstand halten, wegen Corona.“ „Sie wissen schon, dass das gefährlich ist, das erkläre ich den Kindern sehr genau“, sagt die Mutter. „Aber sie können es natürlich nicht nachvollziehen – und deswegen kann es Kinder auch einschüchtern und ihnen Angst machen.“Die Ohnmacht vor dem Virus, sagte die Kinderpsychologin Elisabeth Raffauf dieser Zeitung jüngst, treffe Kinder viel härter als Erwachsene. Weil sie die Zusammenhänge und Folgerungen weniger nachvollziehen könnten, in der Schule viel stärker als an anderen Arbeitsplätzen Hygieneregeln einhalten müssten und die Notwendigkeit von sicheren Strukturen für Kinder wichtiger seien als für Erwachsene. Soziale Bindungen, Strukturen, die Sicherheit geben und die Möglichkeit, autonom zu leben – was uns allen momentan fehlt, fehlt Kindern besonders.
Strukturen und Humor als Gegenmittel
„Wir versuchen natürlich, die Strukturen aufrecht zu erhalten, die Kinder dürfen sich auch mit zwei, drei guten Freunden treffen“, sagt Kathrin Kremer. „Und wir erlauben ein bisschen mehr als sonst: Fernsehen, Playstation spielen, so etwas. Vor allem aber versuchen wir, viel rumzublödeln und zu lachen.“
Leon hofft, dass er im August zu seinem 15. Geburtstag ins Phantasialand kann. Lara und Lars freuen sich aufs Freibad. Die ganze Familie möchte im Sommer in den Movie-Park fahren und Geburtstage nachfeiern, viele sind im Frühjahr schon zum zweiten Mal ausgefallen. Vor allem aber hoffen die Kremers, dass alle Kinder wieder normal in die Schule und in den Kindergarten gehen können. Kathrin Kremer sagt: „Das ist vielleicht das einzige Gute: Das durch Corona jeder kapiert hat, wie wichtig Schule ist.“