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Dramatische Flucht aus KönigsbergDrei Schwestern sprechen über ihre Erlebnisse

Lesezeit 4 Minuten

Helga Hoffmann (Mitte) mit , Mutter, Vater und ihren Schwestern während des Kriegs 1944

Rodenkirchen – Wenn sich die drei Schwestern Helga, Marianne und Ingrid zu einem runden Geburtstag treffen, ist das auch immer ein Anlass, auf ihre Familiengeschichte zurückzublicken – besonders auf die letzten Kriegswochen 1945.

Auf die dramatische Flucht aus dem ostpreußischen Königsberg, die dunklen Stunden im Frachtraum eines Kahns auf der eisigen Ostsee, die Blicke der Bewacher im dänischen Flüchtlingslager, das Misstrauen der Einheimischen, die Rückkehr des Vaters aus der Kriegsgefangenschaft, der Neuanfang im Harz und die Kraft ihrer Mutter Dora Lemke, die die drei Mädchen durchbrachte.

„Bis ein Uhr zusammen gesessen und geredet“

Nach dem Krieg verschlug es die jungen Frauen in alle Winde. Marianne, 85 Jahre alt, lebt in den USA, die älteste, Ingrid, 88 Jahre alt, in Schweden und Helga, heute Hoffmann mit Nachnamen, wohnt in Köln, wo sie in diesen Tagen ihren 80. Geburtstag feierte.

Während ihnen bis vor wenigen Jahren Beruf und Kinder kaum Zeit ließen für gegenseitige Besuche, sind sich die Schwestern inzwischen wieder näher gekommen. Den Geburtstag in Köln feierten sie denn auch gemeinsam. „Wir haben jeden Abend bis ein Uhr zusammen gesessen und geredet“, sagt Helga Hoffmann.

Sie sind Vertriebene und haben als Kinder die Folgen der mörderischen Expansionspolitik Hitlerdeutschlands zu spüren bekommen. Die Flucht zählen sie zu ihren einschneidenden Erlebnissen.

„Hier lebe ich. Und hier lebe ich gerne“

Die Frage nach ihrem Zuhause beantworten sie unterschiedlich. Marianne ist US-Amerikanerin, ihre Heimat ist Reno, Nevada. Ingrid, die älteste, ging als junge Frau nach Schweden und sieht sich heute als Schwedin. Helga ist Kölnerin: „Hier lebe ich. Und hier lebe ich gerne“, sagt sie.

Heute sehen sie sich regelmäßig: Die drei Schwestern feiern den Geburtstag von Helga Hoffmann in Köln.

Ihre Heimat allerdings sei Königsberg. Den Geburtsort der drei Schwestern hat sie inzwischen dreimal besucht. Bei einem der Besuche fasste sie sich ein Herz und ließ sich eines sonntagmorgens zum früheren Elternhaus bringen. Eine russische Ärztin und eine Rentnerin öffneten die Türe. Der Taxi-Fahrer übersetzte. „Ganz liebe Menschen. Das war so emotional“, sagt sie. Für ihre Schwestern filmte sie das Haus.

An den Tag, an dem sie es verlassen mussten, erinnert sie sich gut. Sie war sechs, ihre Schwestern 13 und 15 Jahre alt, ihr Bruder gerade einmal vier Monate. Er sollte die Flucht nicht überleben. Der Vater war als Soldat in Russland. Königsberg im März 1945 war eingeschlossen. Die russische Armee hatte es vom übrigen Reich abgetrennt.

Plan für Rückzug gab es nicht

Einen Plan für einen geordneten Rückzug des Militärs, für die Evakuierung der Zivilbevölkerung gab es nicht. Die Zivilverwaltung forderte schließlich per Megafon alle Bewohner auf, die Stadt zu verlassen. Hoffmann berichtet von der Hast: „Nur was wir auf dem Leibe trugen, konnten wir mitnehmen“, sagt sie.

Sie machten sich auf den Weg in den Hafen: das Meer vereist, nur wenige Schiffe vor Anker. Auf das völlig überfüllte und kurz darauf von russischen U-Booten versenkte Militärschiff „Wilhelm Gustloff“ stiegen sie nicht. „Auf diesen schwimmenden Sarg kriegt mich keiner“, erinnert sich Hoffmann an die Worte ihrer Mutter. Im Laderaum eines Frachtkahns fanden sie schließlich Platz.

Am nächsten Morgen legt das Schiff in Gotenhafen im heutigen Polen an. Mit einem Minensuchboot geht es weiter nach Dänemark. Die nächsten Jahre verbringen sie in einem Auffanglager. „Wir lebten hinter Stacheldraht, bewacht von Soldaten mit dem Gewehr im Anschlag. Die Dänen wollten uns nicht haben“, sagt Hoffmann. Sie schläft drei Jahre in einem Bett mit ihrer Mutter. Krankheiten grassieren. Das Sterben ist Alltag in den überfüllten Baracken.

Vater holte seine Familie zu sich

Im Lager wird Unterricht organisiert. Marianne nimmt Ballettstunden, tanzt im Tutu aus orange-weißem Krepppapier. Haarspangen fertigten sie aus einem Drahtbesen und jemand schnitzte Schuhsohlen aus Holz. Zum Geburtstag gab es dick geschlagene Magermilch auf Brot als Tortenersatz. „Es war okay für uns. Wir waren Kinder“, sagt Marianne mit amerikanischem Akzent. So lange nur ihre Mutter dabei war, habe sie sich sicher gefühlt. „Sie hat uns abgöttisch geliebt“, sagt ihre Schwester Helga.

1946 erreicht sie die Nachricht, dass der Vater der russischen Gefangenschaft entkommen ist. Doch erst 1948 kann er nachweisen, dass er für seine Familie sorgen kann. Er holt die Frauen zu sich in den Harz. Zu fünft in einer Zweizimmerwohnung verbringen sie die nächsten Jahre.

Danach gehen die Schwestern ihre eigenen Wege. Dass sie sich inzwischen regelmäßiger sehen, empfinden sie als großes Glück. Der nächste Termin steht fest: In zwei Jahren wird die älteste von ihnen 90. „Da freuen wir uns schon drauf“, sagt Helga Hoffmann.