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Nachruf auf Tina TurnerWie die Schmerzensfrau des Rock'n'Rolls in Köln ihr Glück fand

Lesezeit 6 Minuten

Tina Turner, frühe Rock-Innovatorin und später Weltstar, starb am Mittwoch im Alter von 83 Jahren. Ihre große Liebe fand sie in Köln.

Die Schmerzensfrau des Rock’n’Roll, die wollte sie eigentlich nie sein. Doch das war der Preis den Tina Turner zahlen musste, dafür, dass sie nach dem späten Aufstieg in Superstar-Sphären ihre Autobiografie „I, Tina“ veröffentlichte. Sie wollte endlich ihre Geschichte erzählen, die Wunden offenlegen, die sie all die Jahre zuvor mühsam überschminkt hatte. Doch als ihre bitteren Lebenserinnerungen bald darauf mit Angela Bassett in der Hauptrolle von Hollywood verfilmt wurden, blieb sie dem Kinosaal fern: „Warum sollte ich mir noch einmal angucken wollen, wie Ike Turner mich verprügelt?“

Am Mittwoch ist Tina Turner im Alter von 83 Jahren nach langer Krankheit in ihrer schweizerischen Wahlheimat Küsnacht gestorben. In ihren letzten Jahren musste sie immer wieder gesundheitliche Rückschläge hinnehmen: 2013, kurz nach der Heirat mit ihrem langjährigen Kölner Lebensgefährten Erwin Bach, erlitt sie einen Schlaganfall, 2016 wurde bei ihr Darmkrebs diagnostiziert, 2017 musste sie sich einer Nierentransplantation unterziehen, das neue Organ spendete ihr Ehemann.

Tina Turner – eine der großen Innovatorinnen der Popmusik

„Es war kein gutes Leben“, resümierte Tina Turner in einer Dokumentation, die anlässlich ihres 80. Geburtstags erschien. Aber damit meinte sie nur die erste Hälfte, bevor sie sich im Alter von 45 Jahren noch einmal neu erfand, als Popsängerin von Weltrang und als glücklicher Mensch.

Trotzdem wurde sie in Interviews vor allem zur ersten, fremdbestimmten Hälfte befragt. Musste wieder und wieder öffentlich Zeugnis ablegen von ihrem Martyrium als Ehefrau, die Pressearbeit fiel für sie mit einer endlosen Abfolge von Re-Traumatisierungen zusammen.

Tina Turner zog es nach Köln-Marienburg

Selten jedoch wollten Interviewer über das Augen- und Ohrenfälligste reden: Dass Tina Turner nicht nur eine der großen Stimmen, sondern auch eine der großen Innovatorinnen der populären Musik ist. Gewiss, Ike Turner hatte 1951 mit „Rocket 88“ den ersten Rock’n’Roll-Song eingespielt. Aber es war sein junges Protegé und baldiges Opfer, das die Klage des Blues ans Starkstromkabel schloss und zum Urschrei der Rockmusik verstärkte.

Tina Turners Stimme war ein menschlicher Van-de-Graaff-Generator, wenn sie ihre Stimmbänder erzittern ließ, als wären diese ein unentdecktes Sexualorgan, stellten sich zuverlässig die Haare der elektrisierten Zuhörenden auf. Phil Spector, ein weiterer Täter aus der Musikindustrie, wählte Tina Turner 1966 als Sängerin für sein Meisterwerk in spe „River Deep - Mountain High“ aus und türmte seine „Wall of Sound“ so hoch auf wie nie zuvor. Aber Turners Stimme bringt diese Mauern trotzdem zum Einsturz.

In den 1960ern hätte man ihre Performance wohl kaum als Ausbruchsversuch interpretiert. Und auch ihr frenetischer Go-Go-Tanz – die hoch an den Körper gezogenen Knie, das wie vom Blitz getroffene Stöckeln – wurde eher als Ausdruck animalischer Sexualität gelesen, mit den damit einhergehenden rassistischen Untertönen, denn als Abschütteln der Fesseln, die Frauen im Rock-Geschäft angelegt wurden.

Mick Jagger guckte sich ihre Tanzschritte damals genau ab, die Ike & Tina Turner Revue bestritt regelmäßig das Vorprogramm der Rolling Stones. Die berühmten „Jagger Moves“, die schlicht „Turner Moves“ waren, erkannte man dagegen sofort als Ausdruck selbstbestimmter junger Männlichkeit, eine Herausforderung ans Establishment.

Tina Turner und Erwin Bach: Liebe auf den ersten Blick am Kölner Flughafen

Je eindeutiger Tina Turner zum Star der Revue wurde, desto grausamer behandelte sie ihr von Minderwertigkeitskomplexen zerfressener Ehemann, übergoss sie mit heißem Kaffee, schlug sie mit Schuhspannern und Kleiderbügeln, vergewaltigte sie, sperrte sie ein. Sie habe Folter durchgemacht, fasst Tina Turner in der erwähnten Dokumentation knapp zusammen. Man fragt sich, warum sie mit 80 Jahren immer noch davon berichten soll.

Sprechen wir also lieber von ihrem erstaunlichen Comeback, von einer der schönsten Erzählungen der Popgeschichte. Als sie dem Käfig ihrer Ehe auf abenteuerliche Weise entfloh, hatte sie nur 36 Cent in ihrer Tasche. Sie schlug sich mit Konzerten in kleinen Clubs, Cabaret-Shows in Las Vegas und gelegentlichen Fernsehauftritten durch, ein Oldie-Act aus den 1960ern. Aber John Carter, ein A&R-Manager bei Capitol Records, sah mehr in ihr. Und ein Hilfstrupp britischer Musikgrößen schlossen sich ihm an, darunter Rod Stewart, Jeff Beck, Mark Knopfler und Martyn Ware von Heaven 17. Sie waren von Turner als junge Burschen verzaubert worden und hatten das nie vergessen. David Bowie drängte unermüdlich Vorstände und Manager seiner Plattenfirma dazu, sich Turners Konzerte anzusehen.

Ende Mai 1984 erschien dann endlich „Private Dancer“, jenes Album, das Tina Turner vom Alt- zum Superstar katapultierte. Ihre Stimme lasse Vinyl schmelzen, schwärmte die „Los Angeles Times“. Ihr Organ war stark wie eh und je, die Musik nun aber geschmeidiger und radiofreundlicher. „What’s Love Got to Do With It“, die erste Single-Auskopplung, war ursprünglich für Cliff Richard und die Eurovisionstruppe Bucks Fizz komponiert worden, doch erst der Kontrast zwischen dem federleichten Reggae des Songs und Turners erdiger Performance machen das Stück zum Hit. Es ist ihre erste und einzige Nummer Eins in der US-Hitparade, damals, 1984, war sie 44 Jahre alt und damit die älteste Solokünstlerin, die jemals die Spitze der Billboard-Charts erreicht hatte.

Jetzt trat Turner vor 180.000 Zuschauern auf, so geschehen im Januar 1988 in Rio de Janeiro. Zwei Jahre zuvor hatte sich auch ihr privates Glück gewandelt, als Erwin Bach sie im Auftrag ihres Kölner Labels EMI vom Düsseldorfer Flughafen abholte. Nichts schien für die Liebe zwischen dem amerikanischen Superstar und dem bescheidenen, 16 Jahre jüngeren Mann aus dem Hunsrück zu sprechen. Aber es funkte nicht nur, es funktionierte auch.

Tina Turner: Von den USA nach Köln-Marienburg

Die Frau, die als Anna Mae Bullock in Brownsville, Tennessee, von einer Mutter geboren worden war, die ihre Tochter nicht lieben konnte, deren Vater von rassistischen Polizisten totgeprügelt worden war, die im winzigen Nachbardorf Nutbush, mit der Aussicht Baumwollpflückerin oder bestenfalls Krankenschwester zu werden, aufwuchs, bevor sie einen Ausweg fand, der sich als Hölle auf Erden erweisen sollte, diese Frau zog nun ins Kölner Villenviertel Marienburg, ließ sich im Edel-Italiener Tullio Calamari fritti zubereiten, immer am Tisch Eins, in der Ecke, links vom Eingang.

Abseits der Bühne war sie schlicht Tina und die Vergangenheit und der Ruhm fielen von ihr ab, wie eine ihrer Hunderten Perücken. Sie konnte im Mad-Max-Film die überlebensgroße Superschurkin unter der Donnerkuppel geben und sich anschließend in ihre Villa in der Ulmenallee zurückziehen. Ab und an soll sie in der Edel-Disco Neuschwanstein An d’r Hahnepooz getanzt haben.

Weshalb neben zahlreichen Größen aus dem Showgeschäft, von Oprah Winfrey bis Mick Jagger, nun auch Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker kondolierte: „Nur ganz wenigen Menschen auf der Welt ist es vergönnt, wie Tina Turner, Jahrzehnte Menschen generationen- und kontinentübergreifend mit ihrer Musik zu begeistern. Die Kölnerinnen und Kölner und auch ich ganz persönlich werden sie als herausragende Künstlerin und beeindruckende Frau in Erinnerung behalten.“

1994 zog sich das glückliche Paar freilich noch weiter zurück, nach Küsnacht am Zürichsee. Turner nahm die Schweizer Staatsbürgerschaft an. Sie hatte genug getan. Sie hatte die Rockmusik geprägt wie kaum eine zweite Frau und als erste beweisen, dass man nicht 20 oder männlichen Geschlechts sein muss, um ganz vorne mitzuspielen. Im Januar 2009 gab Tina Turner ihre letzten Konzerte in Köln, verkaufte viermal hintereinander die Arena aus, präsentierte sich mit ungebremster Energie. Seit 50 Jahren stand sie da auf der Bühne. Es war mehr als genug. Die Schmerzensfrau gibt es nicht mehr.