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Serie

Kölnerin blickt zurück
„Der Tod meines Sohnes hat tiefe Sehnsucht geweckt“

Lesezeit 6 Minuten
Bernadette Rüggeberg zeigt ein großes Porträt ihres Sohnes, im Hintergrund blühende Hortensien

Bernadette Rüggebergs Sohn Tobias starb bei einem Busunfall in Ägypten.

Die Kölnerin Bernadette Rüggeberg erzählt von dem Moment, als sie vom Tod ihres Sohnes erfuhr. Und wie sich ihr Leben dadurch veränderte.

Als ihr Sohn Tobias starb, am 19. November 2010 gegen 22 Uhr, saßen Bernadette und Klaus Rüggeberg mit Freunden zusammen. „Ich habe an dem Abend von Tobias und seiner neunjährigen Tochter Laura erzählt, als mich plötzlich eine tiefe Traurigkeit überwältigt hat“, erinnert sich Bernadette Rüggeberg. Geahnt habe sie nichts. Und doch sei da plötzlich diese Traurigkeit gewesen, wie aus dem Nichts. Ein magischer Moment.

Sie ahnte sofort: „Es ist wahr.“ Und sagte: „Das kann nicht wahr sein.“

Tags darauf buk sie Plätzchen mit den Enkelkindern. Klaus wurde am frühen Abend zur Familie eines Mannes gerufen, der sich selbst getötet hatte. Klaus Rüggeberg arbeitete als Notfallseelsorger und hatte Bereitschaftsdienst. Die Kinder hatten den Eltern Karten fürs Kabarett geschenkt, Dieter Nuhr in der Lanxess-Arena, Bernadette Rüggeberg ging allein hin. Am späten Abend sahen sie sich nur noch kurz.

Um 3 Uhr in der Frühe läutete es an der Haustür. Es war ihre jüngste Tochter Lea mit ihrem Freund. Schlaftrunken habe sie gedacht, die zwei seien auf einer Party in Köln gewesen und hätten den Schlüssel vergessen, erinnert sich Bernadette Rüggeberg. Aber Lea war aufgelöst. Sie bat ihre Eltern, sich zu setzen, bevor es aus ihr herausbrach: „Es ist etwas Schreckliches passiert, Tobias ist tot. Er ist in Ägypten auf dem Rückweg von den Pyramiden bei einem Busunglück ums Leben gekommen.“ Die Mutter ahnte sofort: „Es ist wahr.“ Und sagte: „Das kann nicht wahr sein.“ Die Welt, die sie bis dahin kannte, gab es seit diesem Moment nicht mehr. Das Leben stand still. Die Zukunft? Uninteressant. Alles war jetzt Vergangenheit.

Porträt von Bernadette Rüggeberg, im Hintergrund ein Foto ihres Sohnes

Bernadette Rüggeberg ist heute 69. Ihr Sohn starb vor knapp 14 Jahren.

Bernadette Rüggeberg sitzt im Haus der Familie im Stadtteil Höhenhaus, im Garten blühen die Hortensien in leuchtenden Pastellfarben. An der Wand zwischen Wohnraum und Küche hängt ein großes Bild der vier Kinder Lea, Esther, Laura und Tobias. Tobias war das älteste der Kinder, selbstbewusst und zuversichtlich schaut er in die Kamera. „Tobias hat gern und viel gefeiert. Er hat das Leben gefeiert, und wie“, sagt seine Mutter. Wild sei er als Jugendlicher gewesen, „viele Flausen im Kopf“. Mit 20 wurde er Vater, da hatte die Mutter ihr Thema – sie arbeitete für die Schwangerenkonfliktberatungsstelle „Donum Vitae“.

Nie zuvor, erinnert sich die Mutter an diesem Hochsommertag, habe Tobias Pauschalurlaub gemacht. „Er war mit dem Rucksack und für die Arbeit von Sibirien bis Honolulu gereist. Jetzt war er durch die Arbeit für eine Personalabteilung so angestrengt, dass er sich mit seiner Freundin eine Pauschalreise nach Ägypten gönnte.“

Auf der Rückfahrt von den Pyramiden von Gizeh nach Hurghada fuhr der Reisebus Wettrennen, so erzählte es die Freundin später. Der Bus von Tobias und seiner Freundin kam in einer Kurve von der Fahrbahn ab und überschlug sich. Mindestens acht Menschen starben, darunter Tobias Rüggeberg. Seine Freundin schleuderte aus dem offenen Dach und kam mit leichten Verletzungen davon.

Zuerst habe sie ihre Trauer weder gespürt noch zugelassen, sagt Bernadette Rüggeberg. „Da war ja Laura, Tobias' neunjährige Tochter: Meine einzige Sorge war, wie Laura groß werden sollte.“ Die Rüggebergs nahmen Laura für kurze Zeit zu sich. Dazu Lauras beste Freundin. Die drei Töchter kamen mit ihren Männern in das Haus der Familie in Höhenhaus. Die älteste Tochter mit ihrer gerade geborenen Tochter aus Kanada. „Wir waren in den Wochen nach Tobias' Tod so eng verbunden wie nie zuvor.“

Der Trost in der Ohnmacht: Viele Menschen standen der Familie zur Seite. Kamen mit Essen, Briefen, Blumen, Umarmungen, mit Zeit. Es schneite, so früh wie nie im Jahr. Der Schnee verlangsamte die Welt. „Auch der Schnee hat uns getröstet.“

Die Beerdigung war unendlich traurig und ein großes Fest des Lebens
Bernadette Rüggeberg

Auch am Tag der Beerdigung schneite es. Freunde und Bekannte erzählten Anekdoten aus Tobias' Leben, der versucht hatte, jedem Menschen ohne Vorurteil zu begegnen, offen war und neugierig, gewitzt, charismatisch und optimistisch, durstig nach Erfahrungen und Begegnungen. „Es war unendlich traurig und ein großes Fest des Lebens“, erinnert sich die Mutter. Das Grab spendete ihr in der Folge Trost. Oft setzte sie sich auf den Randstein des Grabs gegenüber, verharrte und vergaß die Zeit. Sie habe dort intensiv gespürt, was sie schon im Moment der Nachricht von Tobias' Tod gespürt habe: „Tobias geht es gut.“

Auf die Trauerfeier folgte die Leere. Sie habe sich gefühlt „wie im Exil“, sagt die heute 69-Jährige. „Man gehört nicht mehr zur Realität. Meine Gedanken waren bei Tobias und nicht bei der Welt.“ Um nicht ins Bodenlose zu fallen, habe sie nach 14 Tagen wieder gearbeitet – mit dem Gedächtnis einer Traumatisierten. „Ich musste mir alles aufschreiben, konnte nichts behalten.“

Ein Notfallseelsorger half bei der Trauer

Ein Notfallseelsorger half bei der Trauer. 500 Kondolenzbriefe halfen. Musik. Konzerte in der Philharmonie. Spaziergänge im Wald, die den Gedanken verfestigten: „Kein Wassertropfen und kein Blatt, keine Energie geht je verloren. Alles ist ein großer Kreislauf.“ Joggen dagegen: ging nicht, keine Kraft. Singen im Chor: unmöglich. Der Glaube an Gott: nicht spürbar. Bernadette Rüggeberg ist katholisch erzogen worden, Kirchgänge und Gebete gehörten zu ihrem Alltag. „Aber die Verbindung zu Gott war gekappt.“

Die rührenden Kondolenzbriefe brachten Bernadette Rüggeberg auf die Idee, dem Herder-Verlag ein Buch mit Auszügen aus den Briefen zu schicken. Der Verlag fand die Idee gut, wollte aber die ganze Trauergeschichte der Familie. In dem Buch „Plötzlich tot – Als Familie weiterleben“ beschreiben Bernadette und Klaus Rüggeberg, die Töchter Rebecca, Esther und Lea sowie Tobias' Tochter Laura ihren Umgang mit dem Tod des Sohnes, Bruders, Vaters. Immer samstags habe sie an dem Buch gearbeitet, über zwölf Monate hinweg, sagt sie. „All die Erinnerungen, Gespräche und Geschichten waren unglaublich tröstlich.“

Porträt von Tobias Rüggeberg, abf

Tobias Rüggeberg starb im Jahr 2010 im Alter von 30 Jahren.

Sie könne nicht – wie es von Steve Jobs überliefert ist – sagen, der Tod sei die beste Erfindung des Lebens oder – wie Bonhoeffer –, auf dem Weg zur Freiheit sei der Tod das größte Fest, sagt Rüggeberg. Aber sie habe erfahren, dass sie den Verlust ihres Sohnes überleben kann. Dass Projekte helfen und Geschichten. Freunde und die wunderbare Familie mit inzwischen elf Enkelkindern. Gespräche. Schreiben.

Die Natur mit ihrer Energie, die nie verloren geht. Das Grab, das Gedanken weckt, an Tobias und ans Leben: Für wen lebe ich? Was ist mir wichtig? Lebe ich so, dass ich zu meinem Leben „Ja“ sagen kann? Sie gehe nicht mehr so oft an sein Grab, sagt Bernadette Rüggeberg. „Aber es ist für mich weiter ein sehr wichtiger Ort. Es beruhigt mich.“

Der Tod ihres Sohnes habe ihrem Leben „eine neue Tiefe geschenkt“, sagt Bernadette Rüggeberg. „Er hat eine tiefe Sehnsucht geweckt, die meine Wahrnehmung verändert. Die mich sensibler macht für das Geschenk des Lebens.“ Am Tag dieses Gesprächs feiert Tobias Rüggebergs Tochter Laura ihren 23. Geburtstag. Die Familie feiert zusammen. Mit einer Tobias-Kerze, die die Enkelkinder jedes Jahr neu schmücken.