Trauer um Olympia-HeldDie Geschichte einer Flucht aus der DDR mitten in Köln
- Kißner zählte damals zu den Vorzeige-Athleten der DDR.
- Der 22-Jährige war mit dem Nationalkader nach Köln gereist, um in dem Müngersdorfer Zement-Oval das begehrte Ticket für die anstehenden Olympischen Spiele klarzumachen.
- In Köln lief Kißner zufällig ein alter Schulfreund aus Weißwasser über den Weg, der zuvor aus der DDR geflüchtet war. „Der brachte mich auf die Idee und bot mir Hilfe an“, berichtete Kißner vor einigen Jahren.
Köln – Die Radsportszene trauert um Jürgen Kißner, der nach kurzer schwerer Krankheit im Alter von 76 Jahren in Köln kürzlich verstorben ist. Nicht nur als Radrennfahrer und Olympia-Teilnehmer war Jürgen Kißner eine Legende. Er schrieb deutsch-deutsche Geschichte. Hier ist sie: Im Jahr 1964 gelang es dem gebürtigen Brandenburger und mehrfachen DDR-Meister Kißner, sich mitten in Köln von der DDR-Mannschaft absetzen. Es war eine spektakuläre Republikflucht per Lastenaufzug im Hotel Mondial am Dom. In den folgenden Tagen spulte sich ein Polit-Krimi ab, in dem auch die Stasi und Reporter des Kölner „Express“ auf der anderen Seite mitmischten.
Jürgen Kißner war Vorzeige-Athlet der DDR
Kißner zählte damals zu den Vorzeige-Athleten der DDR. Der 22-Jährige war mit dem Nationalkader des DDR-Bahnrad-Vierers im September nach Köln gereist, um in dem Müngersdorfer Zement-Oval das begehrte Ticket für die anstehenden Olympischen Spiele 1964 in Tokio klarzumachen. Nach Vorgaben des IOC mussten DDR und Bundesrepublik bis dato eine gesamtdeutsche Mannschaft stellen. So kam es vorher zu deutsch-deutschen Ausscheidungskämpfen. Es waren aufgeladene Prestige-Duelle im Kalten Krieg.
In Köln lief Kißner zufällig ein alter Schulfreund aus Weißwasser über den Weg, der zuvor aus der DDR geflüchtet war. „Der brachte mich auf die Idee und bot mir Hilfe an“, berichtete Kißner vor einigen Jahren dem „Express“ über den spontanen Entschluss zur Flucht. Ein Plan wurde ausgeheckt.
Mit dem Lastenaufzug in die Freiheit
Im Mannschaftsquartier, dem Hotel Mondial, schickte Kißner zur verabredeten Abendstunde seinen Zimmerkameraden unter einem Vorwand schon mal vor zum Essen ins Hotelrestaurant. Kißner erzählte es so: „Ich habe meine persönlichen Sachen zusammengepackt und bin über den Lastenaufzug runter.“ Nur mit einer Tasche in der Hand eilte Kißner zum Hinterausgang des Hotels. Dort wartete schon das Auto, in das er sprang. Ab zur Wohnung des Schulfreundes, ein erstes Versteck.
Am nächsten Tag machten sich die beiden früh zum Kölner Rathaus auf, um die „politische Flucht“ zu melden. Zufällig lief ihnen das DDR-Team über den Weg. „Die wollten mich zur Rückkehr überreden“, so Kißner. Keine Chance.
Stadt Köln stellte eigens ein Auto
Im Rathaus schaltete sich dann der Leiter des Sportamtes ein. Der prominente Flüchtling wurde mit einem eigens georderten städtischen Wagen „an einem sicheren Ort“ gefahren.
Was Kißner da noch nicht wusste: Sein Schulfreund hatte vorher Kontakt mit der Redaktion des „Express“ aufgenommen. „Er hat mich verschachert“, sagte Kißner rückblickend. Und so war in der Ausgabe bereits exklusiv und groß zu lesen: „Bester Zonen-Rennfahrer flieht aus Kölner Hotel!“
Für die SED war das ein politisches Desaster. Die Staatssicherheit wurde aktiv. Zwei Stasi-Offiziere holten die Eltern von Jürgen Kißner abends im Wohnhaus in Luckau ab. Getrennt wurden sie vernommen. Aus der Erinnerung der Familie spielte sich eine Szene so ab. Fritz Kißner, Arzt von Beruf, fragte: „Was ist los?“ Der Stasi-Offizier knapp: „Mit ihrem Sohn ist etwas Fürchterliches passiert.“ Der Vater bohrte nach: „Ja, was denn, ist er tot?“ Der Stasi-Offizier mit ernster Miene: „Nein, es ist schlimmer: Er ist abgehauen!“
Der Plan der Stasi für die Operation Köln
Die Stasi entwickelte einen perfiden Plan. „Man hat meine Mutter direkt eingepackt und nach Köln gebracht. Sie sollte mich zurückholen“, berichtete Kißner.
DDR-Funktionäre telefonierten sich derweil in Köln die Finger wund auf der Suche nach Jürgen Kißner: mit Polizei, Stadt, Einwohnermeldeamt und auch mit der „Express“-Redaktion.
Was dann geschah, schilderte das SED-Organ „Freiheit“ so: „Am Abend, als sich die Tragik einer ihren Sohn suchenden Mutter zu einer der unmenschlichen Skandale der westdeutschen Menschenhändlerpraktiken auszuweiten droht, treten drei Strohmänner der Menschenräuber mit Frau Kißner in Verbindung.“
Reporter waren bei der Täuschung der Stasi dabei
„Express“-Reporter waren dabei, als ein Treffen zwischen Mutter und Sohn vereinbart wurde. Als Frau Kißner abgeholt werden sollte, standen dann plötzlich drei Autos vor dem Hotel. Die Stasi verlor den Überblick, welchen Wagen sie verfolgen sollte, die alle kreuz und quer durch Köln fuhren.
In einer Kneipe am Kölner Ring konnten sich so Mutter und Sohn ungestört in die Arme nehmen. Kißner schilderte es später so: „Meine Mutter hat mir dann nur gesagt: »Junge, jetzt hast du es gemacht, jetzt musst du hier bleiben, sonst ist alles vorbei für dich.« Und zum Schutz meiner Mutter und meines Vaters haben wir uns dann die Geschichte ausgedacht, dass sie mich kaum wiedererkannt hätte.“
In ostdeutschen Zeitungen hieß das: „in seinem Wesen völlig verändert“, „apathisch“, „unter den Einwirkungen der Abwerber stehend“ und schließlich: „Menschenraub: Jürgen Kißner unter Drogen!“
Jürgen Kißner blieb in Köln und nahm ein Studium an der Sporthochschule auf. Ein Studium hatte man ihm in der DDR wegen seines bürgerlichen Elternhauses stets verweigert – auch ein Fluchtmotiv. Nach einer Sperre fuhr er wieder Radrennen, jetzt für die Bundesrepublik. Und wie! Deutscher Meister, Vizeweltmeister.
Aus Rache! Goldraub bei Olympischen Spielen in Mexiko
Dann die Olympischen Spiele 1968 Mexiko. Der Bahnvierer mit Kißner ist im Finale. Doch Ostblock-Funktionäre sorgen dafür, dass das sichere Gold aberkannt wurde. Ein Rempler von Kißner wird als verbotenes Anschieben gewertet. Disqualifikation! „Skandal! Goldraub!“, schäumten Zeitungen. Eine mutmaßte sogar, Kißner sei mit Absicht vom Osten in das bundesdeutsche Team eingeschleust worden, um Sabotage zu üben.
Lächerlich! Später wurde dem Bahnvierer am grünen Tisch zumindest Silber zuerkannt.
Bis 1978 wurde Jürgen Kißner hier von der Stasi beobachtet: „Mielke selbst hat dann meine Verfolgung eingestellt“, sagte Kißner dem Express.
Radsportverband verneigt sich
Nach seiner aktiven Karriere arbeitete Kißner als Landestrainer im Radsportverband NRW und bereitete Udo Hempel und Günter Schumacher auf die Olympischen Spiele 1972 in München vor. Bis 2007 war er Lehrer, Sport und Biologie, an der Gesamtschule Rodenkirchen.
„Bis vor wenigen Tagen war Jürgen Kißner noch auf der Albert-Richter-Bahn in Müngersdorf aktiv“, so der Radsportverband. „Seine immense Erfahrung hat der Radsporttrainer gerne weitergegeben. Gerade der ganz junge Radsportnachwuchs lag ihm besonders am Herzen. Jürgen Kißner hinterlässt eine Lücke, die nicht einfach zu schließen ist. Seine freundliche, motivierende Stimme fehlt schon jetzt.“ (red)