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Nachruf auf Alois „Gigi “BergmeisterWie ein Wohnungsloser ein ganzes Kölner Veedel zusammenschweißte

Lesezeit 6 Minuten
Alois „Gigi“ Bergmeister, aufgenommen im Sommer 2024

Alois „Gigi“ Bergmeister, aufgenommen im Sommer 2024

Mit Alois Bergmeister verliert Braunsfeld eine Institution. Über einen freiheitsliebenden Netzwerker, dessen Kontakte bis zur Oberbürgermeisterin reichten.

Sein letzter Wunsch: Einmal noch soll alles sein wie immer. Am 14. Dezember 2024 ruft der von Harnblasenkrebs gezeichnete Alois Bergmeister, den alle nur „Gigi“ nennen, ein Taxi zum Hospiz St. Hedwig in Rondorf. Er lässt sich zum Obdachlosenverein „Oase“ in Deutz fahren, holt dort das Straßenmagazin „Draussenseiter“ ab, fährt dann zur Wohnung einer Freundin in Kalk, wo er seine Klamotten deponiert hat.

Der Plan: am nächsten Morgen zum allerletzten Mal den „Draussenseiter“ auf dem Braunsfelder Markt in der Kitschburger Straße verkaufen und sich von den vielen Kunden verabschieden, die er jahrzehntelang jeden Samstag getroffen hat.

„Das war eine furchterregende Aktion, er hat sich regelrecht dahingequält“, erinnert sich Gabriele Neuse, langjährige Kundin und Freundin von Gigi. „Er war ja schon extrem geschwächt vom Krebs. Aber helfen lassen wollte er sich natürlich nicht.“

Vor mindestens 30 Jahren zum ersten Mal auf dem Braunsfelder Markt

Ein Foto zeigt Bergmeister am nächsten Tag in seinem Rollstuhl auf dem Marktplatz, umringt von ehemaligen Kunden. Es ist ein sonniger Wintertag, Bergmeister trägt die Mütze tief ins Gesicht gezogen, seine Haut wirkt fahl, als hätte die Krankheit ihr bereits jedes Leben geraubt.

Vor ihm auf dem Boden liegt ein großer Hund, Bergmeister beugt sich über den Rollstuhl und streichelt dem Tier über den Kopf, ein leises Lächeln auf Lippen. Er hat es noch einmal geschafft, ganz auf seine Art. Drei Wochen später, am 9. Januar 2025, stirbt Alois „Gigi“ Bergmeister im Alter von 87 Jahren.

Wann Bergmeister zum ersten Mal auf dem Braunsfelder Markt seinen Stand aufgebaut hat, um den „Draussenseiter“ zu verkaufen, ist unklar. Mindestens 30 Jahre muss es her sein, glaubt man ehemaligen Kunden und Freunden. Auch, wann Bergmeister nach Köln kam, ist nicht ganz klar. Er redete zwar viel und gerne, nur nicht über sich.

Was sich durch Gespräche mit ihm, mit Bekannten und Freunden rekonstruieren lässt: Geboren ist Bergmeister 1937 in Südtirol. Nach einer Lehre zum Koch arbeitete er wohl mehrere Jahre im Hotel „Vier Jahreszeiten“ in Berchtesgaden. Irgendwann, wahrscheinlich in den 1980ern, kam er nach Köln, arbeitete als Koch in einem Restaurant. Das Restaurant ging pleite, die Chefin machte sich nach Italien aus dem Staub, so erzählte es Bergmeister. Erst da sei ihm aufgefallen, dass seine Chefin keine Renten- und Sozialversicherungsbeiträge zahlte. Überprüfen lässt sich das heute nicht mehr. „In dieser Zeit muss Gigi in die Obdachlosigkeit gerutscht sein“, glaubt Gabriele Neuse – und kurz darauf das erste Mal auf dem Braunsfelder Markt aufgetaucht sein.

Alois „Gigi“ Bergmeister bei seinem letzten Besuch des Braunsfelder Marktes

Alois „Gigi“ Bergmeister bei seinem letzten Besuch des Braunsfelder Marktes

„Gig war eine Institution in Braunsfeld. Er war Nachrichtenbörse, Verkäufer und Freund in einem“, erzählt die Braunsfelderin Ilsetraut Popke. Jeden Samstag empfing er die Menschen aus dem Veedel an seinem Stand. Sein gepflegtes Aussehen und seine aufmerksame und charmante Art sorgten dafür, dass sich die Menschen im Veedel gerne für ein Schwätzchen an ihn wandten. „Gigi war ein Meister des Small Talks und ein herausragender Netzwerker. Wer bei ihm kaufte, spendete oder einfach nur ein paar Worte wechselte, bekam etwas zurück – zumindest das Gefühl, zu den lokalen Insidern zu gehören“, beschreibt es eine Braunsfelderin. „Die Beziehungen von Gigi zu Marktbesuchern dienten allen Partnern. Gigi finanzierte sich weitgehend durch die diskret zugesteckten Zuwendungen. Die Spender wiederum erhielten durch Gigi die Gelegenheit, auf einfache Art Gutes zu tun.“

Gleichzeitig legte Bergmeister Wert auf seine Unabhängigkeit: „Gigi bettelte nicht, er verkaufte Zeitungen. Auf diesen Unterschied legte er großen Wert“, sagt Popke. Auch Bürgergeld habe er aus Prinzip nicht bezogen. Seine Fähigkeit, schnell Kontakte zu knüpfen und Menschen für sich zu gewinnen, verschaffte ihm auch seinen Schlafplatz in einer Kleingartenanlage im Rechtsrheinischen. Bekannte überließen Bergmeister die Laube und einen kleinen Garten, wo der passionierte Gärtner Obst und Gemüse anbaute und sich so weitgehend selbst versorgte.

Ersthelfer bei Attentat auf Henriette Reker

Auch Politikerinnen wie Oberbürgermeisterin Henriette Reker gehörten zu seinem Bekanntenkreis. Ein Foto, aufgenommen am 17. Oktober 2015 zeigt die beiden: Reker mit einem Blumenstrauß in der Hand, Bergmeister mit einem Exemplar des „Draussenseiters“. Wenige Minuten später wurde Reker auf dem Marktplatz Opfer eines Attentates. Sie überlebte schwer verletzt, wurde zur Oberbürgermeisterin gewählt, als sie im Krankenhaus um ihr Leben kämpfte. Bergmeister gehörte zu den Ersthelfern. „Ich bin jahrelang auf den Markt gegangen, deswegen kannte ich Herrn Bergmeister natürlich gut. Er war ein unglaublich höflicher Mensch, ein Bestandteil dieses Markes und des Veedels“, sagt Reker heute.

Als langjährige Sozialdezernentin habe sie sich immer wieder mit ihm über die Lage im Stadtteil, aber auch über seine eigene Situation ausgetauscht, erzählt sie. „Mein Eindruck war immer: Herr Bergmeister war einer der wenigen, die sich freiwillig für das Leben auf der Straße entschieden haben. Aber im hohen Alter hat er wohl gemerkt, dass das immer schwieriger wird.“

Alois „Gigi “Bergmeister mit Henriette Reker kurz vor dem Attentat am 17. Oktober 2015

Alois „Gigi“ Bergmeister mit Henriette Reker kurz vor dem Attentat am 17. Oktober 2015

2016 erkrankte Bergmeister zum ersten Mal an Blasenkrebs. Über Kontakte kam er irgendwie an eine Behandlung – obwohl er nicht krankenversichert war. Doch 2024 kehrte der Krebs wieder zurück. Kurz zuvor, als der Tumor noch eine Befürchtung und kein Todesurteil war, traf der „Kölner Stadt-Anzeiger“ ihn zufällig in der Praxis der „Malteser Medizin für Menschen ohne Krankenversicherung“ (MMM), um über die Konsequenzen zu berichten, sollte der Anonyme Krankenschein abgeschafft werden, wie das zunächst im neuen Haushalt geplant war.

Menschen wie Bergmeister drohten ohne Anonymen Krankenschein keine qualifizierten Behandlungen mehr zu erhalten. Ein paar Wochen später, als sich die Befürchtung bestätigt hatte und der Krebs bei Bergmeister wieder ausgebrochen war, kam aber wohl auch die Hilfe des Anonymen Krankenscheins zu spät. Eine Operation schien angesichts des Alters und des Fortschritts der Krankheit das Leid nur zu verlängern. „Ich will nur noch in Ruhe sterben. Und vorher noch einmal auf den Markt, um mich zu verabschieden. Das wäre schön“, sagte Bergmeister dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ damals.

Beide Wünsche konnten ihm noch erfüllt werden. Das lag wohl auch an Bergmeisters Unterstützern aus Braunsfeld. Denn als wohnungsloser Mensch ohne Krankenversicherung einen Platz in einem Hospiz zu bekommen, ist quasi unmöglich. Wohl nur mithilfe seines Unterstützerkreises ist die „Pace e bene-Stifung“ auf Bergmeister aufmerksam geworden. Sie finanziert mit Spenden Hospizplätze für Obdachlose. So konnte Bergmeister seine letzten Wochen im Hospiz St. Hedwig in Rondorf verbringen. Das erste Mal seit vielen Jahren wohnte er in einem beheizten Zimmer mit großen Kleiderschränken, einem Fernseher und dem Blick hinaus zum Garten. „Wenn wir ihn besucht haben, hat Gigi immer gesagt: Ich glaube, ich bin schon im Paradies“, sagt Ilsetraut Popke.

Am 11. Januar, dem ersten Samstag nach dem Tod Bergmeisters, versammeln sich einige alte Freunde von ihm auf dem Markt. Sie haben Fotos von Bergmeister mitgebracht und einen kleinen Nachruf geschrieben. Eigentlich sind sie nur da, um Abschied zu nehmen und das Veedel über den Tod Bergmeisters zu informieren. Doch innerhalb weniger Stunden stecken die Marktbesucher ihnen über 220 Euro zu – ohne, dass sie darum gebeten haben. Das Geld, sagen sie, geht jetzt an die „Pace e Bene-Stiftung“. „Das hätte Gigi so gewollt“, ist sich Ilsetraut Popke sicher.


Zur Serie

In unserer Serie „Nachrufe“ erinnern wir an Kölner, die in jüngerer Vergangenheit verstorben sind. Wenn Sie vom Tod eines interessanten Kölners erfahren, über den wir einen Nachruf schreiben können, melden Sie sich bitte bei uns unter 02 21/2 24-23 23 oder ksta-koeln@kstamedien.de

Bei den Geschichten geht es nicht darum, ob ein Mensch prominent war oder unbekannt, erfolgreich oder verarmt. Es sollen Lebensläufe mit ihren Höhen und Tiefen beschrieben werden. Getreu dem Gedanken: Jeder Mensch hat etwas zu erzählen. Jedes Menschenleben ist einzigartig.