„So geht das nicht weiter“Tafeln schlagen wegen steigender Armut im Rheinland Alarm
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„Die Tafeln“ sind eine gemeinnützige Organisation, die Lebensmittel an Hilfsbedürftige verteilt
Steigende Preise fordern die Helfenden doppelt heraus
Es gibt gleichzeitig mehr Interessenten und weniger überschüssige Lebensmittel
Bergisch Gladbach – Anastasia hat einen Schokohasen ergattert. Die Dreijährige präsentiert ihn stolz und strahlt. Schokolade gibt es gerade reichlich bei der Ausgabe der Tafel Bergisch Gladbach. Es sind die teuren Marken-Hasen, die Reste von Ostern, im Supermarkt liegengeblieben. Nicht-Schokoladiges dagegen ist knapp. Die Kunden stehen draußen in langen Schlangen, der Andrang ist riesig, er wächst seit Kriegsbeginn in der Ukraine stetig.
Der Bundesverband Tafel Deutschland schlug daher vor einigen Tagen Alarm. Die Lage sei angespannt wie nie, da immer mehr Menschen zu den Ausgabestellen kämen, gleichzeitig aber immer weniger Lebensmittel- und Geldspenden eingingen. Wolfgang Weilerswist, Vorsitzender der Tafel NRW, bestätigt das für den größten der Landesverbände: 172 Tafeln mit mehr als 500 Ausgabestellen und rund 12.600 ehrenamtliche Helferinnen und Helfern gehören ihm an, „und alle haben Riesenprobleme“.
Flüchtlinge, steigende Preise, weniger Spenden
Das liegt an den Flüchtlingen aus der Ukraine, die zwar Sozialleistungen erhalten, davon aber genauso wenig wirklich leben können wie die hiesigen Hartz-IV-Empfänger. Das liegt an den steigenden Preisen, in den Supermärkten, an den Tankstellen, bei Gas und Strom, die dafür sorgen, dass noch mehr Menschen mit ihrem wenigen Geld nicht auskommen.
Und das liegt am Rückgang von Spenden: Die Tafeln erhalten weniger Lebensmittel, weil immer mehr Supermärkte Produkte, die bald das Verfallsdatum erreichen, selbst günstiger anbieten. Auch die Geldspenden werden weniger, vor allem die vielen kleinen, weil immer mehr Haushalte nichts mehr übrig haben.
Obst, Gemüse, Brot, Joghurt - ein guter Tag
Swieta, die Mutter von Anastasia, ist mit ihrer Tochter und ihrem sechs Jahre alten Sohn Ivan aus Charkiw geflohen. An diesem Tag kommen sie zum zweiten Mal zur Ausgabestelle in Bensberg. Andere Ukrainer in ihrer Container-Unterkunft hätten von der Tafel erzählt, sagt Swieta: „Das hilft uns sehr.“ Sie verstaut Obst, Gemüse, Brot, Joghurts und einiges mehr im Buggy und in einer Einkaufstasche. Es ist ein guter Tag. Swieta war der ersten Ausgabe-Gruppe zugeteilt und die Regale waren noch voll.
Vor dem Krieg seien rund 50 Bedarfsgemeinschaften, so die bürokratische Bezeichnung für angemeldete Kunden mit ihren Kindern und Partnern, für die Donnerstags-Ausgabe in Bensberg gemeldet gewesen, erzählt Markus Kerckhoff. Inzwischen sind es 120, Tendenz steigend. Der Apotheker aus Bensberg hat die Tafel Bergisch Gladbach vor 15 Jahren mitgegründet und gehört dem Vorstand an.
Warum er sich, obwohl noch voll berufstätig, engagiert? Weil er am 11. September 2001 in New York die Türme einstürzen sah und dachte: „Was für eine scheiß Welt.“ Und als nächstes: „Du kannst nur versuchen, die Differenzen kleiner zu machen.“
Leben als alleinerziehende Mutter kann sehr erbärmlich sein
Wolfgang Weilerswist, Landeschef, Vorsitzender der Tafel Mechernich und Vorstandsmitglied im Bundesverband, war Offizier bei der Luftwaffe und ging früh in Rente. Von seiner Pension könne man sehr gut leben, sagt er: „Ich habe so viel Glück gehabt, jetzt kann ich etwas zurückgeben.“ So erklärt er sein Engagement für die Tafel. „Es verhungert zwar niemand in Deutschland, aber das Leben als alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern kann sehr erbärmlich sein.“ Weilerswist findet: „Man muss sich schämen, dass ein so reiches Land wie Deutschland es nötig hat, Tafeln zu haben.“
Der Staat verlässt sich auf die Tafeln. Zu Beginn der Corona-Krise gab es vom Sozialministerium des Bundes mal 5000 Euro für jede Tafel, damit diese in Sachen Infektionsschutz umrüsten konnten. Sie hätten sonst schließen müssen. Die Tafel NRW hat eine Kooperation mit dem Ministerium für Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz des Landes, das gab 900.000 Euro für den Aufbau von sechs Verteilzentren, darunter ein Tiefkühl-Zentrum in Köln.
Dort können Großspenden angenommen und an mehrere Tafeln verteilt werden, die das jede für sich genommen nicht bewältigen könnten. Ansonsten kommt nicht viel Hilfe vom Staat. Die Tafeln sind gemeinnützige Vereine und leben von Spenden und dem ehrenamtlichen Einsatz der Mitarbeiter, die in aller Regel Rentner sind.
Staat stehle sich aus der Verantwortung
Dass die Behörden nun geflüchtete Ukrainer ganz selbstverständlich zu den Tafeln schicken, ärgert Weilerswist. „Das nenne ich: Man stiehlt sich aus der Verantwortung“, sagt er. Aktuell erreichten ihn täglich Nachrichten von Tafeln, die keine weiteren Kunden annehmen können oder gar kurz vor der Schließung stehen. Es sei daher Zeit für eine staatliche Grundförderung: „So geht es nicht weiter, das hält die Tafel-Landschaft nicht aus.“
In Bergisch Gladbach ist die Not noch nicht ganz so groß. Über einen Rückgang an Lebensmittelspenden könne er nicht klagen, sagt Kerckhoff. Und ein Plan, um den steigenden Bedarf künftig decken zu können, ist bereits geschmiedet: Die Tafel will das Berliner „Kauf zwei gib eins“-Konzept in der Bergisch Gladbacher Einkaufswelt etablieren. Die Idee: Kaufe zwei Packungen Mehl, Nudeln oder was du möchtest, und lege eine als Spende hinter der Kasse in einen Einkaufswagen der Tafel.
Unterlagen werden geprüft
An der Ausgabe in Bensberg steht Martin und wartet. Er gehört diesmal der zweiten Gruppe an. Wer Lebensmittelspenden von der Tafel erhalten will, muss bei der Anmeldung mit einem Hartz-IV-Leistungsbescheid, einer Gehaltsbescheinigung oder dem letzten Rentenbescheid seinen Bedarf nachweisen. Dann gibt es eine Kundenkarte, die bei jeder Ausgabe zusammen mit einem Ausweis vorgezeigt werden muss. In Bergisch Gladbach bezahlt jeder Kunde zudem zwei Euro pro Ausgabe, damit werden die festen Kosten etwa für Mieten, Fahrzeuge oder Abfallentsorgung bezahlt.
Damit die Ausgabe nicht ins totale Chaos abgleitet, sind die Kunden in Bensberg in drei Gruppen eingeteilt. Für jede ist eine Ausgabezeit von 40 Minuten vorgesehen, die Positionen rotieren. Wenn er der dritten Gruppe zugeteilt ist, komme er gar nicht mehr, sagt Martin, denn dann seien die Regale inzwischen fast leer. „Letzte Woche hatten wir am Ende nur noch Brot“, bestätigt Eddi Stoffel. Bei der Tafel duzt man sich. Eddi ist 76 Jahre alt, ehemaliger Außendienstler und einer der umtriebigsten Spendeneintreiber. Knapp 500.000 Euro habe er in den vergangenen elf Jahren für die Tafel Bergisch Gladbach und das Heilpädagogische Kinderheim Bensberg gesammelt, erzählt er.
Wer arm ist, schämt sich
Martin hat 200.000 Euro verloren. Dazu seine Firma und seine Kraft. „Betrug“, sagt der Versicherungskaufmann, „ich habe nicht aufgepasst und gutgläubig einen Vertrag unterschrieben“. Das war vor anderthalb Jahren, seitdem kommt er zur Tafel. Dass nun auch die vielen Flüchtlinge aus der Ukraine versorgt werden, findet er gut. Dass dadurch die Rivalität unter den Kunden steigt, gefällt ihm weniger. Am schlimmsten aber sei die Armut, die von der Politik zu oft vergessen werde.
„Es kann ganz schnell gehen“, sagt Martin. Er möchte seinen Nachnamen nicht nennen und nicht fotografiert werden: „Es ist peinlich, ganz unten zu landen.“