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Kölner hilft nach Erdbeben in Hatay„Bei 30 Toten habe ich aufgehört zu zählen“

Lesezeit 5 Minuten
Murat in Hatay vor einem eingestürzten Haus.

Murat S. sitzt in Hatay vor einem eingestürzten Haus.

Murat S. aus Köln wollte in der türkischen Stadt Hatay auch seine eigene Familie retten – vergeblich. Vor Ort hat er Schreckliches erlebt.

Als Murat S. in Köln die Nachricht vom verheerenden Erdbeben in der Türkei hört, ist für ihn sofort klar: „Ich fliege dahin und helfe.“ Es sind auch viele Angehörige aus seiner eigenen Familie, die nach der Katastrophe in der Türkei vermisst werden. Ein 20-jähriger Cousin ist unter den Trümmern eingeklemmt, den will er unbedingt lebend herausholen.

Kölner in der Türkei: Schutzhelm, Arbeitskleidung und Bargeld dabei

Von Düsseldorf aus fliegt er über Istanbul nach Adana und hat zu diesem Zeitpunkt noch keine genaue Idee, wie es in der Türkei weiter geht. Hauptsache da sein. In seinem Koffer befinden sich ein Schutzhelm, Arbeitskleidung, feste Schuhe und ein Schlafsack. Außerdem hat er Bargeld dabei.

Es ist zum Teil sein eigenes Geld, zum Teil sind es Spenden, die seine Partnerin Alina und er in einer privaten Sammelaktion zusammengetragen haben. Der Abschied am Flughafen ist für beide schrecklich. Murat weiß nicht, was ihn erwartet, Alina macht sich Sorgen um ihren Mann. Aber er hat keine andere Wahl.

Alina und Murat beim Abschied am Düsseldorfer Flughafen.

Abschied ins Ungewisse am Düsseldorfer Flughafen.

In Adana angekommen lernt Murat am Flughafen professionelle amerikanische Helfer kennen, die mit Spür- und Rettungshunden angereist sind. Sie schließen sich zusammen und machen sich gemeinsam auf den Weg nach Hatay, wo auch Murats Familie verschüttet ist. Von großem Vorteil ist, dass Murat Deutsch, Englisch und Türkisch spricht, so kommt er vor Ort an Informationen, die nicht für alle offensichtlich sind.

Er erfährt, dass die türkische Armee Helikopter zur Verfügung stellt, weil die Straßen entweder zerstört oder zu voll sind. Mit den Amerikanern und deren Hunden fliegt er nach Hatay. „Natürlich wäre ich am liebsten als Erstes zu den Häusern meiner Familie gefahren, vor allem, um meinen Cousin zu finden, aber als wir ankamen, war klar: Hier gibt es keine Prioritäten und keine privaten Befindlichkeiten. Alles ist gleich wichtig.“

Murat S. sitzt im Helikopter mit den amerikanischen Helfern.

Murat im Helikopter mit den amerikanischen Helfern.

Nach dem Erdbeben: Sie graben mit Händen durch Steine und Schutt

Sie fragen vor Ort herum, wer wo etwas gehört hat und wo noch Menschen vermutet werden. Gemeinsam ziehen sie von einem Haus zum nächsten und wühlen mit bloßen Händen durch Steine, Schutt und Staub. „Jeder hilft hier mit, selbst die Betroffenen, die überlebt haben. Sie haben gerade ihre eigene Familie geborgen, klopfen sich den Dreck von den Klamotten und machen weiter“, erzählt Murat.

Spür- und Rettungshunde aus den USA

Die Spür- und Rettungshunde der amerikanischen Helfer.

Ein koreanisches Helferteam hat Wärmebildkameras dabei und schließt sich dem Suchtrupp um Murat an. Wenn jemand ein Geräusch hört, werden alle sofort ganz still und bewegen sich nicht mehr, um zu lokalisieren, wo es herkommt. Dann beginnen die Spürhunde zu schnüffeln. Wenn sie bellen, heißt es: Da ist noch ein Mensch. Ob der noch lebt oder schon tot ist, können sie nicht unterscheiden.

Die Helfer tragen an dieser Stelle vorsichtig den Schutt ab und suchen nach dem Menschen. „Alle, die wir gefunden haben, waren tot und mit Staub, Dreck und Blut bedeckt. Bei 30 Toten habe ich aufgehört zu zählen. Am schlimmsten ist es, wenn man Kinder findet oder Spielsachen von ihnen sieht“, sagt Murat.

Kein Schlaf und nur Salzstangen gegessen

Die Verstorbenen werden in Leichensäcke verpackt und auf der Straße gesammelt. Zeit zu trauern oder innezuhalten gibt es nicht. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit „denn mit jeder Sekunde stirbt jemand weiteres“, fasst Murat die Situation am Telefon zusammen. Im Hintergrund sind ununterbrochen Sirenen und laute Stimmen zu hören, mehrmals bricht die Verbindung ab.

Seit seiner Ankunft hat er nicht geschlafen und nur eine Handvoll Salzstangen gegessen. „Es ist sehr anstrengend. Man fühlt sich so, als würde man gegen etwas kämpfen, gegen das man keine Chance hat, was überhaupt keinen Sinn macht“, sagt er.

Helfer auf einem Trümmerberg in Hatay.

Helfer auf einem Trümmerberg in Hatay.

Am Samstagnachmittag scheint dann alle Hoffnung verloren zu sein. Es kommt die Ansage, dass jetzt nur noch aufgeräumt werde und mit Überlebenden nicht mehr zu rechnen sei. Das ist für Murat schwer zu verstehen: „Ich kann doch jetzt nicht gehen, hier ist noch so viel zu tun! Die Hoffnung, doch noch jemanden zu finden, hält uns im Flow“, sagt er. Aber auch er weiß, dass es nichts mehr nützen wird.

Und dann erhält er die Nachricht, dass es sein Cousin ebenfalls nicht geschafft hat. Der 20-Jährige ist gestorben, mehrere Schwägerinnen, Schwager und auch Kinder aus seiner Familie ebenfalls. Am Abend will er versuchen, seine Tante zu besuchen. Wohl eine der schwierigsten Aufgaben, die ihn erwartet.

Von Köln aus die Hilfe koordinieren, die wirklich gebraucht wird

Wenn er einen Flug bekommt, wird er in den kommenden Tagen nach Deutschland zurückkehren und von Köln aus weiterhelfen, unter anderem mit Geld. „Uns ist es wichtig, dass die Hilfe wirklich da ankommt, wo sie gebraucht wird“, macht Alina klar. Das bis jetzt gespendete Geld hat Murat vor Ort den Menschen gegeben, die es am dringendsten brauchten. „Ich habe Menschen getroffen, die nichts mehr zum Anziehen hatte. Weinende Mütter, die ihre Kinder nicht versorgen können. Denen habe ich Geld gegeben, damit sie sich etwas kaufen können“, erzählt Murat.

Die akuten Rettungsmaßnahmen sind beendet, die Arbeit wird deshalb aber nicht weniger werden. Im Gegenteil. „Jetzt kommt es darauf an, was in den kommenden Wochen passiert. Die Menschen in der Türkei haben nichts mehr. Deshalb ist jede noch so kleine Spende willkommen. Wirklich alles hilft weiter“, sagt Alina.

Außer Geld werden auch viele Sachspenden gebraucht. Das Chaos vor Ort ist momentan noch groß, Kartons mit Spenden, die es schon in die Türkei geschafft haben, liegen teilweise einfach auf der Straße, ohne dass jemand den Inhalt sortiert oder verteilt. „Dafür haben die Menschen momentan einfach noch keine Zeit. Es ist deshalb wichtig, konkret zu fragen, was wo gebraucht wird. Wir wollen eine Schnittstelle sein zwischen den Helfern vor Ort und den Menschen in Köln, die spenden wollen“, sagt Alina. Alle Menschen, die etwas spenden wollen, werden gebeten sich unter der Adresse hilfehatay@yahoo.com zu melden und zu fragen, was benötigt wird.

Hier können Sie spenden

Spenden können Sie online über diesen Link https://gofund.me/1467297a oder per Überweisung an Hilfe für Hatay, IBAN: DE95 1001 1001 2626 2845 50, Betreff: Hatay