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„50 Meter Köln“ in der SüdstadtKleine Fluchten Im Ferkulum

Lesezeit 6 Minuten

Eine Gasse mit viel Busverkehr: Im Ferkulum in der Kölner Südstadt

Köln – Es gibt so viele deutsche Flüchtlinge Im Ferkulum, der kleinen wilden Parallelstraße der Severinstraße; Ostzonenflüchtlinge, Liebesflüchtlinge und Arbeitsflüchtlinge, Partyflüchtlinge, auch in gewisser Hinsicht politische Flüchtlinge, die die Marktwirtschaft kritisieren und dafür kämpfen, dass die Straße nicht „durchgentrifiziert“ wird, wie es auf Fiesdeutsch heißt. Immobilienfirmen und wohlhabende Privatleute haben hier noch nicht alles gekauft und luxussaniert, ein Haus haben die Kapitalismuskritiker erworben. Aber erstmal zu den deutschen Flüchtlingen in dieser engen Gasse, durch die alle fünf Minuten ein Linienbus donnert, diesem weiten Feld.

Karl-Heinz Krüger (86) ist 1950 mit dem Fahrrad der Diktatur in der Ostzone entflohen. Er radelte mit fünf Mark in der Tasche in den Westen und kam des Bruders wegen nach Köln, später ist er mit seiner Frau Ingeburg Im Ferkulum gelandet, einer Straße, die 1962, als die Krügers in die Wohnung einzogen (62 Quadratmeter, 180 Mark), unscheinbar und arbeitssam war. Damals lebten nur GEW-Mitarbeiter in dem Haus, längst ist Karl-Heinz Krüger der letzte von ihnen. Fast alle, die sie kannten, sind „verstorben oder verzogen“; unsere Geschichte, sagen sie mit kleinen Augen an der Tür, „interessiert doch keinen“; beim Erzählen weiten sich ihre Augen dann noch einmal, die Melancholie ihres Befundes, dass man sich „hier grüßt und Tschüs sagt und das war’s“ weicht der Erinnerungsfreude an was für ein Leben.

Er war Grenzpolizist und sollte ins Uranbergwerk, weil er den Behörden verschwiegen hatte, dass er einen Bruder im Westen hat. „Nur, weil mein Kontaktmann nicht zur verabredeten Zeit im Zug war, kam ich drum herum.“ Sie verlor ihren Bruder, ebenfalls Grenzpolizist, „der von einem Kameraden versehentlich erschossen wurde“. Die Krügers leben seit 65 Jahren in Köln, fast genauso lang sind sie verheiratet, sie spricht weiter Oberfränkisch, er Thüringisch, das Paar wirkt sehr einverstanden miteinander, sehr offen und nett und gemeinsam allein. Die Straße? „Nu ja“, sagt sie, „man sagt ja nicht, dass es früher besser war. Aber es war sauberer.“ Der Lärm der Jugend aus den Kneipen unten mache ihr nichts, „wir haben uns mal ein Altenheim angeguckt, aber das wollten wir nicht, nur Alte, da ist es uns mit den Jungen lieber“.

50 Meter Köln heißt unsere Serie, in der die Redaktion die Vielfalt der Stadt ergründet. Nachbarn, die dem ersten Anschein nach Welten trennen, sprechen über ihren Alltag – regelmäßig im Lokalteil. (uk)

Die Jungen oder Jüngeren, das sind zum Beispiel die Leute vom ehemals besetzten Haus in der 15, zu erkennen an den Aufklebern, Graffitis und Flaggen, von denen die größte „mehr Fluchthelfer“ fordert. „Fluchthelfer“, sagt Tito (43), der eigentlich anders heißt, „sind in der DDR als Helden gefeiert worden – jetzt werden sie nur noch als Schlepper kriminalisiert“. Tito kennt die Krügers nicht, er hat keine Diktatur erlebt, sich aber für eine systemkritische Haltung entschieden – und ist auch deswegen ins Wohnprojekt des Vereins Prekarius geflohen, das er mit „politisch links und sozialorientiert“ umschreibt.

Hausbesetzung im Kartäuserwall

Vor sechs Jahren hat das Kollektiv das Haus, das seit 1990 besetzt war, gekauft, es war ziemlich günstig, weil die Besitzerin des Sozialbetrugs verdächtig war und ihre beiden Häuser Im Ferkulum schnell verkaufen musste. „Einem Immobilienhai, der uns überboten hatte, haben wir einige Besuche abgestattet und ihn irgendwann überzeugt, uns das Haus zu überlassen“, sagt Tito, der sich als selbstständiger Schreiner auf dem Kapitalmarkt verdingt. „Er hat dann nur das Haus neben uns gekauft.“

Im nächsten Abschnitt erklären weitere Kölner ihre Verbindung zum „Ferkulum.

Die Hausbesetzer, die jetzt Hausbesitzer sind, haben kürzlich den Kartäuserwall 14 mitbesetzt. Sie wollen verhindern, dass die Südstadt wird wie der Prenzlauer Berg in Berlin, der so durch-und-durch-gentrifiziert ist, dass er im Duden als Synonym für Gentrifizierung aufgenommen werden könnte. Im Winter steht eine Mietpreiserhöhung im Haus nebenan an, in dem seit fast 40 Jahren ein türkischstämmiges Ehepaar wohnt – die linke Hausgemeinschaft wird dann wieder auf die Barrikaden gehen.

Als Mieter hat der Hausbesitzerverein im Erdgeschoss den Fahrrad-Arzt Hermann Lenart akzeptiert, der aus Liebesgründen nach Köln geflüchtet ist. Sie verstehen sich, eine mobile Fahrradambulanz, das passt, Lenart zahlt wenig, sonst hätte er sich den Laden auch nicht leisten können, bloß darf der 60-Jährige die bunt bemalten Rollläden seiner Miniwerkstatt nicht überpinseln, da hat das Kollektiv sein Veto eingelegt. „Wir sind da sehr undemokratisch, eine Gegenstimme genügt“, sagt Tito. Das gilt auch für Leute, die auf der Suche nach billigem Wohnraum klingeln. „Viele verdienen hier nicht so viel“, sagt er. Einige stehen der Erwerbsarbeit auch eher kritisch gegenüber.

Friseur und Wodka-Kneipe

Stichwort Prenzlauer Berg: Es gibt auch Im Ferkulum schon Wohnungen, die mehr kosten als vergleichbare Appartements in Marienburg oder Lindenthal. Es gibt einen hippen Friseur, eine Wodka-Kneipe, eine Maskenbildnerin, einen Buchbinder und Lenarts Fahrradwerkstatt, auch den Tsunami, 2015 zum besten Club der Stadt gewählt (Cologne Club Award), in dem gilt, was André Niediek, der üppig tätowierte Koch vom französischen Restaurant Maison Blue, treffend für das ganze Ferkulum sagt: „Die Jass ist kein Luftkurort, es wird schon einiges an Alkohol vernichtet hier.“

In der Kajtek-Bar und im Restaurant Odessa gibt es guten Wodka, im Schnörres und im Bootshaus Bier und Schnaps, in der Haifischbar, wo früher die Künstler- und Intellektuellenbar Chin’s war, Cocktails, bei Niediek sehr gute Medoc-Weine. Dazu Fisch, Hase, Wildschwein, Fasan oder Burgunderbraten, der 47-Jährige trägt einen Button mit der Inschrift „100 Prozent non-vegan“, auf seinem Smartphone prangen die Lettern PUNK, von seinen Zigaretten schneidet er den Filter ab. Er komme von der Straße, sagt Niediek, früh zu Hause weg, viele Dummheiten gemacht, auch dann noch, als er vor zehn Jahren das Maison Blue ein paar Läden weiter eröffnete, habe er „zu viel auf die Mayo gehauen, ich stand mir da manchmal selbst im Weg“. Und jetzt? Seine Augen funkeln noch ziemlich wild, „aber nur noch für die Küche“, er hat jetzt eine bald dreijährige Tochter und ein Häuschen auf dem Land. Gut, ab und zu geht er noch ins Tsunami, auf die Mayo hauen. Man kann nicht immer nur Lachsstrudelsäckchen servieren und Hasen zerlegen.

Niediek ist ein Party- und Straßenflüchtling, Marco Ziermann, einer von vier Clubbetreibern des Tsunami, eher ein Arbeitsflüchtling. Der 39-Jährige wurde als Offset-Drucker arbeitslos und wollte was mit Musik machen, mit seiner Punkband Karoshi (Japanisch: Tod durch Überarbeiten) war er schon im Tsunami aufgetreten und kannte die Leute, vor dreieinhalb Jahren stieg er dann ein, er kümmert sich um die Künstler, bloß wirft der Club des Jahres nicht genug ab zum Leben. An einigen Abenden schiebt Ziermann Thekenschichten in der Lotta-Bar, eine Mitbetreiberin arbeitet nebenher als Make-up-Artist. Marco Ziermann wirkt sehr entspannt, keine Karoshi-Gefahr, aber einen melancholischen Befund hat er wie Ehepaar Krüger auch parat: Er wisse nicht warum, sagt er, aber die jungen Leute kämen inzwischen weniger zu Konzerten, „kann sein, dass das am Internet liegt, vielleicht gucken manche lieber Youtube oder streamen Lieder“. Er versteht es nicht, obwohl er noch wie 25 aussieht und viele Konzerte im Tsunami einen hohen Erinnerungsfaktor haben.

Die gemütliche Kellerhöhle ist jetzt öfter ein Fluchtort für Junggebliebene, zu vielen Konzerten kommen mehr 30- bis 50-Jährige. „Früher war das mit dem Jungsein anders“, sagt Ingeburg Krüger. Ihren Karl-Heinz hat sie beim Tanztee in der Ostzone kennengelernt. Dann sind sie geflohen, „und jetzt sind wir halt seit 1962 hier“.