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Italiens Niederlage bei der EM 2016Eine Momentaufnahme in der Kölner Südstadt

Lesezeit 5 Minuten
02072016_Momentaufnahme EM_14

Die kleine italienische Bar Formula Uno im Zugweg in der Südstadt ist während Fußball-Europa- oder Weltmeisterschaften nicht wiederzuerkennen.

20.58 Uhr Es geht los

Mit der Nationalhymne geht Italien hoch in Führung: „Wir sind bereit zum Tod, wir sind bereit zum Tod, Italien hat gerufen!“ singen die Kölner Italiener am Zugweg mehr oder weniger synchron mit ihren Nationalspielern um den inbrünstigen Weltklassesänger Giggi Buffon. Goldzähne und Zahnspangen blinken, Hände liegen auf wild pochenden Herzen, ein Glatzkopf und sein bärtiger Kumpel haben Tränen in den Augen. Carmelo, der Wirt der Formula-Uno-Bar, steht mit Italien-Hut und Italien-Fahnenumhang auf einer Bierbank, raucht und schwitzt. Neben ihm schwingt sein Kumpel Gennaro den Taktstock. „Es ist nur ein Spiel, egal, wer gewinnt, wir feiern zusammen“, hat Carmelo zuvor in die Menge gerufen, „wenn es aggressive Idioten gibt oder Typen, die etwas Nazistisches sagen, begleiten wir sie sofort raus.“ Den Reportern hatte er zwinkernd gesagt: „Das Spiel ist natürlich so wichtig wie meine Hochzeit vor 28 Jahren.“ Klar, es ist etwas Besonderes in Raum und Zeit, das ewige Finale schon im EM-Viertelfinale, Deutschland-Italien.

Barbesitzer Carmelo

21.05 Uhr Hoffnungen gen Himmel schicken

Gennaro, der Hymnen-Dirigent, hat sich sicherheitshalber das gleiche Tifosi-T-Shirt angezogen wie 2006 beim WM-Halbfinale, neben ihm sitzt sein Freund Antonio und schickt ein erstes von sehr, sehr vielen Stoßgebeten gen, ja: azurblauem Himmel. Antonio ist mit seiner Frau Feliciana und Baby Pellegrino am Freitag aus Rom eingeflogen, weil er eine Wette gegen Gennaro verloren hat: Antonio hatte im Achtelfinale auf die Spanier gesetzt. Pellegrino hat den Anpfiff verschlafen, ist jetzt aufgewacht und wird gestillt. Antonio sagt, zum Himmel guckend: „Wir hoffen, hoffen, hoffen.“

Alex, Effe und Matthias

21.17 Uhr Trägt Jogi ein Toupet?

Das Spiel plätschert vor sich hin, Petra K. fragt neben drei Deutschlandtriktotträgern stehend: „Stimmt das eigentlich, dass Jogi ein Toupet trägt? Mein Vater ist überzeugt davon!“ Die Deutschlandtrikotträger sind Stefan (Effe), Alex und Matthias aus Holweide, Nippes und Ehrenfeld, sie sind „wegen der Stimmung hier, wäre schon lustig, hier zu erleben, wie wir den Italien-Fluch besiegen“, sagt Effe. Er ist da „sehr, sehr zuversichtlich“.

Anwohner Enver

21.42 Uhr Der Respekt ist da

Auf der Straße spielen zwei Kinder Fußball. Baby Pellegrino schreit. Eine Frau mit geschorenem Schädel und Mönchskutte geht an der Leinwand vorbei, die sie keines Blickes würdigt. Ein Mann in Italien-Trikot skandiert aus dem Fenster im dritten Stock der Hausnummer 8: „Carmelo, Carmelo!“ Carmelo raucht und schwitzt. Müller verstolpert. Der italienische Kommentator kennt nur von den Deutschen nur Schweinsteigers Namen. Trainer Conte hüpft wie Rumpelstilzchen. Die Leute lachen. „Es ist ein Abnutzungskampf“, sagt Effe, in perfektem Oli-Kahn-Sprech. Torge, Deutschland-Fan, und Carlo, für Italien, stehen auf einem Vorsprung an der Häuserwand und stoßen an. Es wird sehr viel Peroni getrunken. Deutsche und Italiener haben sich lieb, sieht ja alles nach Unentschieden aus, aber auch so: Der Respekt ist bei den Spielern wie bei den Fans groß.

Gennaro, Mariaangela, Feliciana aus Rom und ihre Kinder

22.21 Uhr Özil zum 1:0

Alex, grünes Deutschlandtrikot, springt auf und brüllt kurz auf vor Freude, seine Frau Josy bleibt sitzen. Josys Mutter Elke strahlt, ihr Vater Lillo vergräbt das Gesicht in seinen Pranken. Özil hat das 1:0 geschossen, für die deutschen Teile der deutsch-italienischen Familien gilt es jetzt, sich auf emotionalen Zehenspitzen zu freuen. Carmelo raucht und schwitzt. Effe, Alex und Matthias liegen sich mit Petra K. in den Armen. Antonio betet. Pellegrino schläft wieder. Mariangela, die Frau des Dirigenten Gennaro, kaut Fingernägel. Sie tut das jetzt fortwährend bis zum letzten Elfmeterschuss. Ralph und sein Sohn Severin, deutsche Stammgäste in der Formula-Uno-Bar, freuen sich sehr leise. Ralph lächelt Richtung Carmelo, er geht hier jede Woche Kaffee trinken.

Alex, Elke, Lillo und Josy

22.35 Uhr Bonucci elfmetert den Ausgleich

Der Zugweg zittert, Trommelfelle bersten. Alle Italiener hüpfen jetzt wie ihr Trainer Conte. Gennaro springt auf die Bierbank und dirigiert den Jubel. Bonucci hat das 1:1 elfmetert. „Abwarten, ich habe immer noch ein gutes Gefühl. Wir können das nicht verlieren“, sagt Effe. Pellegrino ist jetzt hellwach. Matthias geht aufs Klo, als er zurückkehrt, schüttelt er den Kopf: „Ich habe am Pissoir einen Holländer getroffen. Der hat gesagt: Mir ist alles egal, Hauptsache, Deutschland verliert. Wahnsinn.“

23.35 Uhr Elfmeterschießen

Alex muss wie Millionen Fans eigentlich pinkeln. Eigentlich. Zaza in den Himmel, Buffon hält gegen Müller, Barzagli drischt in die Mitte, Özil schlenzt an den Pfosten, Pellè haut Meter vorbei, Draxler unhaltbar, Neuer gigantisch gegen Bonucci, Schweinsteiger au weia, Giaccherini langweilig in die Mitte, Hummels muss treffen, leises Jaaa. Drei Millionen Elfmeter, kein Sieger. Es hat etwas Irres, die Anspannung, die Erregung, die Freude, die Angst, die Konzentration, das Versagen, das Gelingen, wie eine Essenz, die das Leben nur in wenigen Momenten hergibt. Elke und Lillo halten sich an den Händen. Antonio betet. Der Zugweg tobt und schweigt, weint und lacht und hofft im Zweivierteltakt. Und dann kommt Jonas Hector. Buffon rutscht der Ball durch die Achseln. Effe, Alex und Matthias brüllen in die Stille des Zugwegs, Elke und ihr Schwiegersohn Alex freuen sich lieber auf Zehenspitzen. Statt zu beben bis zum Morgen, leert sich der Zugweg jetzt im Zeitraffer. Carmelo räumt die Flaschen weg, ernüchtert, aber großartig fair, ohne Zigarette, man glaubt ihm nur die ersten zwei Worte nicht so ganz: „Kein Problemo. Beide Teams waren wunderbar.“Die Serie Momentaufnahme wurde mit dem DuMont-Journalistenpreis und dem European Newspaper Award ausgezeichnet.