Brigitte Lersch infizierte sich als Kind mit dem Polio-Virus und war in der Folge gehbehindert. Freundinnen beschreiben sie als mutig und abenteuerlustig. Nachruf auf eine Kölnerin, die ihren Körper manchmal verfluchte.
Nachruf auf Brigitte LerschSie liebte das Meer und die Geschwindigkeit
Sie liebte das Wasser und die Schnelligkeit. Von ihrer Porzer Wohnung aus sah sie auf den Rhein, lieber noch mochte sie das Meer. An der See fühlte sie sich unbeschwert, am liebsten hätte sie mit zwei Hunden und drei Katzen auf einem Hausboot gelebt und wäre jeden Tag hinausgeschwommen.
Wenn Brigitte Lersch gekonnt hätte, hätte sie die Meere aus der Fischperspektive erkundet. „Sie war ein mutiger und abenteuerlustiger Mensch“, sagt ihre Freundin Ulrike Niehues.
Sie träumte, Rennradfahren, Tanzen, Sprinten und Springen zu können
Sie segelte auch. Schon das hätten die meisten an ihrer Stelle nicht gemacht. Und schwamm. Schwimmen gab ihr Energie. Um aber ins Wasser zu kommen, brauchte sie mindestens eine Begleiterin. Im Ossendorfbad half ihr ein elektrischer Kran ins Becken, ein Projekt, so aufwändig wie eine Gipfelbesteigung.
Manchmal verfluchte sie es, in ihrem Körper gefangen zu sein. Und träumte davon, wie es wäre, Rennradfahren zu können und Tanzen, Sprinten und Springen, mit ihren Bewegungen Ästhetik und Eros auszustrahlen. Um die Wildheit auszuleben, die sie ja in sich trug.
Brigitte Lersch steckte sich als Säugling mit dem Polio-Virus an. Die Kinderlähmung brach durch, Beine und Stimmbänder waren betroffen, immer wieder gab es Komplikationen. Mit 14 wurde sie operiert, gehbehindert blieb sie. Ihre Stimme war leise und etwas heiser, manchmal benutzte sie im Unterricht ein Mikrofon. Sie ficht das nicht an, die Schüler an der Belvedere-Schule für Körperbehinderte in Junkersdorf, an der sie ihr Referendariat machte, merkten schnell, was für ein Mensch sie war.
Brigitte Lersch hörte ihnen zu. Sie war für sie da. Und es war gut, dass diese Lehrerin aufgrund ihrer eigenen Einschränkungen wusste, wie es ist, mit Handikap zu leben. Ihren Schülern vermittelte sie, dass diese im Mittelpunkt standen und bestimmt nicht sie selbst. Für viele wurde sie zur Vertrauenslehrerin.
Offen sei sie gewesen, gegenüber ihren Schülerinnen und Schülern habe sie eine große Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit ausgestrahlt, sagen ihre Freundinnen und ehemaligen Kollegen von der Gesamtschule Holweide, Birgit Neumann, Ulrike Niehues, Ingrid Wogenstein, Hermann Wübbels und Edith Goergen. „Ich habe nie einen weniger neurotischen Menschen kennengelernt“, sagt Wogenstein.
Gern umgab sie sich mit Menschen aus anderen Ländern. Gab dem Mann ihrer Haushaltshilfe Deutschunterricht, kochte internationale Gerichte mit Menschen mit internationaler Geschichte. „Sie war das Gegenteil von engstirnig“, sagen die Freundinnen. Ihre Freigeistigkeit ausleben konnte sie beim Malen. Mehr als ein Jahrzehnt besuchte sie die Malschule von Carola Baum – und beindruckte ihre Lehrerin: „Sie hatte eine sehr eigene, direkte Art des Malens, die mich an Egon Schiele erinnerte“, sagt Baum. „Vielleicht hat sie mit ihren Bildern eine Seite ausgelebt, die sie in der Realität nicht ausleben konnte.“
Welches Leben hätte Brigitte Lersch ohne die Kinderlähmung gelebt?
Schieles Porträts bestachen durch ihre Tabulosigkeit. Sie machten vor nichts Halt, nicht vor körperlichen Leidenschaften noch vor abgrundtiefer Traurigkeit. Egon Schiele soll ein Mensch voller Energie gewesen sein, voll Lust aufs Leben und voll Angst, der sich selbst und niemandem sonst über den Weg traute, der tief in die eigene Seele blickte und sich traute, die Lust und das Leiden in seinen Porträts zu zeigen.
Welches Leben hätte Brigitte Lersch ohne die Kinderlähmung gelebt? Diese Fragen stellte sie sich zwar, sublimierte sie in der Malerei, hielt sich aber nicht auf damit. Nach dem Referendariat wagte sie den Sprung an eine Regelschule, die Gesamtschule Holweide. „Auch so ein mutiger Schritt, der gut zu ihr passte“, sagt Ulrike Niehues. Sie ging an Krücken, langsam, es sah wackelig aus. Mehrfach stürzte sie in der Schule, manchmal bekamen Schüler es mit. Sie wollte so behandelt werden wie alle und sagte nichts dagegen, dass sie über Jahre keinen Behindertenparkplatz bekam.
Respekt gewann sie durch Empathie und Unvoreingenommenheit, sie strahlte eine innere Freiheit aus, sagen die Freundinnen. Wer kann das schon von sich sagen? Meistens zeigte sich Brigitte Lersch als aufgeschlossene, aber toughe Lehrerin, die über die eigenen Einschränkungen hinwegging. Die Geschwindigkeit liebte, mit ihrem behindertengerechten Auto gern schnell fuhr und ihren Rollstuhl nur nutzte, wenn es nicht anders ging. Die sagte, wenn die Leute glotzten: „Lass sie glotzen.“
Die einer Schülerin, die im Rollstuhl saß, während einer Klassenfahrt Mut zusprach, doch mit auf eine Nachttour zu kommen. Die sich besonders um Leistungsschwächere kümmerte – schon als Jugendliche hatte sie Nachhilfeunterricht gegeben, als Pensionärin tat sie es erneut, vor allem an Kinder von Eltern, die nicht gut Deutsch sprachen. Die den oft eher subtilen Alltagsrassismus vieler Menschen spürte – und sich dagegenstellte.
Große Angst vor Kontrollverlust
Angst hatte sie vor Kontrollverlust. Bei einem Feueralarm in der Schule sollte sie als Mensch mit Behinderung im C-Trakt im zweiten Stock bleiben, so habe es die Schule in ihren Statuten vorgesehen, erinnern sich die Kolleginnen. „Da hatte Brigitte große Angst und wollte unbedingt runter. Weil sie behindert war, bei Feueralarm im Gebäude bleiben zu müssen, das ging für sie gar nicht“, sagt Birgit Neumann.
Manchmal erschraken sie in der Schule, wenn Brigitte Lersch mal wieder gestürzt war. Meistens lächelte sie dann leichthin und weiter ging es. Ärzte und Krankenhäuser waren ihr ein Graus – sie kannte beide viel zu gut. Hilfe annehmen konnte sie, weil sie es musste.
Die Leiterin eines Lehrerseminars äffte ihre heisere Stimme nach
Tief verletzt war sie, als die Leiterin eines Lehrerseminars ihre heisere Stimme nachäffte und kicherte. Beständig ware ihre Angst vor Hunden, die sie überkam, wenn sie mit ihrem elektrischen Dreirad am Rhein entlangfuhr. Einmal hatte sie einer gebissen. „Nicht weglaufen zu können bei Gefahr, das war schlimm für sie“, sagt Ulrike Niehues.
Meistens nahm sie ihre Behinderung an, manchmal ging das nicht. Dass sie immer wissen musste, wo es eine erreichbare Toilette gibt, konnte sie akzeptieren, dass sie nicht alle Freundinnen besuchen konnte, weil einige in höheren Stockwerken und Häusern ohne Aufzug lebten, weniger.
Als die Russen in der Ukraine einmarschierten, wollte Brigitte Lersch in der Innenstadt am Rosenmontag für den Frieden demonstrieren – ihre Behinderung ließ es nicht zu. Sie wusste genau, mit welchen Bahnlinien sie fahren konnte, welche Aufzüge am Deutzer Bahnhof seit Jahren nicht funktionierten, ich welchen Cafés die Toiletten erreichbar waren, wo sie ohne unüberwindbare Hindernisse einkaufen konnte.
Am 25. März sprach sie mit Ulrike Niehues beim Kaffeetrinken über den Tod. „Einfach so, es ging ihr gut“, sagt die Freundin. „Eine Seebestattung hätte sie schön gefunden. Sie konnte sich auch vorstellen, der Wissenschaft ihren Körper zur Verfügung zu stellen.“ Schnell ging es wieder ums Leben: Zum 70. Geburtstag war eine Hausboot-Tour in Mecklenburg geplant.
Am 30. März war Birgit Neumann zu Besuch in Porz. Im Nachhinein, sagt Neumann, die Brigitte Lersch im zweiten Studiensemester kennengelernt hatte, sei die Freundin ein bisschen instabiler gewesen als sonst. Sie hatte eine starke Erkältung, wirkte etwas schwach. Erzählte, dass sie am Abend zuvor gestürzt sei. Nichts Besonderes, dachte die Freundin. Als sie tags drauf anrief, ging niemand ans Telefon. Brigitte Lersch war tot.
Es gab keinen Abschied. Keine Boots-Tour zum 70., keine Reise mit den Freundinnen vom Malkurs, kein Kaffeetrinken und Telefonieren mit den Freundinnen mehr. Schwer war für die Freundinnen vor allem, dass es keinen Zugang zu der Toten gab.
Dass diese Frau spurlos verschwand, nahmen die Menschen nicht hin
Die Wohnung sei versiegelt worden, sie hätten um die anonyme Bestattung gewusst, aber nirgends erfahren können, wann und wo. Dass diese Frau, die innerlich so strahlte und nur nach außen oft als behindert wahrgenommen wurde, spurlos verschwand, nahmen die Menschen nicht hin.
Die Nachbarn trafen sich zu einer Feier und gedachten ihr, die Freundinnen machten das Grab am Ostfriedhof ausfindig, schmückten es mit Blumen und einem Bild. Die Malgruppe gedachte Brigitte am Strand von Gomera, sie legten mit Steinen ihren Namen und schauten aufs Meer.