Meistgelesen 2022„Systemsprengerin“: Nikas letzte Chance vor dem Jugendknast
- Pro Jahr gibt es ein bis zwei neue „Systemsprenger“ in Köln.
- Diese Kinder und Jugendlichen bringen mit ihrer Aggressivität Pädagogen, Ärzte und Polizisten an ihre Grenzen.
- Eine von ihnen ist die 14-jährige Nika. Der „Kölner Stadt-Anzeiger“ erzählt ihre Geschichte.
- Dieser Text ist zuerst am 15. Oktober 2022 erschienen.
Köln – Nika ist 13 Jahre alt, als sie den Entschluss fasst, in der Kölner Innenstadt auf einen Baukran zu klettern. Sie nimmt Sprosse für Sprosse, steht irgendwann ganz oben, erschrockene Passanten auf dem Roncalliplatz rufen die Polizei. „Ich habe keine Lust mehr, ich springe!“, ruft das Mädchen. Ob Nika ihrem Leben an jenem Novembertag vor elf Monaten tatsächlich ein Ende setzen will oder ob sie nur verzweifelt versucht, auf sich aufmerksam zu machen, kann heute nicht mehr genau gesagt werden.
Für die Streifenpolizisten, die als erste eintreffen, ist es eine heikle Lage. „Ein Kind, das oben auf einem Kran steht – als Polizist ist das kaum auszuhalten“, sagt Bernd Reuther heute, Erster Kriminalhauptkommissar und Leiter des „Haus des Jugendrechts“, das sich in Köln um junge Intensivtäterinnen und Intensivtäter kümmert. Doch die Streifenbeamten nehmen sich viel Zeit, sie sprechen mit Nika und können sie schließlich davon überzeugen herunterzuklettern. „Alles wurde glücklich geregelt, niemand kam zu Schaden“, erinnert sich Reuther.
„Systemsprenger“ sind auch für Fachleute kaum erreichbar
Doch was heißt das schon? Welcher Schaden muss einem Mädchen bereits zugefügt worden sein, das mit 13 Jahren auf einen Kran steigt und seinen Suizid androht? Die Geschichte von Nika ist eine extreme Geschichte – und doch kein Einzelfall. Nika ist eine „Systemsprengerin“, ein Fachbegriff aus der Pädagogik und der Psychiatrie. Viele Fachleute sprechen lieber von „hochbelasteten Kindern und Jugendlichen, die eskalieren“, von „besonders herausfordernden Kindern“ oder von „Jugendlichen mit komplexem Hilfebedarf“.
Gemeint sind Kinder und Jugendliche, die mit den üblichen Erziehungsmethoden nicht mehr erreichbar sind – nicht für ihre Eltern, nicht für Pädagogen, nicht für Ärztinnen, Polizistinnen oder Richter. Bei diesen Kindern versagt das gängige Jugendhilfesystem. „Systemsprenger“ haben keine stabilen sozialen Bindungen, stattdessen in ihrer jungen Vita schon zahlreiche Beziehungsabbrüche erlebt. In den Einrichtungen, in denen sie untergebracht sind, ignorieren sie häufig die Regeln, rasten aus, treten gegen Türen oder Fenster, schreien, poltern und zerstören Gegenstände. Experten wissen: Sie tun es unterbewusst, weil sie testen wollen, wie die Betreuer reagieren. Halten sie zu ihnen – oder wenden sie sich ab, wie so viele andere zuvor auch?
In Köln wurden 1640 Minderjährige aus den Familien genommen
2021 hat das Jugendamt in Köln 18.500 Mal eingegriffen, um Kindern und Jugendlichen zu helfen. Meistens ging es um Beratungsgespräche für die Eltern und Erziehungshilfen. 1640 Kinder und Jugendliche wurden aus den Familien genommen und in stationären Einrichtungen untergebracht.
Fünf bis zehn neue „sehr schwierige Fälle“ erreichten ihn und sein Team pro Jahr in Köln, sagt Professor Stephan Bender, Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters an der Uniklinik Köln. „Wir gehen davon aus, dass es durch die Corona-Pandemie eine gewisse Tendenz zu mehr Stress bei Kindern und Jugendlichen gibt und dadurch auch eine Tendenz, dass die Zahl der extremen Fälle angestiegen ist“. Ein bis zwei Patienten pro Jahr in Köln seien „Systemsprenger“, sagt Bender. Manche, nicht alle, werden kriminell. Wie Nika.
Nika hat eine Odysee durch Kinderheime hinter sich
Das Mädchen heißt eigentlich anders, zu seinem Schutz sollen hier nur wenige biografische Details preisgegeben werden: aufgewachsen in einem kleinen Ort in der Nähe von Köln, prekäre Verhältnisse, die Mutter psychisch krank. Als Kleinkind wird Nika jahrelang misshandelt, bis sich das Jugendamt einschaltet und sie aus der Familie nimmt. Es folgt eine Odyssee durch Kinderheime, städtische „Inobhutnahmestellen“, Wohngruppen, Noteinrichtungen. Immer wieder neue Betreuer, Sachbearbeiterinnen und Bezugspersonen. Hat Nika gerade Vertrauen gefasst, reißt die Bindung schon wieder ab. Niemand, so scheint es, kommt mir ihr zurecht. Und jeder Wechsel in eine neue Einrichtung erzeugt bei ihr neue Unsicherheit, Angst – und eine scheinbar unbändige Wut.
„Wir haben im März 2021 erstmals mit Nika zu tun bekommen und dann nahezu täglich“, berichtet Bernd Reuther von der Polizei. Ungefähr 500 Straftaten häuft das Mädchen in einem Jahr an. Und das sind nur die, von denen die Polizei erfährt, vor allem Sachbeschädigungen und Diebstähle, aber auch Raubüberfälle, vorzugsweise auf junge Frauen. Nika baut sich mit Glasscherben, Messern oder abgebrochenen Flaschenhälsen in der Hand vor ihnen auf und will Geld. Manche Opfer brechen in ihrer Vernehmung bei der Polizei unter Tränen zusammen. Wie eine „Furie in Gestalt eines Kindes“ habe Nika sich bei diesen Taten gebärdet, sagt ein Ermittler. „Das schockt die Leute, das ist man einfach nicht gewohnt“, sagt Reuther.
Feuer in einer Gaststätte in Köln gelegt
In der Toilette einer Gaststätte legt Nika Feuer, der Brand wird rechtzeitig entdeckt und gelöscht, bevor großer Schaden entsteht. Auf der Hohenzollernbrücke legt das Mädchen sich auf die Gleise, gibt wieder an, Suizid begehen zu wollen. Die Bundespolizei sperrt den Zugverkehr, erneut bleibt Nika unverletzt. Und wieder übergibt die Polizei sie an das Jugendamt, das sich schwer damit tut, eine geeignete Unterbringung für sie zu finden. Zuständig wäre eigentlich das Jugendamt an Nikas Heimatort, aber weil sie sich meistens in Köln aufhält, sind auch die hiesigen Behörden mit im Boot. Eine Pflegefamilie kommt nicht in Frage, sie würde wohl schnell kapitulieren. Für eine vorübergehende Einweisung in eine geschlossene Klinik sehen Psychiater, die Nika untersuchen, zunächst keine hinreichenden medizinischen Voraussetzungen.
Also landet Nika immer wieder bei „KidS“, einer offenen städtischen Einrichtung am Aachener Weiher, in der Kinder in Wohngruppen betreut werden, die nicht in ihren Familien bleiben können. Aber auch dort sind die Betreuerinnen und Betreuer zunehmend überfordert mit dem Mädchen. Es greift Erzieher an und geht auf andere Kinder los. In der Sprache der Pädagogen ist von „massiven Impulsdurchbrüchen“ und einer „niedrigen Frustrationstoleranz“ die Rede. Immer, wenn Nika da ist, steigt die Unruhe im Haus, bei allen Beteiligten. Mehrfach alarmiert das Personal im vorigen Sommer einen Rettungswagen, weil Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über akute Erschöpfung und Überlastung klagen. Schließlich schafft man bei „KidS“ ein individuelles Konstrukt für Nika – mit pädagogischen Fachkräften und einem Raum, in dem sie getrennt von den anderen Kindern untergebracht wird, rund um die Uhr bewacht von Security-Personal. Die Sicherheitsleute bleiben im Haus stets in ihrer Nähe, sie sollen verhindern, dass sie Kinder und Mitarbeiterinnen angreift. Eine Dauerlösung ist aber auch das nicht.
Kurz außer Kontrolle, schon brannten vier Autos
Über das Familiengericht erwirkt das Jugendamt schließlich einen Beschluss für eine weitgehend geschlossene Unterbringung. Nika bekommt einen Platz in einer Einrichtung außerhalb von Köln. Sie ist einverstanden, anfangs jedenfalls. Die Bedingung lautet: Sie muss mitarbeiten. Sprengt sie auch dort die Gruppe und gefährdet andere, muss sie gehen. Und genau das passiert. „Sie kam da an, stellte fest: Das passt mir nicht, und dann hebelte sie das System aus“, sagt Bernd Reuther. „Sie wusste genau, wie das geht. Eine Viertelstunde war sie außer Kontrolle, schon brannten vier Autos.“
Immer wieder zieht es Nika in die Kölner Südstadt, die Gegend um den Chlodwigplatz ist ihr Revier. Zeitweise geht sie zur Schule, dort häufen sich schnell die Strafanzeigen. Dann taucht sie wieder unter, ist für Polizisten und Pädagoginnen tagelang nicht auffindbar. Sie beginnt, Drogen zu nehmen, Heroin. Eine Weile lebt sie auf der Straße, verkehrt in der Junkie- und Obdachlosenszene. Ihre Betreuer und die Polizei bekommen mit, dass sie nachts zu fremden Männern in den Schlafsack kriecht.
„Das zu hören, war eine grausige Vorstellung für mich“, sagt Renate Schäfer Sikora. „Das war eigentlich das Schlimmste.“ An einem sonnigen Tag im Frühjahr sitzt die stellvertretende Leiterin des Amtes für Kinder, Jugend und Familie an einem großen Besprechungstisch im „Haus des Jugendrechts“. Neben ihr Bernd Reuther, der Kommissar. Eine gewisse „Ohnmacht“ habe er verspürt im Umgang mit Nika, räumt er ein. Zwar sieht er die Polizei bei dem Thema grundsätzlich in der zweiten Reihe, „weil wir nicht den pädagogischen Ansatz haben“. Aber es habe ihn sehr beschäftigt festzustellen: „Das funktioniert nicht, was wir machen. Gar nicht. Wir lösen es nicht.“ Nika, sagt Jugendamtsleiterin Schäfer-Sikora, sei ein Extremfall. „Aber wir stellen fest, dass es zunehmend Kinder gibt, denen allein mit pädagogischen Mitteln nicht geholfen werden kann.“ Eine Lösung könne sein, die Kinder- und Jugendpsychiatrie der Uniklinik enger in die Hilfeplanung einzubinden als bislang. „Ein guter Ansatz wäre, dass Ärztinnen und Ärzte das Personal in unseren Einrichtungen beraten, wie man mit diesen Kindern umgeht.“
Jürgen Haas arbeitet seit fast 30 Jahren in der Jugendhilfe. Er leitet die Einrichtung „KidS“ am Aachener Weiher. Dass Nika irgendwann nur noch mit Securitypersonal in Schach gehalten werden konnte, sei „keine pädagogisch kluge Antwort“ gewesen, sagt er deutlich. „Es war Schadensbegrenzung. Wir mussten den Schutz für die anderen Kinder und die Mitarbeitenden sicherstellen.“
Genauso klar sagt Haas: „Aber wir reden hier nicht von Monstern. Es sind Kinder, die Gefühle zeigen, Tränen, Verzweiflung, auch Phasen der Ruhe.“ Auch Nika habe „Phasen der Ansprechbarkeit“ gehabt, der Berührbarkeit. „Man darf nie vergessen: Hinter Wut steckt Traurigkeit, unter hinter Traurigkeit stecken Tränen.“ Aus der Sicht von Kindern wie Nika hat sich die ganze Welt gegen sie verschworen, sagt Ralf Drilling, Psychologe bei „Kids“.
Wie also umgehen mit „Systemsprengern“? Wie umgehen mit Kindern und Jugendlichen, die sich abgelehnt und ausgestoßen fühlen? Und deren Trauer irgendwann in blinde Wut umschlägt?
Das Hilfesystem müsse deutlich flexibler werden, fordert Drilling. Es müsse in der Lage sein, dem Kind genau das zu geben, was es in dem Moment braucht. Die methodischen Instrumente dafür seien vorhanden, ergänzt Jürgen Haas. „Aber wir agieren nach wie vor mit einem versäulten System“, kritisiert er. „Da ist das Jugendamt, da ist die Einrichtung, und da ist die Kinder- und Jugendpsychiatrie. Diese Systeme müssen wir zusammenbringen. Wir müssen enger kooperieren. Das passiert oft nicht.“
In Köln soll sich das nun ändern. Ende des Jahres, vielleicht auch erst Anfang 2023 geht in Brück ein neues Projekt an den Start: Am Brücker Mauspfad hat die Stadt ihre Kinder- und Jugendpädagogische Einrichtung „KidS“ saniert und baulich erweitert. Künftig sollen hier unter anderem vier Wohngruppen mit jeweils sieben Kindern betreut werden – unter anderem soll ein Platz pro Wohngruppe mit einem „Systemsprenger“ belegt werden, eng begleitet von Therapeuten und Pädagogen. „Wir sind gerade dabei, die Teams aufzubauen“, sagt Haas. Durchaus eine Herausforderung in Zeiten des Fachkräftemangels. „Wir werden auch mit diesem Ansatz nicht jedes Kind retten“, befürchtet Haas. „Aber unser Anspruch ist es, jeden Tag das Beste zu geben. Diesen Anspruch muss Jugendhilfe haben. Hat sie ihn nicht, hat sie sich aufgegeben.“
Nika lebt heute in einer Stadt außerhalb von Köln, in einer Wohnung, rund um die Uhr betreut von Pädagoginnen, Therapeuten und einem Securitydienst. Eine hochintensive Einzelmaßnahme, die mehrere tausend Euro im Monat kostet. Es sei ein individuell auf das Mädchen zugeschnittenes Konzept, sagt Renate Schäfer-Sikora vom Kölner Jugendamt. Der Weg dorthin sei schwierig gewesen. Den Durchbruch brachte am Ende ein schlichter E-Mail-Verteiler: Die Leitungsebenen der beiden beteiligten Jugendämter, Uniklinik und Polizei tauschten sich gegenseitig auf kurzem Weg aus, suchten gemeinsam nach einer Lösung, erwirkten einen Gerichtsbeschluss, mit dem Nika einige Wochen geschlossen in der Kinderpsychiatrie untergebracht wurde. Die Zeit nutzten die Beteiligten, um das Setting für die Einzelbetreuung aufzusetzen. Ein immenser Kraftakt. „Entscheidend war letztlich, dass die Ärzte das Mädchen aus dem Drogenkonsum herausgeholt haben“, sagt Kriminalhauptkommissar Bernd Reuther.
Datenschutz erschwert Austausch zwischen Behörden
„Es konnte erst klappen, als sich die Leitungsebenen gekümmert haben“, ergänzt Jugendamtsleiterin Schäfer-Sikora. Wünschenswert sei, dass dies in künftigen Fällen bereits auf der Arbeitsebene funktioniere. „Dazu müssten Strukturen geändert werden.“ Auch strenge Datenschutzvorgaben erschwerten die Vernetzung untereinander, sagt Reuther. Der unkomplizierte Informationsaustausch sei nur möglich gewesen, weil Nikas Eltern ihr Einverständnis erklärten.
Für das Mädchen ist die Einzelmaßnahme vermutlich die letzte Chance. Vor kurzem ist Nika 14 geworden, sie ist jetzt straffällig, es droht der Jugendknast.