Kölner Infektiologe„Covid-19 ist um ein Vielfaches tödlicher als die Grippe“
- Das Coronavirus zwingt Menschen in Köln, das eigene Leben stark einzuschränken – über Wochen, mindestens. Aber ist das überhaupt nötig? Zahlen sich die strikten Maßnahmen am Ende wirklich aus?
- Diese Frage bewegt nicht nur Politiker und Experten, sondern vor allem jene, die von der Situation finanziell hart getroffen sind.
- Wir haben uns in einer Sonderausgabe unserer Experten-Serie mit dem Kölner Infektiologen Gerd Fätkenheuer zu dem Thema unterhalten. Er sagt: „Die Särge kann man nicht einfach wegdiskutieren“ – und fordert ein Tracking per App.
Herr Professor Fätkenheuer, für wie stabil halten Sie den Konsens, dass die Abwehrmaßnahmen gegen das Corona-Virus berechtigt sind und greifen?
Ich fürchte, die Zustimmung war vor zwei Wochen größer als heute. Die Einstellungen von Menschen ändern sich, und das umso stärker, je spürbarer die Einschnitte sind und je länger sie dauern. Aber das ist normal. Unverantwortlich aber wird es, wenn jetzt Stimmung gegen die bestehenden Maßnahmen gemacht oder unter dem Label bürgerlicher Freiheiten zum Widerstand gegen eine vermeintliche Unterdrückung aufgerufen wird. Hier geht es ja nicht um einen klassischen demokratischen Meinungsstreit, in dem jeder seine Position hat und haben darf. Sondern hier geht es um Epidemiologie. Es geht um den faktenbasierten Umgang mit einer Krankheit, die für unsere Gesellschaft als ganzes hoch gefährlich ist. Die Wissenschaft beschreibt die Risiken und schlägt Abwehrmaßnahmen vor. Die Entscheidung liegt bei der Politik. Aber offenbar waren die Beschreibungen so triftig, die Vorschläge so überzeugend, dass die Politiker ihnen gefolgt sind. Sie haben den „Shut down“ beschlossen, weil es keine bessere Möglichkeit gab.
Aber das wird ja nun unterdessen aus der Zunft der Virologen selbst bestritten – von hochrangigen Experten mit Professoren- und Chefarzt-Titeln.
Das ist schwierig zu verstehen und auch schwierig auszuhalten, völlig klar. Auch wir als Experten müssen mit einem hohen Maß an Unklarheit leben. Wir haben es mit einer ganz neuen Krankheit zu tun. Die ersten Berichte sind jetzt gerade ein Vierteljahr alt. In dieser Zeit ist zwar schon sehr viel Wissen angesammelt worden, aber Gewissheit haben auch die Experten in vielen Punkten noch nicht. Es liegt deshalb in der Natur der Sache, dass die Auskünfte unterschiedlich ausfallen. Letztlich haben wir keine andere Möglichkeit, als der plausibelsten Version zu folgen.
Und was ist dann das Plausibelste?
Das, was sich aus der Empirie, aus den Zahlen am schlüssigsten ergibt. Deshalb lautet hier mein Rat, immer auf die Daten zu schauen, auf die sich die Argumente stützen. Auch da sind dem Nicht-Wissenschaftler Grenzen gesetzt, aber einen anderen Weg gibt es nicht. Ich jedenfalls kenne keinen.
Es kursiert teils heftige Kritik. Ein Argument lautet, die Gefährlichkeit des Virus werde dramatisch überschätzt. Die von ihm ausgelöste Krankheit sei eben doch nichts Gravierenderes als eine mittelschwere Grippe.
Wir müssen uns hierfür an den Daten orientieren, die aus anderen Ländern – China, Italien, Spanien und viele mehr – vorliegen. Die wichtigste Kennziffer für die Gefährlichkeit einer Krankheit ist zweifelsohne die Sterblichkeits- oder Mortalitätsrate. Und hier gilt zum Beispiel für Italien, dass aktuell jeder zehnte positiv Getestete Patient gestorben ist.
Das könnte Sie auch interessieren:
Gegenargument: Das sei eine rein statistische Größe, die sich aus dem Verhältnis zwischen der Zahl der Getesteten und der Zahl der Todesfälle ergebe.
Das ist richtig und zugleich nicht richtig. Wir wissen und sagen das auch, dass eine Mortalitätsrate von zehn Prozent zu hoch angesetzt ist, weil ein großer Teil der Corona-Patienten, bei denen die Krankheit einen leichten bis mittelschweren Verlauf nimmt, in Italien gar nicht getestet sind. Dennoch müssen wir auch in Deutschland in den letzten Tagen eine deutliche Zunahme der Sterblichkeitsrate auf jetzt 1,2 Prozent verzeichnen. Präzise könnten wir den Wert nur angeben, wenn – theoretisch – die gesamte Bevölkerung getestet wäre und man bei allen Verstorbenen sagen könnte, ob eine Covid-19-Erkrankung vorlag. Das ist in der Praxis unmöglich. Aber der Schätz-Korridor, in dem sich die Experten mehrheitlich bewegen, liegt zwischen 0,8 Prozent und 1,5 Prozent. Bei der klassischen Influenza liegt der Wert um 0,1 Prozent. Das heißt: Selbst wenn man die – noch – günstigen Zahlen aus Deutschland zugrundelegt, haben wir es mit einer Mortalität zu tun, die um ein Vielfaches höher ist als bei der Grippe.
Dagegen wird vorgebracht, dass nicht zwischen Patienten unterschieden wird, die „wegen Corona“ – also nur an Corona – sterben, und jenen, die „an Corona“ sterben, aber auch sonst todkrank waren.
Das ist richtig. Die Zahlen sind dadurch höher, als sie es bei einer weniger genauen Erfassung wären. Ich empfehle aber auch, nicht nur auf Papiere mit Zahlen zu schauen, sondern sich die Bilder anzusehen: Wenn in Italien die Kühlhäuser nicht mehr ausreichen, es keine Särge mehr gibt und die Friedhöfe überfüllt sind, dann muss doch wohl etwas anders sein als normalerweise.
Nächster Einwand: Alles eine Frage des Gesundheitssystems! Deutschland ist besser aufgestellt als etwa Italien oder Spanien und braucht sich deshalb vor Corona nicht in dem Maße zu fürchten, wie es von der Politik und von Medizinern wie Ihnen beschworen wird.
Auch das ist in Teilen – aber eben auch nur in Teilen - richtig. Der Zustand des italienischen Gesundheitswesens ist mitverantwortlich für die hohe Zahl an Toten. Das System ist schlicht überfordert. Wenn wir aber eine solche Eskalation bekämen wie in Italien, würde auch unser System kollabieren. Auch unsere Krankenhäuser sind nicht darauf ausgelegt, eine so große Welle schwerster Erkrankungen aufzufangen.
Wie sehr können wir uns darauf verlassen, dass die verhängten Maßnahmen wirken? Immerhin dauert der Shut down jetzt schon zwei Wochen, aber die Infektionen steigen trotzdem weiter.
Wir rechnen mit einer maximalen Inkubationszeit des Virus von 14 Tagen. Nach Verhängung der strengeren Kontaktbeschränkungen wird diese Frist überhaupt erst jetzt erreicht. Zudem war und ist es nicht möglich, die gesamte Bevölkerung komplett zu isolieren. Maßnahmen wie in China können und wollen wir nicht anwenden. Das heißt aber: Es gibt sozusagen ein Überlappen von Infektionen. Deswegen steigen die Zahlen auch noch weiter. Aber es gibt sehr wohl erste Anzeichen für die Wirksamkeit der Abwehrmaßnahmen. Ein guter Indikator ist die „Verdoppelungszeit“: Wie lange dauert es, bis sich die Zahl der Infizierten verdoppelt hat? Das waren in Deutschland schon einmal zwei, drei Tage. Jetzt geht es in Richtung acht bis zehn Tage. Das heißt: Die immer wieder als essentiell deklarierte Abflachung der Kurve findet statt.
Aber damit wäre es vorbei, wenn man die Kontaktbeschränkungen jetzt lockern würde?
Unter Garantie. Auch hierzu hilft der Vergleich mit Italien: Die Entwicklungskurven dort und hier sind völlig parallel, aber zeitversetzt. Wir können jetzt nur hoffen, dass die Epidemie bei uns mit den – im Verhältnis zu Italien früher – eingeleiteten Maßnahmen einen weniger schlimmen Verlauf nimmt als in Italien. Die eingeleiteten Maßnahmen waren und sind nach meiner festen Überzeugung richtig. Ich sehe nichts, was man stattdessen hätte tun können. Beendet man sie, kann man die erzielten Folge und die Hoffnung auf eine Überwindung der Krise glatt vergessen. Im Gegenteil: Es würde alles noch viel schlimmer, weil wir jetzt weit mehr Infizierte haben als noch vor ein paar Wochen.
Und warum sollte das am 20. April anders sein, dem Termin, bis zu dem der derzeitige Zustand weiterbestehen soll?
Das ist nicht ausgemacht. Ich halte es deshalb auch für unseriös, jetzt schon Stichtage anzugeben. Natürlich brauchen wir einen Exit. Kein vernünftiger Mensch würde behaupten, dass der bestehende Shut down über Monate gehen soll. Es gibt gute, clevere Überlegungen, wie wir die Situation weiter stabilisieren können. Die Idee mit dem Handy-Tracking zur Verfolgung der Infektionswege würde ich sofort umsetzen.
Auf freiwilliger Basis oder verpflichtend?
Zu den verfassungs- und persönlichkeitsrechtlichen Fragen kann ich nichts sagen. Aber als Mediziner und als Mensch hätte ich unter den gegebenen Umständen nichts gegen eine verpflichtende Überwachung einzuwenden. Wenn es uns so gelänge, jeden Symptomträger umgehend zu erkennen, zu testen und zu isolieren, dann könnten wir für alle anderen die Beschränkungen sehr viel leichter lockern. Auch deshalb müssen wir alles tun für vermehrte und beschleunigte Tests. Da passiert ja auch schon sehr viel. Deswegen glaube ich: In ein, zwei Monaten sind wir sehr viel weiter und können dann sehen, welche Beschränkungen wir dann auch wieder lockern können.
Der frühere SPD-Bundestagsabgeordnete Wolfgang Wodarg, inzwischen eine Ikone der Corona-Skeptiker, spricht sinngemäß von einer Test-Krankheit: Würde man nicht so viel auf Corona testen, fiele das Virus im Spektrum der Infektionen und möglichen Erkrankungen gar nicht weiter auf. Es käme auch nicht zu einer Überlastung der Krankenhäuser, weil man die Menschen nicht in dieser großen Zahl stationär behandeln würde. Quintessenz: Die Panik – oder die Panikmache – vor dem Virus ist gefährlicher als das Virus selbst.
Das ist kompletter Unsinn. Noch einmal: Die Särge, die aus italienischen Kliniken heraustransportiert werden, kann auch Herr Wodarg nicht einfach wegdiskutieren.