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Nach Flammenwerfer-Attentat„Ich war überzeugt, dass ich nur träume“

Lesezeit 9 Minuten

Hella Rauch und Peter Ohren im Kinderkrankenhaus, 48 Jahre nach dem Attentat.

Hella Rauch schwitzt. In der Bibliothek des Kinderkrankenhauses Amsterdamer Straße staut sich die Hitze noch mehr als auf den schon stickigen Gängen des Gebäudes. Ein Fenster steht offen. Peter Ohren schenkt Wasser ein, setzt sich Hella Rauch schräg gegenüber. Er hat Angst zu übertreiben, wenn er vom Juni 1964 erzählt. Aber ihm fällt bis heute keine bessere Erklärung dafür ein, dass Hella Rauch jetzt neben ihm sitzen kann. „Das ist ein Wunder. Wirklich.“ Er hat Hella Rauch betreut und gepflegt, als sie vor 48 Jahren mit schwersten Verbrennungen am ganzen Körper in das erst zwei Jahre alte Kinderkrankenhaus eingeliefert wurde. Zusammen mit zwölf Schulkameraden, die an jenem Morgen von einem psychisch kranken Mann mit einem selbst gebauten Flammenwerfer attackiert worden waren. „Der Tag hat sich eingebrannt“, sagt Peter Ohren.

Ohren: Der 11. Juni 1964. 9.45 Uhr, diese Uhrzeit werde ich nie vergessen. An dem Tag war es auch so heiß. Ich war OP-Pfleger, wir saßen im Aufenthaltsraum, da kam der Anruf aus Volkhoven: Da brennt eine Schule. Wir dachten, ein Ölofen sei explodiert. Dass da etwas so Grausames passiert ist, konnte man sich nicht vorstellen. Ich werde nie vergessen, wie die hier ankamen und nach Wasser ächzten. Wir waren alle in Schockstarre.Rauch: Wir hatten Religionsunterricht. Draußen hatte die Klasse von Frau Langohr Turnen. Wir hörten plötzlich Geschrei und sahen ein Kind über den Schulhof rennen, dessen Haare brannten. Haben wir aber gar nicht richtig registriert, wir dachten, die spielen Indianer. „Alles raus!“, schrie die Lehrerin. Wir waren in Holz-Pavillons untergebracht, die jeweils zwei Klassen fassten. Alle stürmten zur Tür, aber im Flur brannte es, dort ging es nicht weiter. In der Klasse waren zwar viele Fenster, doch nur eins stand offen. In Panik liefen alle darauf zu, und als ich gerade einen Fuß auf der Fensterbank hatte, stand er vor mir. Und hielt auf mich.

Walter Seifert, 42, war an diesem Morgen mit einem selbst gebauten Flammenwerfer und einer Lanze in die Katholische Volksschule eingedrungen. Mit der sechs Meter langen Flamme attackierte er die Schüler auf dem Schulhof und in den Pavillons. Mit der Lanze stach er zwei Lehrerinnen nieder, eine von ihnen hochschwanger. Als er vor Hella Rauch stand und feuerte, schlug sie die Hände vors Gesicht. „Weil die Luft so heiß war, die mir entgegenkam.“ Sie drehte sich um, bekam einen weiteren Feuerstrahl auf den Rücken. Die Wunden, die sie am gesamten Oberkörper davontrug, zeichnen sie bis heute. Sie stolperte, fiel, blieb liegen.

Rauch: Ich war davon überzeugt, dass ich das nur träume. Dann rief ich dreimal Mama, doch nichts geschah. Ich kletterte aus dem Fenster und dachte: Ja, verbrannt, aber wehgetan hat nichts. Dann wollte ich zur Toilette, zum Wasser und ich erinnere mich, dieses lange Waschbecken war voller Kinder. Als ich wieder auf den Schulhof kam, fragte mich die Dorothea Binner: „Wer bist du?“ – „Die Hella“, habe ich gesagt. Und sie: „Ich bin die Dorothea.“ Aber das konnte ich ja sehen.

Auf dem Weg zum Krankenhaus sah sich Hella Rauch im Rückspiegel: schwarz das Gesicht, überall Fetzen. Die 28 verletzten Kinder wurden ins Heilig-Geist-Krankenhaus gebracht und von dort aus verteilt. Die Schwerstverbrannten kamen ins Kinderkrankenhaus.

Ohren: Ihr habt alle Infusionen bekommen und seid intubiert worden, um eure Beatmung sicherzustellen. Das war ein Ausnahmezustand, keiner von uns ist nach Hause gegangen, wir haben alle hier geschlafen. Das war vom ersten Moment an eine unglaubliche Teamarbeit, die uns alle geprägt hat. Nur so hat’s funktioniert.

Es ist das erste Mal seit acht Jahren, dass sich Ohren und Rauch sehen. Damals ging Ohren in den Ruhestand, die Überlebenden von Volkhoven kamen zu seiner Verabschiedung ins Krankenhaus. Es wirkt, als stünden sie in regem Kontakt. Vertrautheit. Ohren wollte früher eigentlich Schauspieler werden. Doch dann merkte er, es muss irgendetwas mit Menschen sein, entdeckte den Helfer in sich. Als im Oktober 1963 die Chirurgie eröffnete, kam der 23-jährige Ohren als OP-Pfleger in die Amsterdamer Straße. Acht Monate vor Volkhoven.

Ohren: Damals gab es noch keine Station für Verbrennungsopfer, also mussten wir eine andere noträumen. Eltern und Großeltern wurden angerufen, die Kinder abgeholt oder auf andere Stationen verteilt. Wie das alles damals möglich war – es gab ja keine Handys – ist mir immer noch ein Rätsel. Die B4-Station war dann nur für die Volkhoven-Kinder. Wir hatten auch noch keine Klimaanlage. Und keine deutsche Firma war bereit, übers Wochenende eine zu bauen. Eine Schweizer Firma half schließlich. „In so einer Situation muss man helfen“, sagten die. Die Bundesbahn legte extra eine Strecke frei, die Jungs schliefen auf Matratzen im Gang und haben rund um die Uhr gewerkelt, um diese Klimaanlage zu installieren.

Ärzte, Schwestern, Pfleger kümmerten sich um die 13 schwerverletzen Kinder, ohne Pause. Spezielle Verbrennungsdecken wurden besorgt, auf denen die teils rundum verbrannten Kinder liegen konnten. „Das war heroisch, was die Kollegen damals geleistet haben“, sagt der heutige Oberarzt Eckhard Korsch. Höchsten Respekt, sagt er, zolle er jenen, die diese Aufgabe mit den damaligen technischen Möglichkeiten bewältigt haben.Ohren: In der Zeit waren ja auch die Klamotten anders. Die waren aus Nylon, das war das Verderb. Mit Baumwolle wäre vieles anders gelaufen. Dieses Material hat sich mit der Haut verbacken, also wirklich Kleid und Unterhemd und wirklich alles, was sie anhatten, klebte ineinander. Das musste in akribischer Kleinstarbeit abgetragen werden – das war auch keine Haut mehr, das war nur noch Gewebe, wenn man das so bezeichnen kann. Ich sehe das alles noch vor mir.

Rauch: Die haben mir immer diese Tupfer aufgelegt, 24 Stunden blieben die drauf, dann wurden die nass gemacht und abgerissen. Schlimm war das.

Ohren: Bei Hella war es nun ganz extrem, da war alles verbrannt. Eine ganze Bundeswehrkompanie hat ihr Haut gespendet. Briefmarkengroße Hautstücke. Das muss man sich mal vorstellen: Diese Männer laufen heute alle mit einer briefmarkengroßen Narbe am Hintern herum. Und die Transplantationen waren kompliziert: Mosaikartig wurden die Hautteile auf den Brustkorb gelegt, das hat ewig gedauert. Nach Wochen bildete sich durch die Fremdhaut ein Film, zum Glück … Der Beitrag dieser Männer ist unvorstellbar, die haben der Hella … ja …Rauch: Ich weiß.

Peter Ohren ist leiser geworden, nachdenklich. Seine Augen sind feucht. Überwältigung, Glück, Trauer, alles vermischt sich. Die Nachricht vom Attentat verbreitete sich damals in der ganzen Welt. Am 11. Juli 1964 schrieb die Tageszeitung „Freiheit“: Der Überfall eines Wahnwitzigen auf eine Schule mit einem selbst gebauten Flammenwerfer forderte gestern das zehnte Todesopfer. Einen Monat vor ihrem zehnten Geburtstag erlag die Schülerin Ingeborg Hahn ihren schweren Brandverletzungen. Nach Auskunft der Ärzte schweben neun Kinder noch immer in Lebensgefahr.

Ohren: Ja, die Ingeborg Hahn habe ich auch noch sterbend erlebt. Das war die Zeit, als einige der Kinder starben, das habt ihr ja zum Glück nicht so mitbekommen. Das war etwas ganz Furchtbares. Abschied. Kinder, die man vorher nicht gekannt hat, die einem plötzlich so nah sind. Das mag sich jetzt bekloppt anhören, aber das war teilweise ein engelgleicher Abschied. Entschuldigen Sie bitte … Und man ging nach Hause und konnte das ja nicht abstreifen. Ich wurde ein Eremit, konnte mich nur noch darauf konzentrieren. Rauch: Wir Kinder bekamen gar nichts davon mit, weil wir in Einzelzimmern lagen. Ich weiß gar nicht, wie schwer die anderen Kinder verbrannt waren. Ohren: Auch die Eltern durften anfangs nicht kommen. Rauch: Nur einmal pro Woche für eine halbe Stunde auf den Balkon. Immer donnerstags. Meine Mutter war an Weihnachten zum ersten Mal an meinem Bett. Ohren: Das war ja für uns eine wahnsinnig neue Erfahrung, und die Gefahr der Infektion war sehr groß. Die Kinder waren durch die offenen Brandwunden so sensibel – jeder kleinste Windhauch hätte eine Katastrophe ausgelöst. Daher war das, glaube ich, eine gute Entscheidung. Auch wenn das für euch grausam war.

Psychologische Betreuung gab es damals nicht. Den Job übernahmen die Pfleger wie Peter Ohren oder die Schwestern Agathe und Helene, die Ohren immer wieder erwähnt. Für die damals jungen Erwachsenen galt es, das Trauma der Kinder zu mildern, die Psyche stabil zu halten, zumindest einigermaßen. Manche hatten Angst, dass er wiederkommt, der Attentäter, der sich nach der Tat mit dem Pflanzengift E605 vergiftet hatte. „Ist der noch da?“, hätten sie gefragt. Rauch sagt, sie habe nie von dem Attentat geträumt. Die 60-Jährige ist stark. „Rustikal“, sagt Ohren dazu. Drei Kinder hat sie großgezogen, vier Enkel haben diese ihr geschenkt. „Klar gibt es Dinge, die ich nicht so kann wie andere. Aber mit den Händen geht eigentlich alles“, sagt sie. Und der Husten, der kommt vom Rauchen, nicht von den Verbrennungen.

Ohren: In der Zeit, in der ihr hier wart, war ich der Vorleser …Rauch: … und der Nikolaus und der St. Martin. Und er hatte eine Gitarre. Ohren: Ich bin von Bett zu Bett gezogen und habe mich mit den Kindern unterhalten. Aber die Schwestern machten genau das Gleiche. Und ich muss schon sagen, so schlimm das damals war, so schrecklich verbrannt ihr wart, es war die anstrengendste, aber die dollste Zeit in meiner Wirkungszeit im Kinderkrankenhaus. Ihr habt mich an das Haus gefesselt. Rauch: Irgendwann war es wie ein Zuhause. An Weihnachten haben sie mir einen eigenen Tannenbaum hingestellt.

Nach und nach durften die Kinder nach Hause gehen. Nur Hella Rauch blieb, sie schwebte am längsten in Lebensgefahr: acht Monate. Nach zehn Monaten durfte sie sich zum ersten Mal auf die Bettkante setzen, „furchtbar war das“. Und nach 13 Monaten, im Juli 1965, als gerade die letzte Wunde am Rücken geschlossen war, durfte sie als letztes Kind die Kinderklinik verlassen. Dreißig Jahre später trafen sich die Überlebenden und die Helfer wieder, „auf der Neusser Straße“, sagt Hella Rauch. Ein schöner Abend sei das gewesen. Peter Ohren nickt. Die Träne, die ihm über die Wange kullert, wischt er sich mit einem Stofftaschentuch weg, ganz schnell, damit es keiner sieht.