Ungewöhlicher StrafprozessKölner Aktivist streitet für obdachlose Frauen vor Gericht
Köln – Einen Prozess wie diesen erlebt das Amtsgericht nicht alle Tage. Richter und Ankläger suchen nach immer neuen Gelegenheiten, ein aus ihrer Sicht unerwünschtes Verfahren möglichst geräuschlos zu beenden – während der Angeklagte alles tut, damit weiter verhandelt wird. Selbst das Angebot des Richters, das Verfahren gegen Zahlung eines sehr geringen Geldbetrags einzustellen, wird vom Beschuldigten abgelehnt.
Rainer Kippe, Rentner und Streiter bei der Sozialistischen Selbsthilfe Mülheim für die Rechte von Obdachlosen, will über das Versagen von Stadt und Bund beim Umgang mit Wohnungsleerstand sprechen. Er wirft der Stadt die „schwerwiegende Verletzung von Grundrechten“ von obdachlosen Menschen vor, außerdem die Gefährdung von Hilfebedürftigen, weil diese in Notschlafstellen untergebracht würden, tatsächlich aber rund um die Uhr ein Dach über dem Kopf brauchen.
Ausführlich berichtet Kippe von seinem Bemühen, kranken Seniorinnen zu einer dauerhaften Unterbringung zu verhelfen, und von einer Stadtverwaltung, die über Monate nicht reagiere, vertröste und versage.
Rainer Kippe erhält Applaus im Kölner Gerichtssaal
Kippe hat im vergangenen Jahr mit älteren, obdachlosen Frauen leerstehende Häuser der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (Bima) in Ossendorf besetzt. Er verstehe sein Handeln als Versuch, einen menschenverachtenden und ordnungswidrigen Zustand zu beenden. „Dafür verdienen wir Lob und nicht Strafe.“ Das zahlreich erschienene Publikum im Zuschauerraum applaudiert.
Richter Daniel Menzel soll hier Dinge verhandeln, die gar nicht angeklagt sind. Kippe hat Stadt und Bima vorgeworfen, die Justiz „als Büttel zum Aufrechterhalten rechtswidriger Zustände“ auszunutzen. Menzel, aber auch Staatsanwalt Ulf Willuhn versuchen alles, um diese Annahme zu widerlegen.
Staatsanwalt zeigt Verständnis
Die Motive, die zur Hausbesetzung in Ossendorf geführt hätten, seien „nachvollziehbar“, sagt Willuhn. „»Begrüßenswert« darf ich als Staatsanwalt ja nicht sagen.“ Anklagen müsse er, weil die Bima Strafantrag gestellt habe. „Wir wären froh, wenn wir uns darum nicht kümmern müssten.“
Zum kuriosen Höhepunkt dieses seltsamen Vormittags im Gerichtssaal wird folglich die Zeugenaussage eines hilflosen Bima-Vertreters, dem wenig auf Willuhns Frage einfällt, ob er denn nun – in Kenntnis der Sachlage – den Strafantrag wegen Hausfriedensbruch weiterhin für „erforderlich“ halte. Er sagt zu, dies nach Rücksprache mit seinen Chefs noch einmal prüfen zu wollen. Für so etwas brauche die Bima 14 Tage.
Stadt Köln verstoße „möglicherweise“ gegen geltendes Recht
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Kippes Verteidiger sagt, dass er sich gar nicht sicher sei, ob sie eine Rücknahme der Anzeige gut fänden. Rechtsanwalt Heinrich Comes hat eine anspruchsvolle, aber auch gewagte Position ausformuliert: Die Rechte eines Hauseigentümers seien niedriger zu bewerten als die Rechte der Obdachlosen und die Abwehr von akuten Gefahren. Durch den jahrelangen Leerstand von Häusern habe die Bima „das Recht mit Füßen getreten“. Die Hausbesetzung am 1. Mai 2019 sei rechtens gewesen.
Dieser Abwägung will die Staatsanwaltschaft nicht folgen. Es käme einem Freibrief gleich, das Recht selbst in die Hand nehmen zu dürfen, so Willuhn. Die Stadt verstoße „möglicherweise“ tatsächlich gegen geltendes Recht. Aber das erlaube nicht, sich selber ebenfalls rechtswidrig zu verhalten. Kippe hätte selbst ein rechtliches Verfahren einleiten müssen, anstatt die Häuser zu besetzen.
Kippe glaubt, dass dies keinen Sinn gehabt hätte. Solche Verfahren dauerten zu lange, und außerdem würde die Stadt lügen, indem sie bewohnbare Häuser für unbewohnbar erkläre. Wegen der akuten Notlage und nach monatelanger Untätigkeit der Stadt sei ihm und seinen Mitstreitern nichts anderes übrig geblieben, als die Häuser zu besetzen.
Kölner Gericht sieht sich nicht in der Lage, Urteil zu sprechen
Nach zweieinhalb Stunden Verhandlung sieht sich das Gericht nicht in der Lage, ein Urteil zu sprechen. Man vertagt sich auf den 18. März – vielleicht auch in der Hoffnung, dass die Bima ihre Anzeige doch noch zurückzieht.
Auf Anfrage des „Kölner Stadt-Anzeiger“ teilt die Bundesbehörde mit, dass zurzeit 46 Wohneinheiten in Köln, die ihr gehören, leer stehen. Die Häuser in Ossendorf, die besetzt wurden, sind bereits einen Monat vor der Besetzung an die Stadt verkauft worden. Zum laufenden Strafverfahren wolle man sich nicht äußern.