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Mein VeedelMit Jürgen Becker durch die Walachei

Lesezeit 5 Minuten

Jürgen Becker lebte zehn Jahre in Widdersdorf.

Widdersdorf – Unter Gottes Gnaden ist nichts los. Kein Mensch, kein Hund, niemand zu sehen in der Straße, in der Jürgen Becker als Kind Kettcar-Rennen und Fußballschlachten ausgetragen hat. Der Kabarettist ist auf dem Weg in die Salzgrotte, zu seiner Kinderfreundin Gabi. Gabi Laßau ist knapp drei Jahre jünger als Becker, „aber sie konnte früher Fahrradfahren, besser Fußball spielen als ich und war sowieso in allem besser“. Vor ein paar Jahren hat Laßau im Keller ihres Hauses eine Salzgrotte aufgemacht. „Sowas geht nur in Widdersdorf“, sagt Becker. Mit acht Jahren ist Jürgen Becker mit seiner Familie aus Zollstock nach Widdersdorf gezogen. Bis 18 ist er geblieben. Begeistert sei er nicht gewesen – nur die Natur und die Landwirtschaft hätten es ihm angetan. „Aber wo vieles Mist ist, wie in Köln oder Widdersdorf, muss man was verändern. In Städten, die schön sind, sind die Leute oft bequem.“ Man weiß manchmal nicht, ob einem der Kabarettist Jürgen Becker gegenübersteht oder der Privatmann oder eine Mischung – vielleicht ist er immer so: bissig, aber locker, lustig, mit ernstem Unterton.

Ein kleiner Lebensmittelladen fehlt

Becker setzt sich in das Café der Salzgrotte, Laßau bringt Kaffee und selbstgemachte Nussecken, Becker ruft seine Mutter an, die nebenan wohnt. „Mami, komm doch mal kurz zur Gabi. Wir sitzen jetzt hier und quatschen.“ Wenig später steht die in Würde gealterte Reni Becker (78) im Türrahmen. Dicke Umarmung, dann erzählt Reni Becker, was fehlt in Widdersdorf: „Ein kleiner Laden auf der Hauptstraße. 20 Minuten muss ich für einen Weg laufen, seit der Edeka umgezogen ist.“ „Ich spreche mal mit der Rewe, in Alt-Niehl haben die ja einen Nahkauf aufgemacht. Das wäre das Richtige hier. Schön mit Behinderten, die da arbeiten, das wäre doch hier wunderbar“, sagt der Sohn. Mit dem Neubaugebiet Widdersdorf-Süd, sagt Frau Becker, „haben wir eigentlich nichts zu tun, das ist ein Ort für sich“. Gut, schlecht? Sie hat da keine Meinung, ihr Sohn auch nicht. „Es sorgt schon für eine Trennung“, meint Gabi Laßau. „Hier die alten Widdersdorfer, da die Neuen mit der Kohle, irgendwie passt das schwer zusammen.

Ohne die Ödnis wäre er heute nicht Kabarettist

Man habe schon damals aufpassen müssen, „in der Widdersdorfer Ödnis nicht zwischen Dorfdepp und Großkotz zerrieben zu werden“, sagt Jürgen Becker zwinkernd. „Und so ist es geblieben. Insofern also: kein Wandel.“ Wobei: Wäre in Widdersdorf nicht so tote Hose gewesen, wäre Jürgen Becker heute vielleicht nicht Kabarettist. Mit einigen Mitstreitern kämpfte der halbstarke Jürgen Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre für ein Jugendzentrum – und gewann. Dass die alte Schule gegenüber der Kirche St. Jakobus seit 30 Jahren als Jugend-Treffpunkt genutzt wird, ist auch Becker zu verdanken. Regelmäßig steht er noch heute dort auf der Bühne und spendet das Geld für den Förderverein „Alte Schule“. „Der Jürgen war immer ein Macher“, sagt Mutter Reni. „Und gemacht habe ich, weil es nichts gab“, sagt der Sohn. Eigentlich sei er freilich ziemlich faul. So habe er beim Kölner Spielecircus, aus dem die Stunksitzung hervorging, nie Feuerspucken oder Jonglieren lernen wollen: „Deswegen habe ich die Moderationen gemacht. So hat das angefangen.“ Das wichtigste, sagt Becker, seien damals wie heute die richtigen Freunde gewesen. „Und die hatte ich immer.“ Als er mit 18 in einen Bauwagen nach Groß-Königsdorf zog, habe er sie gehabt und auch später, als er als Student der Sozialarbeit den Kölner Spielecircus auf die Beine stellte. Er und seine Freunde kümmerten sich darin um Kinder aus Brennpunkten.

Becker wird selten etwas böse genommen

Sein Talent am Mikro brachte ihm den Job als Sitzungspräsident Irokesen-Heinz bei der Stunksitzung ein – damals entdeckte er seine Vorliebe für Spott über die katholische Kirche. Mit seiner katholischen Kindheit in Widdersdorf habe das nichts zu tun, sagt Becker. Sein Religionslehrer sei nett gewesen, der habe jedem eine Zwei gegeben, und denen, die auswendig gelernt hätten, sogar eine Eins. „Die Katholiken habe ich nur dank Kardinal Meisner als Thema für mich entdeckt.“Nach dem Kaffee geht es zur Hauptstraße des Ortes – für Becker ein großes Ärgernis. Vor einem Geschäftshaus bleibt er stehen und schimpft auf den Architekten, als sei die Hauptstraße seine Bühne. Ein Stück weiter stößt er auf die Leuchtreklame eines Restaurants, vor dem ein Pickup parkt. Becker steigt auf die Ladefläche, um für ein Foto zu demonstrieren, wie übel es um den Ortskern bestellt sei, da kommt der Wagenbesitzer. Der guckt finster, bevor er Becker erkennt. „Ach, der Herr Becker, was ist das denn?“, knurrt er. „Tolles Auto, kann man damit auch Motorräder transportieren?“, kontert Becker. Der Mann sagt Ja, „in ähnlichen Fällen habe ich Leute schon angezeigt“, zischt er. Becker klopft ihm auf die Schulter und lässt in seinem menschenfreundlichen Singsang ein paar Komplimente fallen. Der Mann lacht und kommt ins Erzählen. „Es kommt nicht drauf an, was man sagt, sondern wie“, wird Becker später sagen und so begründen, warum die Leute ihm – im Gegensatz zu seinem auf der Bühne meist tobenden Kollegen Wilfried Schmickler – selten böse sind, obwohl er in seinen Programmen ähnlich gnadenlos austeilt.

"Alle wollen so superindividuell sein"

In den Seitenstraßen macht Becker sich Gedanken über die Gestaltung der Widdersdorfer Haustüren und Vorgärten und was die wohl über deren Besitzer aussagen: Typ Bestatter mit bronzenen Streben und Bodendeckern, Typ Künstler mit silbernen Skulpturen und weißen Rosen – „alle wollen so superindividuell sein. Könnte man ein Buch draus machen“. Jürgen Becker erzählt jetzt noch von seinen schönsten Jugenderinnerungen: von der Ingrid aus Nippes, seiner ersten Freundin, vom Abhängen vor dem Friedhof mit seinen Kumpels, von frisierten Mopeds und vom Traktorfahren – jahrelang hat der jugendliche Jürgen Becker die Zuckerrüben im Herbst mit dem Traktor in die Fabriken nach Elsdorf, Bedburg und Brühl gefahren.Mehr als 30 Jahre ist das her. Der Mensch Jürgen Becker steht auf der Hauptstraße, über die er sich so gern lustig macht, und sagt in seinem netten Singsang: „Ich komme immer wieder gern her. Ist doch irgendwie schön hier.“