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SterbenskrankAli nimmt Abschied von Köln, ihrem „einzigen, echten Zuhause”

Lesezeit 14 Minuten
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Runa-Maria Struve, von ihren Freunden Ali genannt, hat Krebs im Endstadium. Ein letzte Mal möchte sie nach Köln.

Köln – Die Schmerzen gehen vorbei, hatten die Leute ihr gesagt, aber das war falsch. „Es gibt keine Wunden, die richtig verheilen“, sagt Ali, „es bleibt immer etwas zurück.” Die Schmerzen des Körpers sind nicht verschwunden, im Unterleib wuchert ein Krebsgeschwür, Bestrahlungen hat sie stets abgelehnt, die Beine schmerzen von den vielen Stürzen und Operationen, sie braucht immer mehr Morphium und Psychopharmaka, auf dem Nachttisch steht ein Fläschchen mit dem Angstlöser Diazepam neben der Heiligen Maria, an der Wand vor dem Bett lehnt ihr Sarg, luftdicht in Plastikfolie und Paketpapier verpackt, aus Hartkarton. „Es sollte kein Baum für mich sterben.“

Die anderen Schmerzen trägt sie ohnehin mit sich: den mit 46 Jahren gestorbenen Sohn, der psychisch krank war, die Tochter, mit der sie nicht mehr spricht, seit es nur noch um ihr Geld gegangen sei, die falschen Ehemänner, die Erzeuger, die sie nach der Geburt weggaben, das Misstrauen gegen die Welt, in der sie so gern lebt. Drei, höchstens vier Monate gab ihr der Onkologe der Bonner Uni-Klinik, als sie beharrlich fragte, wie viel Zeit sie noch habe. Bald ein Jahr ist das her.

Frieden machen mit der Welt

An einem kalten, hellen Wintertag will Runa-Maria Struve, für Freunde nur Ali, weil sie Alrune heißen sollte, aber nicht durfte – im Winter 1937 habe das nicht arisch genug geklungen – Frieden machen mit der Welt, die ihr so oft die kalte Schulter zeigte.

Sie will sich verabschieden von ihren Sehnsuchtsorten: der Wohnung ihrer Pflegeeltern in Neuehrenfeld, „meinem einzigen echten Zuhause“, vom Rhein, an dem sie Ruhe suchte, vom Dom, in dem sie eine Kerze anzündete, wenn sie wieder etwas angestellt hatte. „Hier im Westerwald habe ich nur ein Dach über dem Kopf“, sagt sie. In Köln hat sie zuletzt vor mehr als 30 Jahren gelebt.

Die 79-Jährige sitzt in ihrer Sozialwohnung in Wirges bei Montabaur, umgeben von schwerer Eiche und unberührten Puppen, 270 hat sie gesammelt, „weil ich als Mädchen nie eine hatte“. Sie stellt den CD-Player an, es ertönt Mary Roos’ Version von Frank Sinatras „My Way“, „So leb’ dein Leben“, die Bilanz einer auf Sand gebauten Existenz. Ali singt mit und weint, es ist alles viel zu viel heute.

Es war oft zu viel. Vielleicht ist es zu viel, dass die Reporter heute hier sind, es war ihr Wunsch, sie hatte dem „Kölner Stadt-Anzeiger“, ihrer „Lieblingszeitung“ einen Brief und ein Gedicht geschrieben, so gern würde sie noch einmal nach Köln zurückzukehren. Die Redaktion hatte überlegt und sich dafür entschieden, auch wenn klar war: es ist grenzwertig.

Nicht nur, weil Struve Rollator und Rollstuhl verweigert, sich auf Krücken nur noch sehr langsam bewegen kann, pflegebedürftig ist und stärkste Schmerzmittel braucht. Auch, weil sie mit Unbekannten einen für sie sehr wichtigen Tag verbringt und danach wieder allein ist. Die Reporter tauchen für kurze Zeit tief in ein Leben ein, werden zu Verbündeten, und sind wieder weg.

„Wenn ihr glaubt, dass die Leute so eine alte, kranke Schachtel sehen wollen, na gut”

„Es wäre schön, wenn es möglich wäre“, hatte sie am Telefon gesagt – aber nur, wenn sie den Ablauf diktiere. Ihr „lieber Freund Peterle“ müsse mitkommen, der für sie einkauft und nach dem Rechten schaut. Aus keinem ihrer Gedichte dürfe zitiert werden. Keine Fotos. „Ich entscheide jeden Schritt.“ Fotos sind dann doch ok, „wenn ihr glaubt, dass die Leute so eine alte, kranke Schachtel sehen wollen, na gut“. Ständig erzählt sie Details, die intimer sind als jedes Gedicht. Peterle steht neben ihr und sagt: „So ist sie. Keiner ändert sie.“ „Ja, das hat keiner geschafft“, sagt sie, traurig und stolz.

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Runa-Maria Struve in ihrem Schlafzimmer; neben dem Bett steht, in Plastikfolie verpackt, ihr Sarg,

Peter Rörig ist 60 und hatte selbst Krebs, er las eine Zeitungsanzeige, in der Struve schrieb, sie suche jemanden, der ihr aus der Einsamkeit heraushelfe. „Es hörte sich dringend an.“ Jetzt ist er jede Woche da, unentgeltlich, längst Alis „lieber Freund“, ein Foto von ihm klebt an einer Stuhllehne. Rörig hilft, wo er kann, „sie hat nur Pflegestufe 1, das ist ein Skandal, sie hat so viel gegeben, und jetzt lässt der Staat sie im Stich“.

Sie zeigt ihr Zimmer mit dem Sarg. Eisblumen haften am Fenster, es riecht nach Shampoo, Frühling, Sommer, sie hat sich zurechtgemacht, ihre Bluse ist mit roten Rosen bestickt, vorgestern war sie beim Friseur. Ihre Asche wird im Wald verstreut, sie wollte, dass ihre Kohlenstoffreste sich von Köln aus im Rhein auflösen, das sei nicht erlaubt in Deutschland, „ein Witz ist das“, sagt sie. Niemand darf bei ihrer Beerdigung dabei sein außer dem Bestatter, der die von ihr verfassten letzten Worte liest, sie hat es alles so verfügt. Sie sagt: „Ich war im Leben allein, ich will es auch im Tod sein.“

Ali ist eine Dame ohne Gnade, mit Kinderaugen, hart und weich, mutig und angsterfüllt, rebellisch und pflichtbewusst, großherzig und borniert. Wie die meisten, aber von allem ein bisschen mehr.

Ein letztes Mal nach Neuehrenfeld

Ihr „Papa“ ist der liebe Gott, ihre „Mama“ heißt Maria und Jesus der „Bruder“, sie spreche oft mit ihnen, sagt sie, die früh aus der Kirche austrat, „weil ich dem korrupten Sauverein nicht traue“; Mama, Papa und Bruder seien immer da, oft schimpfe sie mit ihnen, sagt sie, wenn sie wieder einen Krieg zugelassen haben oder wenn sie nichts dagegen tun, wie „die Armen ärmer und die Reichen reicher werden“.

Sie werde dann laut, aber ihre Familie könne nicht überall gleichzeitig sein. Papa und Mama und Bruder könnten den Menschen auch nicht helfen, die Schmerzen der Vergangenheit zu lindern. „Da muss jeder selbst durch.“ Manchmal empfindet sie es als Trost, dass „Papa, der liebe Herrgott“ sie bald abberufen wird. „Ich kann nicht mehr“, keinen Satz sagt sie so oft. Am zweithäufigsten sagt sie: „Ich kämpfe bis zuletzt.“

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Um viele Dinge muss und will sie sich noch kümmern. Vor allem muss geklärt sein, was mit ihren Puppen geschieht.

Sie lebt so gern, es gibt noch so viel zu tun. Sie müsse ihre Puppen in den richtigen Händen wissen und ihre Jugendstilschränke, sie müsse sich noch bei ihren Waisenkindern aus Litauen und von ihren geliebten Lkw-Fahrern verabschieden, so vielen schreiben.

Für ihr jahrzehntelanges Engagement in Litauen hat Ali das Bundesverdienstkreuz vom damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler erhalten, die Urkunden für sie und ihren zweiten Mann hängen an der Wand. „Ich habe den Köhler gefragt, ob er nicht Geld spenden wolle, statt mir sowas zu schenken, da hat er geguckt“. Sie erzählt, als habe sie es jedem gezeigt im Leben. „Hart wie Kruppstahl“ sei sie, „gute deutsche Wertarbeit“.

„Ich bin kein Engel und wollte nie einer sein"

Drei Waisenhäuser hat sie ausgestattet und einen Großteil ihres Ersparten gegeben. Den Kindern sollte es besser gehen als ihr, es ging ihnen besser, sie nannten Ali ihren Engel. „Ich bin kein Engel und wollte nie einer sein“, sagt sie. Sie beschenkte auch Lkw-Fahrer, jedes Jahr an Heiligabend, auf dem Rasthof Limburg Nord, sie brachte ihnen Geschenke, weil sie an Weihnachten allein waren.

Der Abschied von den Kindern und den Truckern muss warten. Es ist fast zwölf, sie will nur noch ein Glas Kirschsaft trinken und ein paar ihrer ungezählten Gedichte aus Jahrzehnten zeigen, sich frisch machen, ins Bad, Fotos suchen. „Wann wir fahren, entscheide ich.“ Sie erzählt weiter, der Strom der Worte wird bis zum Abend nicht versiegen, es sprudelt aus ihr wie aus einer Quelle, das Wasser schmeckt bitter, selten auch süß.

„Ich hatte immer einen großen Durst nach Leben und Liebe"

Kann sein, sie wartet allein auf den Tod, weil sie zu viel wollte. „Ich hatte immer einen großen Durst nach Leben und Liebe. Und wer durstig ist, bekommt nichts zu trinken.“ Oder, sie hat das Leben überschätzt. Sie war maßlos, wollte sich nicht zufrieden geben mit dem Ist, sie dachte, sie könnte immer neu anfangen, alles haben und tun, sie, das Waisenkind, müsste immer stark sein, Härte zeigen, sich auflehnen, gegen sich und gegen Andere.

Als ein Lehrer in der Volksschule die Geschichte von Adam und Eva erzählte, habe sie gefragt: „Wollen Sie uns veräppeln, dass die Welt an sechs Tagen erschaffen wurde? Das ist doch gelogen!“ Sie werde ihr Leben lang anecken, bekam sie zur Antwort.

Ali trinkt Kirschsaft und redet von Waisenheimen, in die sie als Baby und Kleinkind gesteckt worden sei, ihre Erzeuger („Sagen Sie nie, nie Eltern zu ihnen!“), hätten sie weggeworfen wie Klopapier, „die Schlange, die mich geboren hat“, habe vergeblich versucht, sie abzutreiben. Ihr Erzeuger war der seinerzeit bekannte Maler Franz Alfred Theophil Winter, Künstlername Fathwinter, der bei Max Beckmann lernte und der Gruppe „Der Rote Reiter“ nahe stand.

„Der hatte nur seine Karriere im Sinn“, sagt sie. Als sie ihn persönlich getroffen habe, längst erwachsen, immer noch zornig, „habe ich ihm eine gescheuert“. Auch der Erzeugerin habe sie beim späten Wiedersehen eine gepfeffert. Ausgerechnet bei ihr habe die Polizei dann angerufen, als sie tot war. „Sie ist vereinsamt in ihrer Wohnung gestorben und war lange nicht gefunden worden. Ausgerechnet ich musste sie unter die Erde bringen, weil sie niemanden hatte.“

„Papa, wie schön, Du hast uns Sonne geschickt“, sagt sie draußen, vor dem Auto, nach 15 Minuten für 30 Meter, und guckt in den blendenden Himmel. Sie lächelt, auf der Fahrt nach Köln spricht sie pausenlos über ihr Misstrauen und falsche Entscheidungen. „Wenn ich mit ihm zusammengeblieben wäre, hätte ich es bereut, weil er ein Waschlappen war, ich habe meinen Koffer gepackt, sobald die Kinder aus der Schule raus waren“, sagt sie über ihren ersten Mann. „Aber er war ein guter Mensch, er hat sich um mich gekümmert, es wäre mit ihm jetzt wohl leichter.“

Ihr zweiter Mann war ein „echter Mann“, wie so gesagt wird, seine Verwegenheit ist ihm auf den Schwarz-Weiß-Bildern anzusehen. „Ein Lump war er, er hat mich belogen und betrogen, wo er nur konnte. Ich war froh, als er tot war.“ Sie spricht auch über einen Mann, der „mich wirklich liebte“, sie hat seine Briefe aufbewahrt, sie seien ihr wichtiger als die Erinnerungen an die Ehemänner, „aber die Liebe war unmöglich, er war schon verheiratet“.

Immer wieder redet sie von Ärzten, der „weißen Mafia“, und „hohlraumversiegelten Politikern“. Sie sagt, dass man den Flüchtlingen helfen müsse, im nächsten Satz, dass „man heute Angst haben muss, auf die Straße zu gehen, wegen der Ausländer“. Ihre schlechten Erinnerungen haben die guten verschluckt, immer schmeckte die Realität schaler als die Hoffnung.

Eine Reise durch alte Erinnerungen

Das alles ändert sich in Neuehrenfeld. Im Restaurant Pöttgen in der Landmannstraße ist Schnitzeltag, die Kellnerin erscheint Ali wie eine Lichtgestalt, die all den Schweinen, die als Schnitzel und Medaillons auf den Tellern liegen, ihre Würde zurückgibt. „Sie wissen gar nicht, was es mir bedeutet, heute hier zu sein“, sagt sie zu der Bedienung, die ratlos lächelt. „Es schmeckt wunderbar.“

Ali spült eine Morphiumtablette mit einem Schluck Kreuznacher Narrenkappe hinunter, süß muss der Wein sein, sonst trocknet er ihr die Kehle aus. Sie erzählt, klar und chaotisch, atemlos, heiser, vom brennenden Köln, als Dreijährige habe sie die von Leichen gesäumte Stadt gesehen; von der „weißen Mafia“, die ihr Bein dreimal falsch operiert habe, von ihrem Weinlokal in Wiesbaden, das sie aufgemacht habe, nachdem sie ihren ersten Mann in Köln, den „Waschlappen“, verlassen hatte; wie sie im Weinlokal Männer, die sie anmachen wollten, mit einem Ochsenziemer davonjagte.

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In der Ennenstraße in Neuehrenfeld wohnte sie zwischen 1945 und 1952. Hier nimmt sie Abschied vom Barbarabrunnen.

Sie erinnert sich, wie ein Soldat sie in Köln im Krieg auf dem Arm und durch die brennende Stadt getragen habe, wie sie später, nach dem ersten Mann, in Wiesbaden einen Offizier kennenlernte, den sie für „ehrbar“ hielt, weil er bei der Bundeswehr war, der ihr eine Wohnung in Köln versprach und mit einer „jungen Polin durchbrannte“, wie sie sich dann am von der Stadt vergessenen Kölnberg in Meschenich wiederfand und im Nachtdienst der Taxiruf-Zentrale anheuerte, „um ja nie als arbeitslos zu gelten“.

Nie habe sie Schulden gehabt, sagt sie, nie eine Kreditkarte besessen, immer alles bar bezahlt, sie bewahrt bis heute jede Brötchen-Rechnung auf, an jedem Döschen in der Wohnung klebt ein Etikett mit ihrer Adresse.

Im nächsten Moment ist sie bei ihren Pflegeeltern, die sie „Opa und Oma“ nennt, „weil die so alt waren“, in der Ennenstraße in Neuehrenfeld, er spielte Geige und Klavier, sprach sieben Sprachen, sie wollte, dass Ali alles für den Haushalt lernt und nicht Klavier spielt, „dabei war ich so musikalisch“. Zwei Klassen habe sie übersprungen, aber kein Abitur gemacht, „dafür hatten Opa und Oma kein Geld“.

Es ist nach 14 Uhr, Peterle drängt zum Aufbruch aus dem Pöttgen. Auf dem Weg zur Ennenstraße sieht Ali ein Schild mit der Aufschrift „Psychotherapie“. „Da wären Merkel und Konsorten richtig aufgehoben“, sagt sie, Peterle lacht. „So ist sie.“

In der Genossenschaftssiedlung in Neuehrenfeld hat Ali zwischen ihrem achten und 15. Lebensjahr bei Pflegeeltern gewohnt, von 1945 bis 1952. „Die Büsche sind weg“, sagt sie, „schade, die waren immer so gemütlich.“ Sie geht in Richtung der Nummer 18, zwei Jugendliche mit Smartphone in der Hand laufen vorbei, „wenn ihr wüsstet, warum ich heute hier bin“, sagt sie ihnen hinterher. Sie bleibt stehen an der Schwelle, „da oben hatte ich ein Stübchen für mich, das war unvorstellbar“, sagt sie, bevor ihr die Tränen kommen, wie so oft an diesem Tag.

Sie erzählt von einem Kaninchen, das Nachbarn ihr geschenkt hatten, es war ihr ein und alles, „Oma hat mir am Tag meiner Kommunion gesagt, dass sie es geschlachtet hat, um einen Braten zu haben, sie hat es einfach geschlachtet.“ Sie kann schon längst nicht mehr, will aber weiter, „ich muss“, sagt sie, in Zeitlupe zum Barbara-Brunnen. „Ich bin noch da, Barbara, schau nur, nach so vielen Jahren. Mit wie vielen Schneebällen wir Dich beworfen haben, es tut mir leid, aber es hat dir nicht weh getan. Es war die schönste Zeit. Was danach kam, brauche ich dir nicht zu erzählen, es ist nicht der Rede wert.“

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Im Dom zündet die 79-Jährige zum letzten Mal Kerzen an.

„Gott segne dich“, ruft da ein Mann aus dem Nichts. Die Wirklichkeit ist manchmal unwahrscheinlicher als ein Märchen, der Mann heißt Karl-Heinz Trost, er hält eine Leine mit einem weißen Schnauzer in der Rechten und eine zerschlissene Plastiktüte mit der Aufschrift „Besser leben“ in der Linken, er nickt, sie macht einen Knicks. Sie kennen sich nicht.

„Hauptsache, mir levve noch, oder?“, sagt Trost. „Ja, Hauptsache, mir levve noch“, sagt Ali. „Hätte ich gewusst, dass ich einen wie Dich treffe, hätte ich mich ein bisschen mehr aufgebrezelt.“ – „Weißt Du noch, als da vorn die Bahn vorbeigefahren ist?“– „Natürlich, ich bin da immer zum Bäcker gegangen, manchmal musste ich ab 5 Uhr anstehen, um ja ein Brot zu bekommen“ – „Kennst Du das Lied von der Schaffnerin?“ – „Natürlich.“ Sie singen im Chor:„Liebe kleine Schaffnerin, kling kling kling, sag’, wo fährt dein Wagen hin? Kling kling kling. Liebe, kleine Schaffnerin, gern bleib’ ich im Wagen drin, und ich küsse dann sehr galant, deine kleine entzückende, kleine berückende, fahrkartenzwickende Hand. Und ich küsse dann sehr galant, deine kleine entzückende, kleine berückende, fahrkartenzwickende Hand. Aussteigen, bitte! Aussteigen, bitte! Wir sind schon bei der Endstation!“

Sie tanzen ein Tänzchen, Ali lacht, Trost zwinkert, der Schnautzer will weiter, „ach, hätten wir uns früher getroffen“, sagt Ali. „Heute ist heute und gestern war gestern, Hauptsache, mir levve noch“, sagt Trost. „Du hast ja recht, Hauptsache mir levve noch, heute ist heute“, sagt Ali. Sie umarmen sich und geben sich ein Küsschen, dann ist Trost um die Ecke. „War das jetzt wirklich wahr?“, fragt Ali. „Wahnsinn“, sagt Peterle.

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In Neuehrenfeld trifft sie auf der Straße zufällig den Rentner Karl-Heinz Trost, quatscht, singt und tanzt mit ihm.

Auf dem Weg Richtung Dom spricht sie Kölsch, als könne sie kein Hochdeutsch mehr. Es geht jetzt um ihre große Zeit. Sie erzählt nicht, was sie alles gemacht hat, sondern wie. Bei General Electric habe sie einen Job bekommen, weil sie „direkt hinfuhr, statt eine Bewerbung zu schreiben“. Ob sie dem Chef auch die Meinung sagen könne, sei sie gefragt worden? „Und ob ich dat kann“, habe sie gesagt. Und es auch getan, als der Chef zu Unrecht einen jungen Angestellten rausschmeißen wollte. „Er hat am Ende auf mich jehürt.“

Über die Taxizentrale habe sie die Schlagersängerin Ilse Werner kennengelernt und ihr erzählt, dass sie in der Schule immer Ärger bekommen habe, weil sie ihre Lieder nachgepfiffen habe. Die Werner habe nach dem Gespräch nur noch über sie ein Taxi bestellt.Beim Souvenirladen gegenüber von McDonald’s kauft Ali einen Mini-Dom für 3,50 Euro, „eigentlich viel zu viel“, sagt sie, und lässt sich eine Quittung geben. Wie ein taumelnder Käfer bewegt sie sich zum Dom. „Ich kann nicht mehr“, sagt sie auf halben Weg, stützt sich auf Peterle, kramt eine Morphiumtablette aus der Handtasche und geht weiter. „Ich muss, ich muss.“

Sie steht am Marienportal. „Mir ist schwindelig von den Tabletten“, sagt sie, und sucht nach Münzen für einen Bettler. Sie gibt jedem etwas, aus Prinzip. Ali schwankt hinein, sie bebt und fließt. „Lieber Papa, ich bin endlich wieder da“, sagt sie, „ich werde bald zu dir kommen, ganz bald, ich freue mich schon so.“ Sie zündet eine Kerze an, wie früher, ein letztes Mal.