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Kölner Geistlicher„Hätte ich das gewusst, wäre ich nicht Pfarrer geworden“

Lesezeit 14 Minuten
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Meurer in seinem Arbeitszimmer

  1. Das Erzbistum hat Meurer den Bereich Vertrauensaufbau anvertraut.
  2. Er sagt, dass er nicht Priester geworden wäre, hätte er um den sexuellen Missbrauch in der Kirche gewusst.
  3. Vertrauen, das er jedem schenkt, begreift er als „Risikokapital“.
  4. Über seine Kirche ist der 71-Jährige längst hinaus.

Köln – Franz Meurer sagt von sich, er sei „zwanghaft und hysterisch“. Die Selbstbeschreibung ist so gut wie das Bild vom „unorthodoxen Ghetto-Pfarrer“, das oft von ihm gezeichnet wird. Stimmt eher grob, klingt aber ziemlich interessant.

Zwanghaft und hysterisch nennt sich der 71-Jährige an einem Freitag nach dem frühmorgendlichen Aquajogging mit zwölf älteren Damen im Höhenbergbad auf die Frage, welche Eigenschaften er sich zuschreiben würde.

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Aquajogging im Höhenbergbad

„Noch nie im Leben unpünktlich gewesen, fleißig und möglichst für alle da“, das sei seine zwanghafte Seite, die zum Glück ergänzt werde durch die hysterische: „Ich bin extrem schnell begeistert, gehe von 0 auf 100 und will das dann unbedingt machen.“ Seine zwanghaften Züge geböten den hysterischen Einhalt, wenn er mal wieder zu viele Projekte auf einmal anpacken wolle; die hysterischen sorgten dafür, „dass ich nicht den ganzen Tag nur schreibe und lese, weil ich über alles Bescheid wissen will“.

Abends gießt er die Blumen vor der Kirche selbst

Im Pfarrbüro St. Elisabeth in Köln-Höhenberg sind Käseschnittchen, Apfelschnitzel und Filterkaffee vorbereitet. In einer Klarsichtfolie liegen Artikel, die wichtigen Stellen sind farbig markiert. Weil der zuständige Mitarbeiter im Urlaub ist, gießt Meurer die Blumen in den Beeten vor der Kirche am späten Abend selbst. Als eine Bekannte, die nicht im Viertel wohnt, ihn um die Krankensalbung für ihren Mann fragt, sagt er zu, obwohl er nicht zuständig ist. „Ist doch klar, wenn ich Zeit habe. Ist doch dann wunderbar!“

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Skater-T-Shirt unterm Messgewand

Auf die Salbung bereitet er sich genauso gut vor wie auf Predigten, Pfarrgemeinderatssitzungen oder seine Radiokolumnen bei WDR 4. Als er erfährt, dass im „Kölner Stadt-Anzeiger“ ein Dossier über ihn und seine Arbeit geplant ist, reibt er mit Daumen und Zeigefinger am linken Ohrläppchen. Das macht er oft, wenn er nachdenkt. „Wär’ schön, wenn die Bilder nicht überlappend über beide Seiten gehen. Ist dann einfacher zum Kopieren für die Leute.“

Meurer sammelt Artikel für 30 Menschen

Für 30 Freunde und Bekannte sammelt er Zeitungstexte in einem Regal in der Pfarrküche, in der er noch nie gekocht hat, „weil mir zum Glück immer jemand was bringt“. In der Küche stapeln sich Plastiktüten und wiederverwertbare Joghurtbecher. In einem Karton liegen leere Klo- und Küchenrollen. „Das meiste lässt sich irgendwann noch wunderbar für etwas gebrauchen.“

Das gilt auch für Zeitschriften, Predigtmanuskripte, Reden, Essays und Bonmots, die sich so wild in Ordnern, Kladden und Pappkartons in seinem nach kaltem Zigarrenrauch riechenden Arbeitszimmer stapeln, als stünde ein Umzug bevor. Die ordentliche Beschriftung kontrastiert das Chaos. „Im Gegensatz zu einem Messi finde ich alles, was ich brauche“, sagt er.

Überschriftreife Slogans

Das Tohuwabohu in Meurers Büro mit der alten Schreibmaschine und den vergilbten Tapeten entspricht der Vielstimmigkeit seiner Gedanken, die – oft garniert mit überschrift-reifen Slogans – aus ihm heraussprudeln. „Wer es macht, hat Macht.“ – „Die Wahrheit ist symphonisch.“ – „Nix is esu schläch, dat et nit für jet jot es.“ Viele Sinnsprüche passen zu jedem Anlass. Meurer hat einen gewaltigen Fundus abrufbereit.

In der Psychologie wird Zwanghaftigkeit mit gestörten Persönlichkeiten verbunden. Zwanghafte Menschen sind oft ängstlich, perfektionistisch, pedantisch, unflexibel. Unzufrieden mit den eigenen Leistungen, beschäftigen sie sich viel mit Regeln und unwichtigen Details und verlieren leicht den Fokus aufs Wesentliche. Ihr Handeln ist von Zweifeln und Vorsicht geprägt.

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Peter Meurer (l.) mit seinem Bruder Franz

„Zwanghaft und hysterisch – das trifft es beim Franz eigentlich ganz gut! Aber im besten Sinne!“, sagt Peter Meurer. Er würde seinen Bruder „als sehr intelligent, altruistisch und begeisterungsfähig“ beschreiben. „Und von seiner Herangehensweise ist er urkommunistisch und basisdemokratisch. Er diskutiert alles aus und will nicht der Boss sein, weiß aber oft am besten Bescheid.“

Peter Meurer ist Schreinermeister und fünf Jahre jünger als Franz. In seiner Kindheit habe er wie Franz’ Zwillingsschwester, die vor 30 Jahren starb, und die zweite Schwester Barbara oft im Schatten gestanden. „Der Franz ist immer vorangegangen. Er war Schülersprecher, hat nur Bestnoten geschrieben und hat sich früh in Projekten gegen Armut und Hunger engagiert.“

Überrascht habe ihn, dass sein Bruder zeitlebens die Nähe zur Kirche bewahrt habe: „Wir wurden ja religiös und verklemmt erzogen. Ich habe das nicht so positiv in Erinnerung.“

Früher hatte er eine Freundin

Peter Meurer, der mit Rainer Woelki am Mülheimer Hölderlin-Gymnasium in eine Klasse ging, bis Woelki eine Klasse wiederholen musste, blieb der Kirche lieber fern. „Ich habe mich eher für Mädchen und Mopeds interessiert.“

Franz Meurer reibt am linken Ohrläppchen. Natürlich seien Mädchen auch für ihn ein Thema gewesen, sagt er beim Kaffee im Pfarrhaus. Bevor er das Jura-Studium abbrach, katholische Theologie studierte und Priester wurde, hatte er eine Freundin. Die Freundschaft pflege er bis heute. „Wir schreiben uns noch regelmäßig Briefe.“

„Das ist ja gar keine Frage“

Die Entscheidung für das zölibatäre Leben sei die folgenreichste seines Lebens gewesen. „Das ist ja gar keine Frage.“ Auch so ein typischer Meurer-Satz.

Er sei da „so hineingestolpert“, fügt er hinzu: „Aber als ich mich entschieden hatte, war die Sache klar: Das machst du zu 100 Prozent, sonst gehst du kaputt.“

Bei einem Polizisten aus der Nachbarschaft habe er erlebt, wie der an einem Doppelleben zugrunde ging. „Mich würde das auch kaputt machen. Ruckzuck.“ Vielleicht spreche auch seine Persönlichkeit gegen ein Familienleben. „Ich bin immer irgendwo und unterscheide nicht zwischen Arbeit und Freizeit. Zu einem Leben mit Frau und Kindern passt das nicht so gut.“

Er denkt möglichst immer für alle mit

Wenn er mit dem Rad durchs Viertel rast, trägt Meurer dünne Stoffhandschuhe. „Tut dann nicht so weh, wenn man hinfällt“, sagt er. Den Helm vergisst er manchmal zuzumachen. Als er an einem Freitag Ende Juni um 6.30 Uhr mit Warnweste und neongelbem Überzug über dem Radhelm zum Höhenbergbad kommt, warten die Frauen vom Aquajogging schon vor dem Eingang.

Die Kassiererin begrüßt den Pfarrer mit der Bemerkung, dass die Hundekotbeutel im Park ausgegangen seien. „Danke für die Info, werden heute noch aufgefüllt“, sagt Meurer, der 30 Halterungen mit Hundekottüten in im Viertel aufstellen ließ, Jahre bevor die Stadt Jahre nachzog. Gefragt hatte er nicht: „Wir haben das einfach gemacht.“

Schlecht als Schüler nur in Sport und Musik

Beim Aquajogging mit Armen und Beinen strampelnd, sieht Meurer angestrengter aus als bei der Fronleichnamsprozession. Früher habe er nie Sport gemacht, sagt er. In der Schule seien ihm Sport und Musik ein Graus gewesen. „Aber wenn man älter wird, muss man sich bewegen, sonst schafft man das alles nicht mehr.“In der Sakristei von St. Elisabeth stehen Einräder, die sein Bruder im Internet ersteigert hat.

Eine sportlich aussehende Frau parkt vor dem Pfarrhaus und begrüßt Meurer herzlich. Die Einrad-Trainerin ist Physiotherapeutin. Die beiden zwei kennen sich gut. „Überheben Sie sich nicht“, sagt sie, als Meurer drei Einräder herausschleppt. „Ne ne, keine Sorge.“ –„Sonst müssen Sie danach in meine Praxis kommen.“ Meurer lächelt und holt die nächsten Räder.

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Gespräch in der Pfarrküche

Später im Pfarrhaus sagt er: „Diese Szene eben: Nur Flachs, klar, trotzdem gibt es bei solchen Gesprächen Metaebenen, die können auch erotisch sein. Wenn ich mich darauf einlasse und mitmache, wo würde das hinführen? Also mache ich es nicht. So einfach ist das.“

„Läuft wie die Eieruhr“

„So einfach ist das“ – noch so einer von Meurers Lieblingssätzen. „Läuft wie die Eieruhr“, sagt er in einem Telefonat Anfang August, als er gerade mit seiner Pro-Hövi-Stiftung zwei neue Häuser in Vingst gekauft hat, in denen Studierende gratis wohnen und im Gegenzug ein paar Stunden pro Woche soziale Arbeit leisten sollen.

„Die Rentner sind in unseren Gemeinden die Leistungsträger. Aber wir brauchen die jungen Leute genauso, sonst vergreisen wir hier“, sagt Meurer. Also kauft er Wohnungen für die jungen Leute. Dank wohlhabender Spender. „Meine Gemeinde ist ein Beispiel dafür, dass es Kirchensteuer nicht braucht! Ist so!“

„Mein Bruder zieht Menschen an wie ein Magnet“, sagt Peter Meurer. „Er könnte die Reichen auch für ihren Egoismus kritisieren. Mir persönlich läge das näher . Aber er tut das nicht, er integriert sie lieber und gewinnt sie als Spender.“

Vor ein paar Jahren erhielt Meurer einen Fundraising-Preis. Er hält auch Spenden-Vorträge für Unternehmen. „Für einige der Reichen ist das Spenden ein Ablasshandel“, sagt sein Bruder, „bei anderen kommt es von Herzen.“ Franz Meurer sagt: „Ist doch wunderbar, wenn alle ein bisschen glücklicher sind, oder?“

Genie und Wahnsinn

Wenn Franz Meurer von etwas überzeugt sei, müsse man „schon gute Argumente haben, um ihn davon abzuhalten“, sagt ein Mitarbeiter aus der Gemeinde St. Theodor. Ein anderer sagt: „Genie und Wahnsinn liegen bei unserem Pfarrer dicht beieinander.“ Er gebe „jedem viel Freiheit, fordert aber – ohne das zu sagen – auch ziemlich viel“.Seine Gemeinden in Höhenberg und Vingst, erklärt Meurer, funktionierten nach dem (katholischen) Prinzip des „et – et“, sowohl – als auch.

Einige der Prinzipien, die er gern zitiert: Vielfalt ist die Voraussetzung von Gemeinschaft. Jeder Beitrag zählt. Jeder Mensch erfährt die gleiche Achtung. Die Armen erhalten besondere Aufmerksamkeit und Unterstützung. Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind großzuziehen.

Manchmal lieber dagegen

Um besser gehört zu werden, mischt Meurer manchmal dissonante Töne in die Harmonie des „et – et“. Dann lässt er einen Spritzen- und Kondomautomaten an der Kirche aufstellen oder montiert Plakate einer rechtsextremen Partei ab. Verteilt Antibaby-Pillen an junge Frauen. Schreibt in einem Buch, dass es für Obdachlose sinnvoll sei, gut lügen zu können, da es beim Betteln um „Mitleid mit Unterhaltungswert“ gehe.

Lässt seine Gemeindereferentin während der Heiligen Messe predigen und verstößt damit vorsätzlich gegen das Kirchenrecht. Setzt sich für die Segnung homosexueller Paare in seiner Kirche ein. Einen größeren Eklat gab es, als er vor Jahren den Klingelbeutel für den Bau der Ehrenfelder Moschee rumgehen ließ.

Gute Geschichten brauchen Fallhöhe

Meurer weiß, dass gute Geschichten Fallhöhe brauchen. Sonst interessiert sich keiner dafür.

Seine Jeans, die heute ein paar Kaffeeflecken hat, ist aus der Kleiderkammer von St. Theodor. „Warum sollte ich für Klamotten Geld ausgeben?“ Am Gürtel trägt er ein Allzweckmesser. „Kann man ständig gebrauchen.“ Als er Martin Süsterhenn besucht, den Leiter der benachbarten Gesamtschule, mit der seine Gemeinde eng zusammenarbeitet, schiebt er ihm einen Umschlag über den Tisch und sagt: „Hier, wie besprochen, die fünf Mille.“ Das Geld ist für das neue Café für ukrainische Mütter bestimmt. Es stammt aus Spenden, über die er frei verfügen darf.

Die Weihnachtsbeleuchtung im Viertel – „ganz wichtig für ein bisschen Glanz“: mit Spenden finanziert. Wenn viele Menschen im Viertel möchten, dass eine Grundschulaula so saniert wird, dass dort auch die Karnevalsgesellschaften feiern können, treibt er 200 000 Euro Spenden auf. Die Stadt Köln sei „unregierbar“, sagt er. Ohne Beteiligung von unten funktioniert der Laden einfach nicht“.

Kein Handy, 1000 Briefe an Spender

Jeder Spenderin und jedem Spender – pro Jahr sind es mehr als 1000 – schreibt er zum Dank persönlich. Mit der Hand. „Muss man doch machen“, findet er. Ein Handy, das er mal hatte, sei „zum Glück geklaut worden“. Erreichbar ist er auch ohne. „Es geht immer um Resonanz. Egal wie.“

Wahrscheinlich liegt es an dieser Resonanz, dass fast täglich neue Spender und Helferinnen kommen. 400 Schulrucksäcke verschenkt die Gemeinde St. Theodor diesen Sommer. Jeden Tag versorgt die Kleiderkammer 15 bis 30 Familien mit Rundum-Paketen. Die Liste lässt sich verlängern: Für Hunderte Bedürftige Weihnachtsgeschenke. Tagesausflüge mit Kindern und alleinerziehenden Frauen. Hövi-Land, das größte Feriencamp der Stadt. Sprach- und Nachhilfeunterricht. Geld, wenn irgendwo der Strom abgestellt wird. Zuschüsse für Klassenfahrten. Auch mal für den nächsten Einkauf.

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Im Gespräch in der Gemeinde

Jeder, der kommt, kriegt erstmal „etwas Leckeres zwischen die Kiemen“. Wer kein Fahrrad hat, kriegt ein Fahrrad, wer kein Deutsch kann, einen Deutschkurs. „Ist doch klar!“ Im Gegenzug tut jeder, klar, was er kann. Kisten schleppen, Essen ausgeben, Räder reparieren, übersetzen, Anträge ausfüllen, alte Menschen besuchen.

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Das ist das Prinzip Meurer, hinter dem eine sozialistische Vorstellung von Gleichheit steht, die als politisches System nie funktioniert hat. Franz Meurer ist CDU-Mitglied, aber Parteipolitik interessiert ihn nicht. Anders als in seiner Kirche blüht in seinen Gemeinden die Utopie von sozialer Gleichheit, Würde und Freiheit auf.

Wenn die Gesamtschüler an seiner Kirche ein englischsprachiges Musical aufführen, bekommen sie danach Pizza und Cola. Wer was macht, wird belohnt. Jede Gruppe von Ehrenamtlerinnen – von den Putz-Engeln über die Helferinnen der Kleiderkammer bis zum Leiter der Radwerkstatt und den vielen Mitarbeitern des Feriencamps Hövi-Land – sei „ihr eigenes Profit-Center“, sagt Meurer. „Die bestimmen selbst, was sie machen.“ 587 Menschen aus Meurers Gemeinden haben einen Schlüssel für die beiden Kirchen.

„Nehmt ihr den Müll später mit?“

Als Meurer zwei Jugendliche vor St. Theodor in einer Ecke rauchend und trinkend antrifft, sagt er: „Nehmt ihr den Müll später mit? Gestern haben ein paar von euch das nicht gemacht, obwohl sie es versprochen hatten. Ich vertraue euch.“ Ein paar Abende zuvor hat jemand eine Fritteuse auf das Eichenportal von St. Theodor geworfen. Vielleicht ein Betrunkener. Meurer hat Stunden gebraucht, um die Tür zu säubern. Der Fettfleck zeichnet sich noch ab. Ärgerlich, findet er das, aber nicht schlimm. Natürlich setze er weiter auf Vertrauen. „Vertrauen ist Risikokapital“, sagt er. „ Wer nichts riskiert, macht keinen Profit.“

Er redet schneller als er denken kann

Im Pfarrbüro noch ein paar Selbstbeschreibungen. „Auf Vorschriften von Dritten reagiere ich manchmal allergisch. Wenn ich nur gesagt bekomme, was ich zu tun habe, mache ich lieber das Gegenteil.“ Manchmal redet Meurer schneller, als er denken kann.

In Zeiten von Inflation und Armutsprogression ist das wohl nötig in einem Viertel, in dem jeder Vierte überschuldet ist. Wenn der Pfarrer mit dem Rad durchs Veedel fährt, sieht er an jeder Ecke die Männer, die tagsüber ihren Frust wegtrinken; die Jugendlichen, die kiffen, weil sie ihren Glauben an eine Zukunft verloren haben.

Mit vielen von ihnen spricht er. Einige kommen dann mal vorbei. Meurer stellte einen Mann als Praktikanten ein, der vorher in der Forensik untergebracht war. Die meisten Helfer der Tafel-Ausgabe sind Hartz-IV-Empfänger. Vor einigen Monaten traf er Willy, der im Viertel Müll sammelte, einfach so. Inzwischen pflanzt er aber auch Blumen für die Pfarrei. Meurer sagt: „Ich ziehe wohl auch Freaks an.“ Vielleicht auch, weil er selbst einer ist.

Über seine Kirche ist er längst hinaus. Bevor Kardinal Woelki ihn 2018 beim Reformprojekt des Erzbistums unter dem Titel „Pastoraler Zukunftsweg“ zum Leiter des Arbeitsfelds „Geistlicher Klimawandel und Vertrauensaufbau“ machte, habe er sich „eigentlich nie mit Kirche als Institution beschäftigt“, sagte Meurer im Juni bei der Vorstellung seines Buchs „Klimawandel“ in der Karl-Rahner-Akademie.

Bei ihm kommt das so lässig wie der Satz, dass die „katholische Kirche an der falschen Stelle spart: bei den Armen“. Gezeigt habe sich das an der Schließung der Familienbildungsstelle in Kalk – statt in der Südstadt oder in Deutz.

Beziehung zu Woelki ist ambivalent

Dass der spätestens seit seinem Agieren im Missbrauchsskandal mehr als unbeliebte Woelki gerade seinem alten Weggefährten Meurer das für das Erzbistum und den Erzbischof überlebenswichtige Feld der Vertrauensarbeit anvertraut hat, hat einen Grund: Kein Pfarrer ist in Köln bekannter, kaum einer beliebter oder glaubwürdiger. Ergo ist auch keiner besser geeignet für den Versuch, den freien Fall der Kirche zumindest ein wenig zu verlangsamen.

In Meurers Gemeinden war die Zahl der Kirchenaustritte lange Zeit stabil, während sie im Erzbistum stieg und stieg. Das hat sich im vorigen Jahr geändert. „Da hatten wir 90 Austritte statt 30.“ Natürlich spielten der Missbrauchsskandal und der Umgang damit eine große Rolle. „Vertrauen“, sagt Meurer, „muss man sich erarbeiten.“

Woelki und Meurer, die sich seit Kindheitstagen kennen, wirken wie Antipoden: hier der konservative Dogmatiker, ganz oben in einer Institution mit einsamen, steilen Hierarchien, der im Missbrauchsskandal fast drei Millionen Euro für Rechtsgutachten, PR-Berater und Medienprofis zahlte, die ihm rieten, „Emotionen, Glaubhaftigkeit und Echtheit“ zu zeigen; da der empathische Pragmatiker, der von Hierarchien nichts wissen will.

„Wäre wohl nicht Pfarrer geworden“

Woelki hat längst Schwierigkeiten, kompetente Führungskräfte für die Arbeit im Bistum zu gewinnen. Meurer laufen die Leute hinterher. Und während Woelki nach einer Fülle von Konflikten im Erzbistum von PR-Experten verzweifelt zu einem glaubwürdigen Moralisten aufgebaut werden sollte, ist Meurer genau das immer gewesen. Mit Bezug auf den Missbrauch Hunderter Minderjähriger durch Geistliche des Erzbistums sagt er: „Wenn ich das alles gewusst hätte, wäre ich wohl nicht Pfarrer geworden.“

Trotz aller Gegensätze sind der Kardinal und sein Pfarrer Vertraute. Rainer Woelki war Ministrant beim jungen Pfarrer Franz Meurer. Sie duzen sich. In der Sakristei von St. Elisabeth hängt ein Porträt des Kardinals. Wenn Meurer danach gefragt wird, ob Woelki nicht endlich zurücktreten müsse, weicht er aus. Sagt, dass die Kirche „systemisch krank“ sei und dass ein Kardinal viel zu viele Aufgaben habe, denen niemand ganz gerecht werden könne. Er sagt damit auch, dass Woelki seinen Aufgaben nicht gerecht wird. Aber nicht direkt.

„Das ist doch wunderbar!“

Um ein harter Woelki-Kritiker zu sein, kennt Meurer ihn zu gut. Er sieht nicht nur den Machtmenschen, der sich trotz Rücktrittsangebots an den Papst anscheinend krampfhaft an sein Amt klammert. Er weiß auch um den Woelki aus Jugendtagen, kennt Woelkis Eltern, kennt Kapitel aus seiner Geschichte, die nicht öffentlich verhandelt werden.Eines war Franz Meurer nie: ein Hardliner. „Ich bin immer lieber fördernd als dagegen.“ Wenn Hörer ihm nach einer Radio-Kolumne zum Thema Homosexualität kritische Mails schreiben, ruft er jeden Einzelnen an und hört zu. Ungefähr die Hälfte der Kritiker werde nach dem Gespräch zu Spendern, sagt er. „Das ist doch wunderbar!“