Köln – Seitdem Filmproduzent Harvey Weinstein, Oscar-Preisträger Kevin Spacey und andere berühmte Männer aus dem Filmgeschäft in die Schlagzeilen geraten sind, vergeht kaum ein Tag, an dem in den Medien nicht über sexuelle Übergriffe berichtet wird. Dass in den vergangenen Wochen viele Frauen – auch unter dem Hashtag #metoo (ich auch) – ihre Erfahrungen öffentlich gemacht haben, erweckt den Anschein, als sei es quasi über Nacht ganz leicht geworden, über diese Dinge zu reden. Das jedoch ist ein Trugschluss, wie mein Gespräch mit einer jungen Frau zeigt, die mir in Lindenthal über den Weg läuft.
Marie möchte über das sprechen, was ihr widerfahren ist, aber sie möchte weder ihren Nachnamen öffentlich machen noch als Person erkennbar sein. Wir einigen uns deshalb auf ein Foto, das anstelle ihres Gesichts den Aufkleber zeigt, den sie selber gestaltet hat – übrigens schon lange bevor die Anzeigenwelle in Hollywood ins Rollen kam. Sie sei 22 und Studentin, erzählt mir Marie, bevor sie schildert, was ihr vor vier Jahren passiert ist.
Er hat seine Hand in ihrer Hose
Sie kommt von einem 18. Geburtstag einer Freundin. Es ist spät, sehr spät geworden, sie hat getrunken, deshalb nickt sie frühmorgens auf dem Heimweg in der Linie 18 ein. Marie ist nicht allein. Ein guter Freund von ihr sitzt neben ihr in der hintersten Reihe der Bahn ein wenig schräg ans Fenster gelehnt und schläft ebenfalls. Als sie wach wird, ist ihr schlecht. Dann erstarrt sie. Auf dem dritten Platz in der Reihe sitzt jetzt ein Mann, und er hat seine Hand in ihrer Hose. „Ich war orientierungslos, verwirrt, erschrocken und hatte große Angst.“
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Sie habe zu ihrem Begleiter herübergeschaut, der noch immer schlief und dann versucht, die Hand des Mannes wegzuziehen. Aber der habe das nicht zugelassen, sondern ihr bloß „wohlwollend“ zugelächelt. Zu diesem Zeitpunkt sei es bereits hell gewesen, und vereinzelt hätten Menschen auf ihrem Weg zur Arbeit in der Bahn gesessen. „Die haben mich gesehen, aber niemand ist aufgestanden und hat mir geholfen.“ Und sie selber habe kein Wort herausbekommen.
Ihr Begleiter hat nichts gemerkt
Ich versuche, mir die Situation vorzustellen und frage, wie der Mann überhaupt mit seiner Hand... „Hatten Sie einen Rock an?“ Marie schüttelt den Kopf. Es sei ja Sommer gewesen, und sie habe eine kurze Hose getragen, die etwa bis zur Mitte ihrer Oberschenkel reichte. „Fatalerweise hatte die Hose oben nur einen Gummizug.“ Ich verstehe. Schließlich habe sie ihren Freund mit dem Ellbogen angestubst. „Der hatte nichts bemerkt und konnte kaum den Kopf heben, weil er sehr betrunken war, aber er wurde wach.“ Das habe ihr geholfen, denn da habe der Mann seine Hand weggezogen und auf ihren Oberschenkel gelegt, wo sie sie habe wegschieben können. Sie seien dann ausgestiegen und gegangen. „Und Sie haben nichts gesagt?“, frage ich.
Marie nickt und berichtet mir dann von ihrer psychischen Angststörung, die sich durch dieses Erlebnis entwickelt habe. Dazu gehörte, dass sie das Geschehene zunächst weggeschoben und total verdrängt habe. Erst vier Jahre später habe sie die Erinnerung wieder eingeholt, und sie habe „den Grund meiner tief sitzenden Ängste“ erkennen können.
Verdrängung ist nicht untypisch
Ich frage die 22-Jährige, was diese Erinnerung ihrer Ansicht nach freigeschaltet habe. Sie habe im Juni eine Vorlesung über unterlassene Hilfeleistung gehört. Diese habe das Gefühl hervorgerufen: „Das kenne ich doch auch!“ Später habe sie erfahren, dass es gar nicht so untypisch sei, und dass verdrängte Erlebnisse oft erst dann hochkommen, wenn es einem wieder ganz gut gehe.
„Vielleicht gibt es so eine Art Schutzmechanismus der Seele“, sage ich. Marie lächelt. „Ja, so ähnlich hat das meine Therapeutin auch genannt.“ Ich frage die junge Frau, inwieweit sie das Bild des Mannes, der sie da so „wohlwollend“ angelächelt habe, weiter mit sich herumtrage. Ja, sagt sie, das tue sie, und sie habe auch überlegt, zur Polizei zu gehen. Andererseits könne sie nicht mit Bestimmtheit sagen, ob sie ihrer Erinnerung trauen könne. „Und ich möchte keinen falsch beschuldigen.“
Mann habe sehr zivilisiert gewirkt
Woran sie sich wohl erinnern könne, dass der Mann, ihrer Einschätzung nach Deutscher, „sehr zivilisiert gewirkt“ habe. Niemand, bei dem man denke: „Der könnte mir gefährlich werden.“ Ich zeige auf das Päckchen mit Stickern, die Marie, wie sie sagt, seit Monaten immer bei sich hat; „nicht, um sie irgendwohin zu kleben, sondern um sie zu verschenken“. „Was hat Sie bewogen, die Flucht nach vorn anzutreten und einen Blog zu starten?“
Wenn man in eine solche Situation gerate, erklärt Marie, könne man nicht „logisch“ reagieren. Man sei handlungsunfähig, wie paralysiert. Deshalb seien Betroffene sexualisierter Gewalt unbedingt auf die Hilfe von Außenstehenden angewiesen. Sie habe sich viele Vorwürfe gemacht, nicht besser auf sich aufgepasst zu haben. Aber sie wisse auch, dass „selbst dann, wenn ich nackt gewesen wäre, niemand das Recht gehabt hätte, mich anzufassen“. Insofern treffe sie keine Schuld.
„Ich wünsche mir, dass wir einander helfen“
Was sie sich als Konsequenz aus dem Erlebten wünscht, ist, dass man in dieser Stadt aufeinander achtet. Dass wir hinsehen und gegebenenfalls aufstehen und dafür sorgen, dass das, was ihr dieser Mann angetan hat, nicht passieren kann. „Ich wünsche mir von den Kölnerinnen und Kölnern, dass sie, wann immer Sie können, einander helfen. Nicht nur in solchen extremen Situationen, sondern auch bei dem leider alltäglichen verbalen »Anmachen« und Belästigungen jeglicher Art.“
Wie reagieren Menschen – was erzählen sie, wenn man sie auf der Straße anspricht und zu einem Kaffee einlädt? Das beschreibt unsere Autorin Susanne Hengesbach in der Serie „Zwei Kaffee, bitte!”, die immer dienstags in unserer gedruckten Ausgabe und im E-Paper erscheint.