Die Polizei spricht nach der Geiselnahme im Drogenmilieu von einer neuen Dimension der Gewalt. Wir beantworten die wichtigsten Fragen zur „Mocro-Mafia“.
„Mocro-Mafia“ in KölnWas bislang über die Drogenbande bekannt ist und wie man sie bekämpfen kann
Was ist passiert?
Den Kölner Geschäftspartnern einer mutmaßlich niederländischen Drogenbande wurden 300 Kilogramm Marihuana aus einer Lagerhalle in Hürth geraubt. Diesen Stoff für 1,5 Millionen Euro wollte die Drogenbande mit rabiaten Methoden wieder eintreiben. Durch Sprengstoffanschläge in Mülheim und Buchheim erhöhten sie vor zwei Wochen den Druck auf die bestohlenen Geschäftspartner. Die Suche nach den Dieben führte zu einer arabischen Großfamilie. Vergangenen Donnerstag wurden ein Mann dieses Clans und seine Cousine in Bochum entführt. Beide, so stellte sich heraus, stammen ebenfalls aus der Rauschgift-Szene. Die Täter transportierten die Geiseln nach Köln-Rodenkirchen in eine Villa und folterten sie im Keller. Ein Video, das dieser Redaktion vorliegt, dokumentiert die brutalen Misshandlungen. Ein Spezialeinsatzkommando der Polizei befreite die Geiseln vorige Woche Freitag.
Wie weit haben sich niederländische Drogenkartelle bereits in Köln ausgebreitet?
Offenbar weiter, als bislang bekannt war. Kölns Kripochef Michael Esser warnte diese Woche vor "einer neuen Dimension der Gewalt im Bereich der organisierten Kriminalität, die es so hier in Deutschland meines Wissens noch nicht gegeben hat". Es sei glücklichen Zufällen zu verdanken, dass bei drei Sprengstoffanschlägen vor zwei Wochen im Rechtsrheinischen niemand verletzt worden sei. Die Geiselnahme durch mutmaßliche Mitglieder der niederländischen "Mocro-Mafia“ habe "einen der komplexesten Einsätze der NRW-Polizei aus den vergangenen Jahren" ausgelöst.
Wird die Gefahr in Zukunft zunehmen?
Das ist umstritten. In Sicherheitskreisen wird befürchtet, dass sich die „Mocro-Drogenmafia“ in NRW ausbreiten will und die Gewalttaten in Köln womöglich nur der Anfang gewesen sein könnten. „Was man sieht, ist, dass den Agitatoren, die dieser Gruppierung angehören, Grenzen egal sind“, sagt Oliver Huth, NRW-Chef des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK). „Die haben keine Sorge, diesen Konflikt in NRW weiterzuverfolgen. Es fehlt Geld, viel Geld, und solange das nicht zum Ausgleich gebracht worden ist, wird das hier weiter eskalieren.“ Diese Gruppierungen hätten ein „Elefantenhirn“, so dass auch in einigen Monaten noch Racheakte zu befürchten seien - schließlich wolle man sein Gesicht nicht verlieren. Deshalb würden auch bewusst abschreckende Videos verbreitet.
Suchtexperten wie Bernd Werse von der University of Applied Sciences sind nicht so pessimistisch. Eine konsequente Ermittlungsarbeit in Deutschland sollte zumindest die brutalen Auswüchse der Drogenkriminalität eindämmen können. „Wer mit Drogen handelt, hat zumindest in funktionierenden Staaten Europas in der Regel kein Interesse daran, in den Fokus der Ermittlungen zu geraten. Aufsehenerregende Gewalttaten werden deshalb auch in Zukunft – bei konsequenter Ermittlungsarbeit - eher vermieden werden.“
Was ist die „Mocro-Mafia“ eigentlich?
Die „Mocro-Mafia“ ist ein kriminelles Netzwerk, das vorwiegend aus marokkanisch-stämmigen Mitgliedern besteht und seinen Ursprung in den Niederlanden und Belgien hat. Den Begriff „Mocro“ haben die niederländischen Medien geprägt. „Mocro“ ist zwar ein geläufiger Slang-Begriff für Menschen marokkanischer Herkunft, in dem Netzwerk sind aber auch gebürtige Niederländer und andere Nationalitäten aktiv. „Ich spreche deshalb selbst nie von der „Mocro-Mafia““, sagt der niederländische Kriminologe Cyrille Fijnaut. „Die kriminelle Welt in den Niederlanden ist genauso multikulturell wie die Oranje-Elf.“
Gibt es Streitigkeiten zwischen den unterschiedlichen Gruppierungen?
Es gebe zahlreiche Konflikte, die gewalttätig ausgetragen würden, sagt Fijnaut - ähnlich wie es jetzt offenbar in NRW der Fall war. Sprengsätze unter dem Auto, ein abgehackter Kopf vor einer Sisha-Bar, ein zum Folterinstrument umgebauter Zahnarztstuhl - all das schockierte die Öffentlichkeit. „Diese Welt ist voller Konflikte - und seit etwa zehn Jahren werden diese in zunehmendem Maße mit Waffengewalt ausgetragen“, so Fijnaut. Pro Jahr würden etwa 10 bis 20 Menschen „liquidiert“.
Bringen sich die Drogenhändler ausschließlich gegenseitig um?
Nein. International bekannt wurde die „Mocro-Mafia“ im Jahr 2021, als der niederländische Journalist Peter de Vries in Amsterdam auf offener Straße erschossen wurde. Der Mord stand offenbar in Zusammenhang mit einem Prozess gegen Ridouan Taghi, den Kopf einer berüchtigten Drogenbande. De Vries war Vertrauensperson des Kronzeugen, der gegen Taghi und seine Komplizen ausgesagt hatte. Zuvor waren bereits der Bruder und der Verteidiger des Kronzeugen ermordet worden. Die Auftragsmörder wurden vor etwa einem Monat zu langen Haftstrafen verurteilt. Taghi selbst konnte keine Beteiligung an dem Mord nachgewiesen werden. Er wurde aber wegen der Verwicklung in andere Auftragsmorde zu lebenslanger Haft verurteilt. Es gilt als sicher, dass die Verurteilten Berufung gegen die Urteile einlegen werden.
Wer sind die Täter?
Viele Gang-Mitglieder würden in den sozialen Brennpunkten von Utrecht und Amsterdam aufwachsen. „Oft brechen sie früh die Schule ab und starten ihre kriminelle Karriere“, so Robin Hoffmann, Kriminologe an der Uni Maastricht: „Diese Leute fühlen sich abgehängt. Sie führen einen Auftragsmord für drei- bis fünftausend Euro durch.“ Je höher die Erfolgsrate, desto schneller würden sie in der Bandenhierarchie nach oben klettern. Weil die Hemmschwelle zum Töten so gering ist, müssen vor allem einige Juristen in den Niederlanden massiv beschützt werden. Sie würden auf Schritt und Tritt von schwerbewaffneten Beamten begleitet, berichteten 2021 zwei Anwälte dem „Kölner Stadt-Anzeiger“, die einen Mafia-Aussteiger vertraten. „Das ist etwas, womit wir leben müssen und wir kommen sehr gut damit zurecht“, sagte einer zu seinem Leben in hermetisch abgeriegelten Safe-Houses.
Wie ist die „Mocro-Mafia“ entstanden?
Die „Mocro-Mafia“ entstand in den 1990er-Jahren, als marokkanische Einwanderer begannen, den Drogenhandel in den Niederlanden zu dominieren. Diese Gruppen entwickelten sich schnell zu gut organisierten Netzwerken, die nicht nur den europäischen Drogenmarkt kontrollieren, sondern auch in Geldwäsche und andere illegale Aktivitäten involviert sind. Die „Mocro-Mafia“ handelt vor allem mit Drogen, insbesondere mit Kokain.
Hat die niederländische Politik die mafiösen Strukturen beflügelt?
Jein. Zunächst liegen die Niederlande mit ihrem riesigen Hafen für den Drogenhandel sehr günstig. Nach Ansicht von Robin Hoffmann von der Uni Maastricht, hängt der Aufstieg der Kokain-Barone allerdings auch mit der liberalen Drogenpolitik zusammen. In den 1970er Jahren billigte die niederländische Regierung den Konsum von Haschisch und Marihuana in Coffee-Shops.
Das Problem: Die Produktion wurde in den Niederlanden nie geregelt. Drogenbanden witterten deshalb ihre Chance und schmuggelten den Stoff aus Marokko und der Türkei im großen Stil in die Niederlande. Hier bauten die Dealer ein gut organisiertes Vertriebsnetz auf, das sich über ganz Europa erstreckt. In den niederländischen Coffee-Shops wird also „Cannabis legal verkauft, das komplett illegal produziert und gehandelt wurde, teilweise durch kriminelle Gruppierungen“, sagt Bernd Werse von der University of Applied Sciences in Frankfurt im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Die Behörden schauten darüber hinweg. In den 1990er Jahren stiegen die Cannabis-Schmuggler auf härtere Drogen um, die weitaus höhere Renditen versprachen. Durch die Nichtregelung von Anbau und Großhandel habe die niederländische Politik so womöglich dazu beigetragen, organisierte Kriminalität zu befördern.
Inwiefern hat die Teillegalisierung in Deutschland Auswirkung auf den illegalen Schwarzmarkt?
NRWs Innenminister Herbert Reul (CDU) und die Polizeigewerkschaft prognostizieren Deutschland und NRW niederländische Verhältnisse. Durch die Teillegalisierung von Cannabis in Deutschland würden mafiöse Strukturen unterstützt. Die Organisierte Kriminalität nutze schließlich jede Möglichkeit, Geschäfte zu machen und den Markt zu besetzen. In den Niederlanden, wo man schon seit den 70er Jahren mit Toleranzpolitik gegenüber Cannabis regiert, gehe es im Drogenhandel „gewalttätig zur Sache“, so Reul. Auch in NRW könnten sich derartige kriminelle Strukturen nun verstärkt bilden.
Till Zimmermann, Professor für Strafrecht an der Heinrich Heine Universität in Düsseldorf, hält den Vorwurf für überzogen, im Kern aber zumindest derzeit nicht unplausibel. Der Grund: Die Nachfrage übersteige derzeit möglicherweise das Angebot. „Es ist einfacher und risikoloser geworden, Cannabis zu besitzen, die Möglichkeit, Cannabis legal zu erwerben, ist aber noch nur sehr begrenzt vorhanden“, so Zimmermann. Bernd Werse, Direktor des Instituts für Suchtforschung an der University of Applied Sciences in Frankfurt am Main, sieht die Teillegalisierung eher als Mittel, Schwarzmarkt und illegalen Handel auszutrocknen. „Die Vermutung, die Teillegalisierung könnte den Schwarzmarkt und illegale Strukturen fördern, ist absurd. Handel war früher verboten und ist auch heute verboten“, sagt Werse in einem Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Werse glaubt im Gegenteil, dass gerade der Eigenanbau einen Großteil des Schwarzmarktes auffangen könnten. Denn schon heute könnten Konsumenten, die im April schnellblühende Pflanzen ausgesät haben, selbst ernten.
Trägt die Teillegalisierung dazu bei, dass mehr Menschen in Deutschland Cannabis konsumieren?
Umfragen haben nach Aussage von Bernd Werse ergeben, dass ein Anstieg von Neukonsumenten am ehesten in höheren Altersgruppen zu erwarten ist. „Dabei handelt es sich um Menschen, die in ihrer Jugend schon mal gekifft haben und jetzt durch die Teillegalisierung auf die Idee kommen, das wieder ab und zu auszuprobieren.“ Von dieser Konsumentengruppe sei eine Stärkung organisierter Kriminalität aber nicht zu erwarten. „Ich glaube nicht, dass diese Mitte-50-Jährigen ihr Cannabis bei der marokkanischen Mafia kaufen werden. Die säen wahrscheinlich eher auf dem eigenen Balkon.“
Warum lief die Sache in den Niederlanden aus dem Ruder?
Polizei und Justiz liefen dem besorgniserregenden Trend lange Zeit hinterher. Das liegt daran, dass in den Niederlanden ein anderes Rechtsprinzip gilt. Während Polizei und Justiz hierzulande jegliche Straftaten verfolgen müssen, entscheiden die holländischen Kollegen, ob sie einem Verbrechen nachgehen oder nicht. Der Kriminologe Hoffmann kritisiert: „Man hat zu lange weggeschaut, das ist ganz klar.“ Erst nach dem Mord an dem Journalisten de Vries fand ein Umdenken statt und die niederländische Regierung gab eine halbe Milliarde für den Kampf gegen die „Mocro-Mafia“ frei.
Ist der Kampf gegen die „Mocro-Mafia“ in den Niederlanden jetzt auf einem guten Weg?
Schwer zu beurteilen, sagen Insider. Die Seehäfen von Rotterdam und Amsterdam jedenfalls gelten immer noch als Einfallstor für Kokainlieferungen aus Südamerika. Hunderte Tonnen werden laut Europol über diese Stationen nach Europa geschleust. Und von den Rauschgiftlaboren, die in den vergangenen 20 Jahren aus dem Boden schossen, gibt es wohl auch noch einige. Eine Provinz in Limburg gilt weltweit als das Silicon Valley der Ecstasy-Produktion. Inzwischen exportieren die Drogen-Banden ihr Know-how auch nach NRW, hieß es schon vor drei Jahren beim Landeskriminalamt in Düsseldorf: „Wir haben zum Beispiel bei Cannabis-Plantagen und Drogenküchen Rezepte zur Herstellung oder Pflege der Pflanzen gefunden, die von Experten aus den Niederlanden stammen.“
Wie kann Deutschland die Drogenkriminalität politisch bekämpfen?
Das Cannabisgesetz erlaubt den Eigenanbau sowie den Anbau in Cannabis-Clubs. Werse hält das für einen richtigen Schritt und glaubt, dass der „Markt für Organisierte Kriminalität dadurch auf jeden Fall kleiner“ wird. Um den Schwarzmarkt noch mehr auszutrocknen, unterstützen Experten wie Werse eine schnelle Umsetzung der geplanten Modellprojekte. Hier könnte dann wissenschaftlich begleitet in bestimmten Regionen Cannabis von Firmen, die schon jetzt medizinisches Cannabis anbauen, produziert und kontrolliert verkauft werden. Preislich könnten die Produzenten mit dem Schwarzmarktangebot konkurrieren. „Am Ende kaufen die Leute lieber ein legales Produkt, auf dem genau steht, was drin ist, als dubiosen Stoff vom Schwarzmarkt“, so Werse. Ob und wann diese zweite Säule der Teillegalisierung aber politisch umgesetzt werde, sei noch unklar. Auch fehlten noch klare Regelungen, beispielsweise zur Frage, ob öffentliches Geld für die wissenschaftliche Begleitung eingesetzt werden könne, um die Unabhängigkeit der Forschung zu gewährleisten.
Till Zimmermann von der Uni Düsseldorf hält die Modellprojekte für unabdingbar. „Am Ende muss auch die europäische Ebene davon überzeugt werden, dass der Staat hier ein legales Angebot machen muss - wie bei Alkohol auch.“ Vorläufig prophezeit Zimmermann, dass sich Menschen vermehrt mit medizinischem Cannabis versorgen werden. „Wenn Sie einen Arzt finden, der das verschreibt, dann bekommen Sie das ganz unkompliziert im Netz.“
Wie muss die deutsche Polizei nun vorgehen?
Die Strafverfolgung sollte nicht lokalen Polizeibehörden überlassen, sondern auf nationaler Ebene koordiniert werden - etwa über das Bundeskriminalamt, fordert Kriminologe Cyrille Fijnaut. „Man braucht dafür eine Task Force, die überregional geführt wird - und das gibt es in den Niederlanden bis heute nicht.“ Auch bei den aus den Niederlanden kommenden Geldautomaten-Sprengern habe es lange gedauert, bis die deutsche Polizei die Verfolgung länderübergreifend koordiniert habe - dann allerdings gleich mit erheblichem Erfolg, wie zahlreiche Festnahmen gezeigt hätten. Das sollte jetzt nicht wieder so lange dauern, mahnt Fijnaut. „Man sollte auf jeden Fall nicht dem niederländischen Beispiel folgen - das ist kein Vorbild!“