Serie „Schule in Not“Zu viele Freistunden senken Arbeitsmoral der Schüler
Köln – Die Englisch- und Französischlehrerin ist längerfristig erkrankt, die einzige Vertretungskraft vom Fach schwanger, heißt es in der E-Mail. Auch Mathe und Physik fielen häufig aus, wegen Krankheiten oder der Begleitung von Klassenfahrten und Exkursionen. Jeden Tag übernähmen wechselnde, der Klasse teils fremde Lehrer die Aufsicht. Die Kinder kämen nicht zur Ruhe, die Arbeitsmoral sei gesunken. Was der Elternvertreter einer achten Gymnasialklasse im Rechtsrheinischen in seinem Schreiben schildert, ist kein Einzelfall. „Wir bekommen regelmäßig ähnliche Beschwerden, das Thema Unterrichtsausfall ist ein Dauerbrenner“, sagt Reinhold Goss von der Stadtschulpflegschaft, der Vereinigung der Elternvertretungen aller Kölner Schulen.
Marode Gebäude, Lehrermangel, Genehmigungsprozesse, die sich endlos in die Länge ziehen – es krankt an vielen Stellen im System. Aber kaum ein Thema wird so kontrovers diskutiert wie der Ausfall von Unterricht. Geht man nach der Stichprobenerhebung der früheren Landesregierung, ist alles halb so schlimm. Demnach fiel im vorigen Schuljahr in ganz NRW lediglich 1,8 Prozent (2014/15: 1,7 Prozent) des Unterrichts ersatzlos aus; 7,6 Prozent waren „Gegenstand von Vertretungsmaßnahmen“, wie es etwas verschleiernd heißt. 90,6 Prozent der Stunden wurden dagegen planmäßig oder in Form von Projektwochen, Klassenfahrten und Betriebspraktika erteilt.
Stichprobe enthüllt andere Zahlen
Die Landeselternschaft allerdings geht von ganz anderen Zahlen aus: Bei einer Stichprobe an Gymnasien Ende 2014 ermittelte sie nach eigenen Angaben einen Ausfall von 6,4 Prozent. Auch der Landesrechnungshof rügte in seinem Jahresbericht 2015 massive Unterrichtslücken. Die Kontrollbehörde hatte die Stundenpläne mehrerer Jahre für alle Gymnasien und Realschulen akribisch geprüft. Das Ergebnis: 67 Prozent der Gymnasien und 76 Prozent der Realschulen hatten die in der Sekundarstufe I vorgeschriebene Gesamtstundenzahl nicht erreicht. Und das dürfte nur die Spitze des Eisbergs sein. Denn vor allem an Grundschulen ist die Situation seit einigen Jahren sogar noch etwas schlechter.
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Grund für die widersprüchlichen Zahlen ist die unterschiedliche Definition, was überhaupt unter Unterrichtsausfall zu verstehen ist. „Wenn Eltern von ihren Kindern hören, dass der Mathe-Lehrer krank war, ist das für sie eine ausgefallene Stunde. Schulintern stellt sich das oft aber ganz anders dar“, sagt etwa Anni Schulz-Krause, Sprecherin der Kölner Gymnasien. Für die Rektorin des Schiller-Gymnasiums in Sülz gilt: „Wenn der Fachlehrer seiner Klasse vorher Aufgaben zum eigenständigen Lernen zur Verfügung gestellt hat, die Vertretung die Bearbeitung sicherstellt und dies im Anschluss auch kontrolliert wird, ist das in Ordnung.“
Nicht wichtig, ob Ersatzlehrer vom Fach ist
Für das Schulministerium gilt bislang jeder Unterricht, der nicht ersatzlos gestrichen wurde, als erteilt. Die Schulen waren deshalb in den vergangenen Jahren gehalten, Vertretungskonzepte zu erarbeiten. Ob der einspringende Lehrer vom Fach ist, spielt dabei keine Rolle; eine Mathestunde kann also vom Sportlehrer übernommen werden. Auch die Zusammenlegung von Lerngruppen oder die Beaufsichtigung mehrerer Klassen durch eine Person ist möglich. In der Oberstufe wird zudem vorausgesetzt, dass die Schüler das eigenverantwortliche Lernen selbst organisieren – oft ohne die Anwesenheit eines Lehrers.
Ob unter diesen Voraussetzungen ein qualitativ hochwertiger Unterricht zustande kommt, ist höchst umstritten. „Unser Eindruck ist, dass die Vertretungskonzepte der Schulen oft nicht greifen, wenn ein solches überhaupt existiert“, so Reinhold Goss von der Stadtschulpflegschaft. „Statt zu arbeiten, wird in den Vertretungsstunden ein Quiz gespielt, oder die Kinder dürfen alles machen, außer am Handy zu daddeln.“
Zu wenig Lehrer, zu große Klassen
Dabei will der Elternvertreter nicht in Abrede stellen, dass auch individuelle Lernzeiten, etwa über einen Aufgaben-Fundus und den Einsatz des Internets, zum Erfolg führen und sogar mehr bringen können als Frontalunterricht. Allerdings seien gerade in Köln die Voraussetzungen dafür nicht gegeben: zu wenige Lehrer, zu große Klassen, schlechte Belüftung, fehlender Lärmschutz, miserable Medienausstattung und eine Schulbau-Architektur, die keinen Platz bietet für individualisiertes Lernen.
Eltern- und Lehrerverbände fordern deshalb schon seit langem eine bessere Personalausstattung der Schulen auf bis zu 110 Prozent. Derzeit ist diese bei 100 Prozent des rechnerischen Bedarfs gedeckelt. Eine Grippewelle im November oder die längerfristige Erkrankung von Kollegen werfen da schnell den Stundenplan über den Haufen. Hinzu kommt der sogenannte strukturelle Unterrichtsausfall: „Der Anspruch an die Schulen, neben dem Pflichtunterricht auch Exkursionen, Projekte, Betriebspraktika durchzuführen oder Fächer wie Informatik und Wirtschaft anzubieten, wird immer größer. Gleichzeitig wurde aber der Lehrplan gar nicht entkernt. Das kann nicht funktionieren“, sagt der frühere Personalrat bei der Bezirksregierung Jürgen Borkowski, der bis zu seiner Pensionierung im vergangenen Jahr am Gymnasium Rodenkirchen tätig war. Und auch Schulleiterin Anni Schulz-Krause konstatiert: „Die Personalausstattung ist nicht so aufgestellt, dass ich für jede Situation einen gleichwertigen Fachlehrer als Vertretung stellen kann.“
Personalausstattung soll angehoben werden
Die neue NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer hat nun angekündigt gegenzusteuern. Sie will die Personalausstattung der Schulen auf 105 Prozent anheben. Das allerdings ist leichter gesagt als getan. Denn gerade in den naturwissenschaftlichen Fächern fehlen qualifizierte Lehrer, auch Grundschullehrer sind Mangelware. Von 5.407 in Nordrhein-Westfalen neu ausgeschriebenen Stellen waren zu Anfang des Schuljahres 2139 unbesetzt geblieben. In Köln, das aufgrund seiner Attraktivität grundsätzlich besser dasteht als das Umland, waren immerhin 118 von 10.000 Stellen vakant. Angesichts der steigenden Schülerzahlen in den kommenden Jahren dürfte die Stadt noch ein großes Problem bekommen.