Was erzählen Menschen, wenn man sie auf der Straße anspricht und zum Kaffee einlädt? Dieser Frage geht Susanne Hengesbach regelmäßig nach.
Ein Tag des SchreckensDie Flut spülte die berufliche Existenz einer Kölnerin über Nacht weg
Eines meiner letzten Kaffee-Gespräche habe ich mit einer Frau geführt, die vor 29 Jahren Geisel bei einer Bus-Entführung in Köln war und dadurch ein schweres Trauma erlitten hat. Bei Andrea Schmitz liegt der Tag des Entsetzens und der Fassungslosigkeit noch nicht so weit zurück.
Von dem Schreck über die Zerstörung ihrer beruflichen Existenz hat sich die 65-Jährige Kölnerin erholt. „Aber was mich bis heute ärgert, ist, dass immer von der Ahrtal-Flut gesprochen wird!“ Tatsächlich sei damals doch wesentlich mehr überschwemmt worden – „auch die komplette Innenstadt von Euskirchen“ samt ihrem dort seit 1985 bestehenden Fachgeschäft für Hörakustik. Dorthin konnte sie glücklicherweise inzwischen nach mehr als anderthalb Jahren zurückkehren.
„Unsere alten Leute sind krank geworden durch das Ereignis“
„Aber es sind auch in Euskirchen Menschen gestorben. Es war auch bei uns dramatisch! Und wenn ich unsere alten Leute sehe, die krank geworden sind, durch das Ereignis, könnte ich weinen!“
Dann beginnt sie zu erzählen von jenem 15. Julimorgen 2021, als sie mit ihrem Sohn von Köln aus zur Arbeit fahren wollte. Im Radio hatte sie bereits von der Flut gehört und von gesperrter Autobahn. „Deshalb dachte ich, ich rufe da erstmal an. Aber es ging keiner ans Telefon. Auch die Nachbarn nicht.“ Schnell stellte sich heraus: Die A 553 über Brühl war zu. Die A1 über Frechen schien frei, sicher war man aber nicht. Also fuhr Sohn Björn erstmal zum Bahnhof und erfuhr, dass auch kein Zugverkehr ging. Nur Ersatzbusse.“
„Eine widerlich stinkende braune Brühe!“
Wenn Busse fahren, müssten wir auch mit dem Auto durchkommen, sagt sich Andrea Schmitz, ist dann geschlagene drei Stunden unterwegs, aber von Brühl an geht nichts mehr. Am nächsten Tag unternimmt sie einen neuen Versuch und kommt auch durch. Und dann fährt man von der Autobahn runter, denkt: ‚ist doch alles gar nicht so schlimm’, und dann ist kein Licht im Parkhaus und alles steht unter Wasser.“
Doch der eigentliche Schock erfolgt beim Anblick des Ladens: „Der Keller ist bis zur Decke vollgelaufen, und im Geschäft steht das Wasser 80 Zentimeter hoch.“
Als Andrea Schmitz mir ihr Handy mit den entsprechenden Fotos rüberreicht, erkenne ich: „Wasser“ ist nicht das zutreffende Wort. Überall, auch in Schränken und Schubladen – „selbst im Kühlschrank stand diese widerlich stinkende braune Brühe“. Ich könnte selber weinen, als ich die Bilder sehe. „Man ist völlig fassungslos und erstmal total überfordert!“, sagt Schmitz. „Wenn man das im Fernsehen sieht, ist das eine ganz andere Sache, aber wenn man mittendrin steht, weint man.“
Wildfremde Menschen halfen
Zum Glück habe es damals ganz viele Menschen gegeben, die geholfen hätten, überall das kaputte und verdreckte Zeug wegzuschaffen.
Schmitz spricht nicht von offiziellen Stellen, sondern von völlig fremden Privatleuten oder Bauern, die den überall rausgeschleppten Müll einfach aufgeladen und weggebracht hätten. „Wenn die nicht gewesen wären!“
„Das war schlimm, echt schlimm!“
Damals sei sie so naiv gewesen zu glauben, sie könne nach 14 Tagen wieder eröffnen. Tatsächlich habe allein das Trocknen der Räumlichkeiten bis Dezember gedauert. Und dann kam der nächste Schock: nämlich weder Handwerker noch Baumaterial aufzutreiben, um den Laden wieder instandzusetzen. „Das war echt, echt schlimm!“
Wer das Bild vor Augen hat, wie Hörgeräte, Computer und Messgeräte in dunkler Brühe schwimmen, kann sich unschwer Schmitz‘ Verzweiflung ausmalen, als ihr die Telekom-Frau am Telefon erklärt, sie bekäme den neuen Router erst, wenn sie den alten zurückgeschickt habe… „Wie bitteschön sollte ich den zurückschicken? Der war weggeschwommen!“
Es gehen mehr als anderthalb Jahre ins Land, bis Andrea Schmitz im Februar 2023 endlich wieder öffnen kann. Und selbst da kommen ihr mitunter noch fast die Tränen. Wie in dem Moment, als die alte Stammkundin vor ihr steht – mit dem Torso eines Hörgeräts, den sie im Staubsaugerbeutel wiedergefunden hat. Hören konnte sie damit nicht mehr. „Aber ich wollte nicht irgendwo ein neues Hörgerät kaufen, Frau Schmitz. Ich wollte damit warten, bis Sie wieder da sind!“