Kölner Reisebüro„Wir können nur überleben, wenn die Menschen wieder fliegen”
- In der Serie „50 Meter Köln” erkunden wir ein Areal wie unter einem Brennglas. Nachbarn, die dem ersten Anschein nach Welten trennen, sprechen über ihren Alltag, die Stadt und ihr Miteinander.
- In dieser Folge: In der Krefelder Straße träumt eine Frau in einer Spielhalle von einem anderen Leben. Dort suchen Buddhisten Ruhe, befürchtet ein kurdisches Reisebüro wegen des IS die Pleite, während Kreative relaxt ihr Ding machen.
- Aus unserer Reihe „Best Of”. Lesen Sie hier weitere Folgen.
Innenstadt – Was an einem frühen Abend auf ungefähr 50 Metern in der Krefelder Straße passiert: Ein Mittfünfziger wechselt in der Spielhalle bei einer gelernten Grundschullehrerin seinen letzten Zwanziger und geht eine Zigarette rauchen. Die Köche des Sternerestaurants Le Moissonnier bereiten karamellisiertes Kalbsbries in Geranien-Basilikum-Essenz und Seesternmousse zu.
Im buddhistischen Zentrum meditieren ein Lehrer, eine Sekretärin und andere Sinnsuchende vor den Bildern ihrer geistigen Führer. Ein Modedesigner schneidert aus über 70 Quadratmetern Stoff ein Brautkleid, das so viel kostet wie ein Kleinwagen. Der einzige Angestellte des Reisebüros Aram Air, spezialisiert auf Flüge in den Irak und nach Kurdistan, zerbricht sich den Kopf darüber, was er machen könnte, wenn sein Geschäft im Sommer pleitegeht.
Best-Of-Artikel
Dieser Artikel ist im Juni 2017 im „Kölner Stadt-Anzeiger” erschienen. Im Rahmen unserer „Best Of”-Reihe veröffentlichen wir regelmäßig interessante Texte aus unserem Archiv.
Eine Fußpflegerin raspelt einer alten Frau die Hornhaut von der Ferse. Die Programmierer und Designer des Büros „Non-breaking space“ schauen sich 500 Fotoshop-Bilder des Techno-DJs Andreas Gehm an, von denen sie die besten 303 ausstellen. Einer der Kreativen programmiert unterdessen das Internetportal für eine Kunsthochschule in Hongkong.
In der Luft flirren Fetzen von Englisch, Deutsch, Französisch, Arabisch, Polnisch, Bulgarisch, Kurdisch, Türkisch. Es riecht nach Döner, Abgas, Gummiabrieb, nassem Asphalt. Die Krefelder Straße, Tangente zwischen Innerer Kanalstraße und Hansaring, ist also nichts Besonderes. Die Eindrücke sind nur ein winziger wie beliebiger Teil dessen, was an irgendeinem Tag hier geschieht.
In der Spielhalle
Joanna steht im Halbdunkel des Spielhallentresens und wechselt Geld. Der Mann vor ihr sagt: „Es ist mein letzter Zwanziger für den Monat, ich hoffe, du gibst mir das richtige Wechselgeld für den Jackpot.“ Sie versucht ein Lächeln. Die Automaten tuten, blinken, klimpern, aus den Boxen plärren vorgestrige Hits, von den Maschinen kommt mal Räuspern oder Fluchen, sonst Schweigen, Geister-Disko.
Joanna ist 26. Sie hat in Polen Grundschulpädagogik studiert, vor eineinhalb Jahren kam sie nach Köln, weil sie „etwas verdienen wollte“. Sie spricht gut Deutsch, „aber es reicht nicht, um hier als Lehrerin zu arbeiten“. Sie guckt zu den Maschinen und sagt: „Ich würde da natürlich nie, nie Geld reinschmeißen.“
Ihre Chefs sagen, „Joanna ist unsere beste Mitarbeiterin, mit Abstand, gehen Sie zu ihr“. Sie wisse nicht, wie lange sie noch hier sein werde, sagt Joanna. Sie habe in Köln viele, viele Kilos zugenommen – das Heimweh! Ach. Man sieht es nur in ihren Augen. Joanna spart, um sich eine Kamera zu kaufen. Am liebsten läuft sie durch die Stadt, um Fotos zu machen. Wenn sie das Leben im grellen Draußen knipst, ahnt sie, dass eigentlich alles möglich ist.
Die Stadt auf 50 Metern
50 Meter Köln heißt unsere Serie, in der die Redaktion die Vielfalt der Stadt ergründet. Nachbarn, die dem ersten Anschein nach Welten trennen, sprechen über ihren Alltag – regelmäßig im Lokalteil. (uk)
Im buddhistischen Zentrum
Dagmar Beging sitzt in einem hellen Raum des buddhistischen Zentrums, nur ein paar Meter und Lichtjahre entfernt von der Spielhalle. Vor 20 Jahren war Dagmar Beging in einer ähnlichen Lage wie Joanna heute: Es ging ihr nicht besonders, sie wusste nicht, wie es weitergehen soll. Sie arbeitete als Sekretärin bei der Agentur für Arbeit, „umgeben von Menschen, die tendenziell ziemlich unzufrieden waren“. Beging empfand sich selbst als dünnhäutig, die Stimmung der Menschen färbte auf sie ab.
„Ich habe dann viele spirituelle Dinge probiert“, sagt sie, „Reiki, Heilsteine, Osho’s, Yoga, fand aber keine langfristige Besserung.“ Bis eine Freundin ihr vom Vortrag des buddhistischen Lamas Ole Nydahl erzählte, sie zuhörte und begann zu meditieren. „Ich habe seitdem gelernt, die Dinge weniger zu bewerten. Neutraler zu sein und mir klar zu werden: Alles ist bedingt, nichts bleibt.“ Sie meditiert jetzt jeden Tag eine Dreiviertelstunde.
Alles relativ
„Es ist erleichternd“, sagt Jörg Finsterbusch, der neben Beging sitzt, „sich bewusst zu sein, wie relativ alles Streben ist. Je weniger ich mich mit mir selbst beschäftige, desto weniger beeinflusst mich, was andere über mich denken.“ Finsterbusch, Lehrer an der Gesamtschule Chorweiler, meditiert seit 16 Jahren. Er betrachte sich nicht als erleuchtet oder frei von Verlangen, „aber ich sehe immer mehr die Potenziale und Möglichkeiten – zum Beispiel die meiner Schüler – als zu sagen: Das ist ein Schulversager, da hilft nichts.“
Das buddhistische Zentrum, in dem Beging und Finsterbusch heute meditieren, essen und einen Vortrag hören, ist ein Treffpunkt, den immer mehr Menschen aufsuchen: Zu jedem Vortrag kommen fünf bis 15 Neue, in den ersten sechs Wochen des Jahres gibt es sieben neue Mitglieder. Jeder zahlt 15 Euro im Monat, oder mehr, wenn er kann – so können die Buddhisten ihr großzügiges Zentrum finanzieren. Für mehr Entspannung und Angstfreiheit zahlen immer mehr Menschen gern, klar: weil immer mehr Menschen angespannt sind und Angst haben.
Im Reisebüro
Das Reisebüro von Rawand Shikha muss vermutlich im Sommer schließen, weil sehr viele Menschen aus Angst nicht mehr reisen. Seit der sogenannte Islamische Staat den Irak und Kurdistan terrorisiert, fliegt kaum noch jemand nach Bagdad, Erbil oder Sulaimaniyya – auf diese Ziele hat sich das Büro spezialisiert. „Wir können nur überleben, wenn der IS bis zum Sommer zurückgedrängt wird und die Menschen wieder fliegen“, sagt Shikha, der Stadtplaner ist und seit 25 Jahren in Köln lebt.
Auch die zweite Geschäftsquelle des Büros haben die Terroristen versiegen lassen: Von hier versenden Privat- und Geschäftsleute Pakete in den Irak und nach Kurdistan, die mit dem Lkw transportiert werden und per Luftpost teurer wären. „Da die Lkw an einigen Grenzen kaum noch durchkommen, ist das Geschäft zum Erliegen gekommen“, sagt Shikha. Wenn sein Büro im Sommer schließen muss, „werde ich ich wohl wieder Taxi fahren“.
Beim Modedesigner
Auf der Straßenseite des buddhistischen Zentrums geht es den Geschäftsleuten gut: Der Modedesigner Pino Cervino schneidert Luxus-Brautkleider und Maßanzüge, als Ein-Mann-Betrieb lebt der gebürtige Florentiner von der Haute Couture. Zu Pino Cervino kommen Menschen mit ein bisschen mehr Geld und eher ausgefallenem Modegeschmack; er schneidert auch für Musicals, Theater und Filme, die Kostüme entstehen an einer über 30 Jahre alten Adler-Nähmaschine. Über Geld redet der 52-Jährige nicht so gern, na gut, doch, einen Anzug gibt es ab 480 Euro, Abendkleider ab 350 Euro, „nach oben ist viel Spielraum“.
Spielraum ist ein hübsches Stichwort, wenn man zu Cervinos Nachbarn geht, den Kreativen des Büros „Non-breaking space“ („Geschütztes Leerzeichen“). Geld ist hier auch eher kein Thema: man hat genug und ist bescheiden. Alex Ketzer, Steffen Görg und Tobias Sawitzki arbeiten seit einem Jahr in der Krefelder Straße als Designer und Programmierer, sie entwickeln Apps und Internetseiten, designen Magazine, und machen nebenher sehr oft, was sie wollen: „Weil die Stundensätze nicht sooo schlecht sind“, wie Görg mit einem milden Lächeln für die Zeitungsreporter sagt.
Ketzer hat ein eigenes Musiklabel und vertreibt Musikkassetten (!), er ist durch Deutschland gereist, um Musiklabels zu besuchen, die noch in Schallplatten machen – um ein Buch („Beyond Plastic“) darüber zu schreiben und im Eigenverlag zu publizieren. Das geht, weil andere Aufträge genug einbringen. „Wir würden ja eigentlich gern mal wieder Akquise machen, aber es gibt immer viel zu viele Anfragen“, sagt Alex Ketzer. Die Armen. Pino Cervino, ihrem Nachbarn, den sie ab und an draußen auf ein Feierabendbier treffen, geht es ähnlich. Die Buddhisten und Kreativen auf dieser Seite der Krefelder Straße ahnen nicht, sie wissen: Fast alles ist möglich.