Andreas Müller und Steffen Franke sind Profiler. Sie beraten die Ermittler der Polizeibehörden bei besonders schwierigen Fällen. Häufig geht es um Mord und Sexualdelikte.
Im Interview sprechen Müller und Franke über ihre Arbeit und ungelöste Fälle, die sie bis heute verfolgen.
Teil 2 unserer neuen Serie „Verbrechen: Tätern auf der Spur.“
Andreas Müller und Steffen Franke sind „Polizeiliche Fallanalytiker“ beim LKA Nordrhein-Westfalen, sogenannte LKA-Profiler. Sie beraten die Kripoermittler der Polizeibehörden bei besonders kniffligen Fällen. Häufig geht es um Mord und Sexualdelikte. Auch nach dem Nagelbombenanschlag auf der Kölner Keupstraße 2004 waren die LKA-Profiler im Einsatz. Im ausführlichen Interview erzählen Müller und Frank, wie sie und ihr Team arbeiten, wie Verbrecher ticken – und ob man einem Menschen nicht vielleicht doch hinter die Stirn gucken kann.-> Hier alle Folgen der Serie lesen!Im Fernsehkrimi ist der Profiler oft das arrogante Superhirn mit Anzug und Sonnenbrille, das den Dusseln von der Mordkommission zeigt, wo es lang geht. Diesen Eindruck machen Sie beide auf den ersten Blick jetzt nicht.Andreas Müller: Weil es natürlich nicht so ist. Im Fernsehen ist der Profiler der Omnipotente, der Experte in allen Bereichen, vor dem alle in Ehrfurcht erstarren. Der mit einem kurzen Blick in die Akte sagen kann, dass der gesuchte Täter 30 Jahre alt ist, einen Käfer fährt und seinen Vorgarten schlecht bestellt. Das ist vielleicht unterhaltsam, hat aber mit der Realität nichts zu tun. Wenn ich mir vorstelle, meine Leute würden mit Anzug und Sonnenbrille bei den Mordermittlern aufschlagen, die ihre Arbeit sehr gut machen, dann sehe ich im Geiste schon die Tür, aus der wir gebeten werden.
Wie verstehen Sie denn Ihre Rolle?
Müller: Wir sind die Berater im Hintergrund; die Kollegen, die viel Ermittlungserfahrung mitbringen und fortgebildet sind, in schwierigen Situationen zu helfen. Nicht überheblich, nicht mit Anzug und Sonnenbrille, sondern einfühlsam und mit klarem Verständnis für das bestehende Problem.
Welche Probleme sind das? Wann kommen Sie ins Spiel?
Müller: Es geht nicht immer nur um die besonders blutrünstigen Fälle: den Sexualmord oder den Serienmord. Sondern es gibt auch Tötungsdelikte, die scheinbar einfach sind, aber dann eben doch nicht auf die Schnelle geklärt werden können. Oft rufen die Kollegen einer Mordkommission uns an und bitten um einen neutralen, zweiten Blick.
Nennen Sie mal ein Beispiel.
Müller: Die Leiche wird aufgefunden, ist entkleidet, aber das Geld des Opfers wurde auch entwendet. Hat man es jetzt mit einem Raubmord zu tun oder mit einem Sexualmord? Das Thema einer Tat spielt eine entscheidende Rolle bei der Suche nach dem Täter. Welches Motiv hat ihn zur Tat getrieben? Mit der Klärung dieser Fragen versuchen wir zu helfen, die Ermittlungen in die richtige Richtung zu lenken. Das funktioniert aber nicht, weil man 20-Mal „Schweigen der Lämmer“ geguckt hat und glaubt, man könnte als Clarice Starling aus der Fachhochschule kommen und einen Mörder befragen, der mir dann erklärt, wie ich andere zu befragen habe. Das ist Show. Die Realität ist kriminalistische Arbeit.
Was können Sie und Ihre Kollegen denn, was die Polizei vor Ort nicht kann?
Steffen Franke: Auf den Leiter einer Mordkommission stürzen während einer Ermittlung ständig neue Informationen ein, vor allem Zeugenaussagen, auf die er reagieren muss. Er muss Berichtspflichten nachkommen, die Presse bedienen und seine Teams einteilen. Unser Vorteil ist: Wir haben Zeit. Wir können einen Fall analytisch betrachten. Wir können uns mit der Akte zurückziehen und eine Woche lang einschließen. Uns frei von äußeren Einwirkungen machen und Hypothese für Hypothese durchgehen.
Müller: Als Berater sind wir immer in einer nahen Distanz, aber nie so wirklich mittendrin in den Ermittlungen. Wir bekommen alle neuen Informationen mit, bewerten sie im Kontext und bringen unsere Expertise ein, ob die eingeschlagene Ermittlungsausrichtung beibehalten oder geändert werden sollte.
Wie fangen Sie an?
Müller: Ein erster wichtiger Schritt ist die Informationsbewertung. Nehmen wir als Beispiel einen Kindermord: Wenn ich als Kriminalbeamter zum ersten Mal mit so etwas konfrontiert werde, rufe ich automatisch das ab, was ich mir in meiner Erfahrung so angeeignet habe. Aber das reicht in vielen Fällen nicht. Als LKA-Profiler haben wir phänomenologisch tiefes Wissen über Gewaltdelikte, das wir über 20 Jahre in täglicher Praxis erlangt haben. Wir sind speziell fortgebildet, wir haben gelernt, die richtigen Fragen zu stellen und die Antworten zu verstehen. Wir können aber keineswegs die Expertise von Rechtsmedizinern oder forensischen Psychiatern ersetzen. Im Gegenteil, wir beziehen außerpolizeiliche Experten regelmäßig ein.
Manche Profiler behaupten von sich, sie könnten sich in die Köpfe der Täter hineinversetzen. Geht das?
Müller: Nein, es wird immer Ecken im Gehirn eines Menschen geben, da kommt man nicht rein, da lässt der Mensch einen auch nicht rein. Wir können auch nicht in die Seele eines Mörders sehen oder mit seinen Schuhen gehen. Ebenso Aussagen wie: Der Täter muss Bettnässer sein und hat als Kind Tiere gequält… ich kann solche Plattitüden ehrlich gesagt kaum ertragen. Das ist entsetzliches Profiler-Geschwafel. Es gibt ganz wenige Täter, die Maulwürfen den Kopf abgeschnitten haben, ja. Aber die große Masse eben nicht. Und vor allem hilft uns das auch nicht weiter, weil wir die Täter so nicht aus der Masse herausheben können. Es gibt bei der Polizei nun mal keine Datei über Bettnässer.
Wie gehen Sie denn stattdessen vor bei der Erstellung eines Täterprofils?
Müller: Wir fangen nicht bei der Person des Täters an. Wir erfragen bei der Mordkommission erst einmal: Was ist eure Arbeitshypothese, wovon geht ihr aus? Auf welchen Informationen fußt eure Hypothese? Unser Analyseteam prüft, ob diese erste Lagebeurteilung valide ist, ob man zum Beispiel auf eine Zeugenaussage hin eine schwerwiegende Ermittlungsmaßnahme treffen sollte – oder doch besser nicht, weil nicht sicher ist, dass die Beobachtung auch stimmt. Fahnde ich jetzt nach einem Opel Corsa, weil der Zeuge meint, einen gesehen zu haben? Stellen Sie sich vor, der Zeuge hätte sich geirrt, und es war ein Ford Fiesta. Wenn seine Beobachtung für die weiteren Ermittlungen richtungsweisend sein könnte, bitten wir zum Beispiel einen Aussagepsychologen aus unserem Expertennetzwerk, sich die Zeugenvernehmung noch einmal genau anzusehen.
Wie geht es weiter?
Müller: Im nächsten Schritt versuchen wir, den Tathergang zu analysieren.
Franke: Und zwar aufgrund von objektiven Tatsachen, Beweisen und Spuren. Subjektives, vor allem Zeugenaussagen, führen wir nur dann ein, wenn die Informationen wirklich valide sind. Wenn drei oder vier Zeugen aus unterschiedlichen Blickwinkeln dieselbe Situation beschreiben, spricht vieles dafür, dass diese Information auch eine Tatsache ist. Alles andere blenden wir aus.
Müller: Dann rekonstruieren wir das Tatgeschehen: Wie ist es abgelaufen? Wie hat der Täter das Opfer kontaktiert? Wie hat das Opfer reagiert? Wie hat wiederum der Täter darauf reagiert? Vereinfacht gesagt: Wann hat er welche Fähigkeiten und Kompetenzen gezeigt? Welches Maß an Leid kann er ertragen? Wie geht er mit Störungen um? Damit nähern wir uns der Frage: Mit wem haben wir es hier eigentlich zu tun? Hat er seinem Opfer ins Gesicht geschlagen, weil es ihm einfach nur um Aggression ging? Dann könnte es sein, dass es ein Körperverletzer ist, der noch nie ein Sexualdelikt begangen hat. Dann wäre sein Thema, einfach jemanden zusammenzuschlagen. Ist er in seinem Verhalten konsistent gut? Oder wann und in welcher Sequenz im Tathergang wird er auf einmal schlecht? Warum ist das so? Weil er sich jetzt seinem handlungsleitenden Motiv und damit seinem eigentlichen Problem nähert? Oder weil er mit der Situation nicht umgehen kann? Und dann kommt man so langsam aber sicher zu dem Punkt: Welcher Täter hat denn diese Tat begangen? Wir setzen uns mit den forensischen Psychiatern aus unserem Netzwerk zusammen und fragen: Kennen Sie jemanden aus Ihrer Begutachtungspraxis, der solche Verhaltensweisen zeigt? Wo sehen Sie den Täter eher – im Maßregelvollzug oder im Knast? Oder haben wir es womöglich mit jemandem zu tun, der noch nie auffällig geworden ist?
Franke: Wenn wir dann hundert zu überprüfende Personen hätten, könnte man jetzt hingehen und priorisieren: Wer von den Hundert erfüllt die meisten dieser Eigenschaften? Wenn wir zum Beispiel davon überzeugt sind, dass der Täter ortskundig sein muss, würden wir mit den 20 Personen anfangen, die im Umkreis des Tatorts wohnen.
Wie genau kann ein solches Profil eines Menschen am Ende sein?
Müller: Man kann einen Menschen nie zu hundert Prozent richtig beschreiben. Sie müssen sich ein Täterprofil wie eine dicke Eiche vorstellen. Die Kernaussage, der dicke Stamm, muss stimmen und darf nicht wanken, also zum Beispiel: Wir haben es mit einem örtlichen Täter zu tun. Wenn wir uns irren, gehen die Ermittlungen in die völlig falsche Richtung. Dann stellen Sie sich den dicken tragenden Ast der Eiche vor, der darf auch nicht abbrechen. Also zum Beispiel: Wir suchen nicht den Sexualtäter, sondern den Körperverletzer.
Sie waren 2004 eingebunden in die Ermittlungen zum Nagelbombenanschlag auf der Kölner Keupstraße. Ihre Analyse hatte früh ergeben, dass ein fremdenfeindliches Motiv möglich sein könnte.
Müller: Dass es sogar wahrscheinlich ist.
Was ging in Ihnen vor, als die Ermittlungen dennoch schnell in Richtung Organisierte Kriminalität gingen?
Müller: Die Frage wird mir oft gestellt, und sie ist falsch. Denn sie gingen sofort in die richtige Richtung. Unser Auftraggeber damals war die Kölner Polizei, und die hat alles richtig gemacht – aus heutiger Sicht genauso wie damals. Wir haben nur das bestätigt, was die Kölner auch gesehen hatten, nämlich: Da waren zwei Täter offensichtlich mit dem Fahrrad unterwegs. Über die Videokamera an dem Viva-Gebäude in der Schanzenstraße konnten wir in der Rekonstruktion sehen: Was machen die denn da mit den beiden Rädern? Die warten ab. Warum denn? Da muss es einen Dritten gegeben haben, der in der Keupstraße war und denen gesagt hat: Jetzt noch nicht! Aber warum? Die Kölner Polizei hatte daraufhin ermittelt, dass da Beschäftigte vom Ordnungsamt eine Verkehrsbehinderung bereinigt haben. Lange Rede, kurzer Sinn: Die Täter konnten zu diesem Zeitpunkt noch nicht loslegen. Aber in diesen 20 Minuten, in denen sie gewartet haben, hätte jemand, der im Friseurgeschäft saß und vermeintliches Ziel war, sich längst aus dem Geschäft hinaus begeben können.
Was sprach damals konkret für einen rechtsradikalen Hintergrund?
Müller: Unter anderem der Sprengsatz. Da hatte jemand richtig viel Zeit investiert, Spaß am Basteln gehabt, Bauteile aus dem Modellflugzeugbereich integriert – das alles sprach gegen Organisierte Kriminalität, gegen eine verübte Tat aus der Türsteherszene heraus. Wir haben Experten aus dem Bereich Organisierte Kriminalität, Terrorismus links und rechts sowie Sprengstoffexperten hinzugezogen. Gemeinsam kamen wir zu dem Schluss, dass eine fremdenfeindliche Gesinnung wahrscheinlicher ist, dass es den Tätern, einig im Geiste, darum ging, dem ungestörten Treiben im imaginären Istanbul ein Ende zu setzen. Aber eines muss man natürlich auch sehen: Habe ich als Ermittler eine zweite Hypothese, die zwar unwahrscheinlicher ist als die erste, die ich aber nicht ausschließen kann, muss ich natürlich auch diese mitbearbeiten.
Wenn das LKA und die Polizei Köln doch so früh auf der richtigen Fährte waren – warum hat es bis 2011 gedauert, bis der Zusammenhang zum rechtsterroristischen NSU hergestellt wurde?
Müller: Die Information ist an höherer Stelle offenbar anders bewertet worden. Die Polizei Köln jedenfalls war von vornherein bestens aufgestellt. Ich muss aber auch selbstkritisch sagen: Zum Zeitpunkt der Fallanalyse Keupstraße bestand unsere OFA-Einheit (Operative Fallanalyse, d. Red.) erst vier Jahre. Wir waren noch im Aufbau befindlich und in der Bewältigung solcher Großlagen und vor allem in der Präsentation der Ergebnisse und begleitenden Beratung noch recht unerfahren. Das Ergebnis unserer Arbeit könnte ich heute überzeugender vorstellen, Einwände besser entkräften.
Herr Müller, Sie ermitteln seit 30 Jahren im Bereich Gewaltdelikte. Was hat sich in all den Jahrzehnten verändert?
Müller: Es gibt heute nicht mehr so viele Sexualmorde wie früher. Die Täter holen sich ihre Fantasien stattdessen schon als 13-Jährige im Internet ab. Auf der anderen Seite gibt es mehr Aggressionstaten, Rachetaten. Das Scheitern junger Menschen in den Schulen wird immer wahrscheinlicher. Sie können sich Mobbing nicht mehr entziehen, vor allem in den sozialen Netzwerken. Das führt dazu, dass auch Mädchen in Zukunft als Aggressions-, Frust- und Rachetäterinnen wesentlich mehr in Erscheinung treten werden als in den vergangenen Jahren. Die Gesellschaft ist unglaublich brutal gegenüber unseren jungen Leuten. Auch deswegen gibt es Amokläufe. Dass jemand mit einem Messer in der Gegend umher läuft und wahllos auf Menschen einsticht, wird künftig vermehrt auftreten.
Gibt es einen Kriminalfall aus all den Jahren, der Ihnen persönlich bis heute nachgeht?
Müller: Nicht den einen, sondern viele. Es gibt 1105 ungeklärte Todesfälle in NRW seit 1970. Darunter Fälle, die so schlimm sind, dass Sie sie gar nicht hören wollen. Einer, der mich immer wieder beschäftigt, ist der ungeklärte Fall Frauke Liebs in Ostwestfalen aus 2006. Das Mädchen wurde entführt und hat sich noch mehrmals melden dürfen in der Gewalt des Täters. Beim letzten Mal hat sie sich verabschiedet, weil sie wusste, dass sie gleich sterben wird. Ganz fürchterlich.
Franke: Die größte Belastung für mich ist der Umgang mit den Angehörigen, mit dem Leid, das so eine Tat auslöst. Das ist auch für einen Ermittler nicht ganz einfach. Aber der Wille, solchen Taten aufzuklären, spornt eben auch an.
Müller: Es heißt ja, Mord verjährt nicht. Aber das stimmt nicht. Mord verjährt – wenn sich keiner kümmert. Wir als Polizei sind unseren Bürgerinnen und Bürgern gegenüber verpflichtet, dass Mörder nicht ungestraft davonkommen.