Stromschlag von 15.000 Volt überlebt„Warum habe ich den Scheiß nur gemacht?”
- Am 10. Juli 2016 kletterte Konrad Roßbach nachts mit einem Kumpel auf einen Zug am Güterbahnhof Köln-Eifeltor.
- Als er dabei in die Nähe einer Hochspannungsleitung geriet, schlugen 15.000 Volt wie ein gewaltiger Feuerstoß im Kopf ein und durchliefen seinen Körper.
- Roßbach erlitte schwerste Brandverletzungen, schwebte wochenlang zwischen Leben und Tod.
- Im „Kölner Stadt-Anzeiger" erzählt er von seinem brutal harten Weg zurück ins Leben und was in der für ihn so verhängnisvollen Nacht vorher geschah. Vor allem aber erzählt er, um andere zu warnen.
Köln – Er humpelt mit seinen zwei Krücken zu seinem Sitzplatz. Auf dem Kopf trägt Konrad Roßbach eine Wollmütze. Das Thermometer zeigt auf der Restaurantterrasse im Kölner Agnes-Viertel gut 30 Grad an. Niemand aber soll die großen kahlen Stellen sehen, jene Brandnarben, auf denen kein Haar mehr wächst. Spuren eines fürchterlichen Stromschlags.
Ein Lichtbogen aus der Oberleitung am Güterbahnhof Köln-Eifeltor, 15000 Volt stark, schlug wie ein gewaltiger Feuerstoß im Kopf ein, durchlief den Körper und trat am Fuß wieder aus.Konrad schildert zum ersten Mal im Gespräch mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ die Ereignisse der tragischen Nacht vom 10. Juli 2016. Jener Nacht, die das Polizeibulletin in einigen, nüchternen Zeilen abhandelte. Ein 18-jähriger Kölner war mit seinem Kumpel auf einen Kesselwagen am Bahngelände geklettert und hatte die volle Wucht der Hochspannungsleitung abbekommen. Schwerverletzt sei er geborgen worden, war dort zu lesen.
Da war die Party nebenan in einer Art Schrebergarten von Bekannten, sagt Konrad. „Erst Bier und dann Rotwein.“ Die Musik wuppte, Stimmung top. Konrad schien in seinem Element zu sein. Mit jeder Stunde stieg der Alkoholpegel. Und dann kam ein Freund auf ihn zu und bot ihm „eine Nase Koks“ an. Ab und zu Joints geraucht oder auch ein, zwei Ecstasy-Pillen getestet – das hatte der Gesamtschüler zwar. Aber Kokain hatte er noch nie konsumiert.
Der Reiz des Neuen übertünchte die warnenden Worte der Freundin aus der Vergangenheit, dass er seine Drogenabenteuer sein lassen sollte. Fatalerweise fehlte an jenem Abend seine Partnerin und mithin der mahnende Zeigefinger. „Vielleicht wäre das Ganze dann nicht passiert“, sagt er.
Damals schien alles so einfach zu sein. Konrad wirkte meist unbeschwert, ausgestattet mit viel Optimismus, so als wäre das Leben ein Happy Meal. Im Freundeskreis beliebt, die Noten in der Schule hätten sicher besser sein können, wäre er fleißiger gewesen. Aber geschenkt. Mit einem gewissen Hang zum Leichtsinn, zogen Risiken ihn an. Und so nahm er das Kokain. „Danach weiß ich nicht mehr viel“, sagt Konrad.Irgendwann sei er mit Freunden hinaus gegangen, ein Trampelpfad führte hinüber zum Bahngelände. Der Durchgang war unbewacht. Dann entdeckten die Partygänger die Züge und den Kesselwagen. „Lass mal hochgehen“, habe er seinen Kumpels zugerufen.
Einer seiner Freunde folgte ihm. Oben angekommen, schoss Konrad mit seinem Handy noch ein Foto. „Und dann hat es Zap gemacht“, erinnert er sich. „Ich habe die Leitung nicht mal berührt .“
Das brauchte er auch nicht, um von einem so genannten Lichtbogen aus der Oberleitung getroffen zu werden. Die Stromstöße können bis zu eineinhalb Metern Entfernung tödlich wirken. Eine Stunde lag Konrad beinahe regungslos auf dem Dach, eine Polizeibeamtin redete ihm gut zu, sich nicht zu bewegen. Im Rettungswagen erreichte ihn noch der Handyanruf eines Freundes. „Alles wird tutti“, flüsterte Konrad.
Danach schwand ihm das Bewusstsein.
Wochenlang schwebte er zwischen Leben und Tod. 52 Prozent des Körpers waren mehr oder minder schwer verbrannt. Zwei Wochen künstliches Koma der enormen Schmerzen wegen, gefolgt von mehr als 40 Operationen liegen hinter ihm. „Es klingt zwar komisch, aber ich feiere einen neuen Geburtstag und zwar jenen 10. Juli, als dieser ganze Mist passiert ist“, sagt Konrad und wirkt dabei so sachlich, als würde er über das Schicksal eines Bekannten reden. Mit 22 haben viele seiner Freunde längst begonnen, die Zukunft anzupacken: Vielleicht ein Auslandsaufenthalt, dann Studium oder Lehre, gefolgt vom Job. Reha, Hauttransplantationen, die ersten Gehversuche. Konrad aber muss sich seit jenem Julitag vieles erkämpfen, was vorher selbstverständlich schien. Im neuen Schuljahr peilt er sein Abitur an. „Leider drei Jahre zu spät.“
Deshalb will Konrad erzählen, wie es wirklich war, wie schwer es ist, wieder zurück ins Leben zu finden. „Damit andere Jungs nicht dieselbe Scheiße bauen wie ich.“
Erst Mitte Juni hat er gelesen, dass ein 17-Jähriger sich ebenfalls schwerste Verbrennungen zugezogen hatte, nachdem er am Güterbahnhof Eifeltor aus Jux auf einen Kesselwagen geklettert war. „In solchen Momenten kommt alles wieder hoch.“ Seit seinem Unfall sucht Konrad wieder nach seinem seelischen Gleichgewicht. Tag für Tag werde es besser, sagt er. Immerhin, die Narben an den Armen versteckt er nicht mehr unter langärmeligen Klamotten. Trotzdem fällt es ihm schwer zu vergessen, besonders sich selbst zu verzeihen, „was für ein Idiot ich war.“
Jedes Mal, wenn er wieder stolpert, weil seine geschwächten Beine noch nicht so wollen oder die geschädigte Hüfte wackelt, wenn erneut die angegriffenen Nervenstränge nicht sofort auf Hindernisse reagieren und er fällt, dann wird er beinahe wütend: „Dann läuft wieder der Film ab.“ Nicht so sehr vom Stromblitz, sondern vom danach. Als Konrad nach monatelangem Klinikaufenthalt sich zum ersten Mal im Spiegel betrachtete, begann er zu schaudern. All die Narben, Brandwunden, die seinen Körper verunstaltet hatten, dann die kaputten Füße, zwei Zehen mussten die Ärzte amputieren. Er brauchte Zeit, um sich zu akzeptieren.
Immer wieder tragische Unfälle
Aus Spaß wird tödlicher Ernst: Immer wieder unterschätzen gerade junge Menschen das Risiko, klettern aus Jux auf Bahnwaggons und ziehen sich durch Stromschläge aus der Oberleitung schwerste Verletzungen zu. Manche sterben. Die Stärke von 15.000 Volt entspricht dem 65-fachen Volumen einer Steckdose. Wer sich der Fahrleitung auf 1,50 Meter nähert, löst womöglich einen tödlichen Lichtbogen aus.
Immer wieder ereignen sich tragische Unfälle:
Am Bahnhof Ludwigsfelde in Brandenburg war ein Mann am 18. August auf einen Zug geklettert, dabei fing seine Kleidung durch einen Stromstoß Feuer. Schwerstverletzt stürzte der Kletterer auf die Gleise.
Ein 20-jähriger Dortmunder stieg am 22. Juni auf einen am Hauptbahnhof abgestellten Waggon und wurde durch einen Stromschlag erfasst. Er überlebte mit schweren Verbrennungen.
Fünf Tage zuvor erlitt ein 17-jähriger Schüler am Güterbahnhof Köln-Eifeltor schwere Verbrennungen, nachdem er einen Kesselwagen erklommen hatte.
Mitte April starben zwei Jugendliche in München-Haar und im niederbayerischen Osterhofen durch ihre gefährlichen Kletterpartien. Sie wurden nur 17 und 16 Jahre alt.
Am 17. September 2018 starb ein 18-jähriger, als er auf dem Güterbahnhof Troisdorf auf einen Waggon gestiegen war. Bei der Aktion hatte er ebenfalls einen Lichtbogen ausgelöst und war ins Gleisbett gefallen.
August 2014: Betrunken wollte ein 29-jähriger Kölner den Weg zu einer Feier über den Kalker Güterbahnhof abkürzen. Kaum auf einen Waggon geklettert, stand er in Flammen. Mit starken Verbrennungen kam der Endzwanziger in die Spezialklinik nach Merheim. (xl)
Oft hadert Konrad mit sich selbst, wenn wieder etwas nicht klappt, wenn die Genesung nicht so verläuft, wie erhofft. Dann geht er scharf mit sich ins Gericht. „Warum haste den Scheiß auch gemacht ?“ Die Folgen seiner Drogentour sind allgegenwärtig. Nichts nervt ihn mehr, als täglich seinen Körper einsalben zu müssen, weil an vielen Hautpartien keine Schweißdrüsen mehr Feuchtigkeit produzieren. Wenn Konrad jetzt im Sommer mit den Freunden zum Fühlinger See fährt, dann bleibt er am Strand. Zum einen fällt es ihm schwer zu schwimmen, zum anderen scheut er sich, mit nacktem Oberkörper durch die Gegend zu laufen.
Zwei Mal haben Spezialisten mittels plastischer OP versucht, die verbrannten Kopfstellen wiederherzustellen. Bald stellten sich Infektionen ein, das Ganze scheiterte. „Erstmal werde ich keinen neuen Versuch unternehmen“, sagt Konrad. Die Sitzungen beim Psychotherapeuten seien äußerst hilfreich, sagt er. Dort kann er sich mitteilen, auch Dinge erzählen, die er selbst vor seiner Familie zurückhält. „Das Beste aber ist, dass meine Eltern, meine Freundin und meine Freunde zu mir stehen, das hat mir sehr geholfen.“
Trotz aller Hindernisse, trotz der traumatischen Erlebnisse, trotz aller Selbstkritik will sich Konrad „nicht hängen lassen“. Klar werde es immer wieder Rückschläge geben. „das weiß ich.“ Inzwischen aber schmiedet er wieder Zukunftspläne. Nach dem Abi möchte er studieren. Entweder auf Lehramt oder auf einen Heilberuf. Zuweilen träumt er davon, später in einem klinischen Zentrum für Brandopfer zu arbeiten. „Damit ich der Allgemeinheit etwas zurückgeben kann.“ Seit dem Drama im Sommer 2016 hat Konrad keine Drogen mehr genommen. Mit seinen Nächsten stößt er an jedem wiederkehrenden 10. Juli auf ein neues Leben an.