Ute Schneiders Tochter litt an Nierensteinen, niemand traute sich zu, sie zu operieren. Die verzweifelte Suche nach einem Spezialisten führte sie nach Köln.
Zweitmeinung rettet Tochter das LebenVerzweifelte Mutter fuhr 1600 Kilometer nach Köln

Laura Schneider wäre an ihren Nierensteinen beinahe gestorben. An der Uniklinik Köln konnte man ihr und ihrer Mutter Ute helfen.
Copyright: Uwe Weiser
An einem heißen Tag Ende Juni saust Laura Schneider rückwärts neun Meter in die Tiefe. Nach einer Drehung kann sie auf den Schwarzwald blicken, wenn auch nur kurz, denn schon fädeln die Metallschienen, auf der ihr Schiff entlanggleitet, sie mit 80 Sachen unter einem Schiffswrack hindurch, ehe das Boot spritzend ins Wasser platscht. Fröhliche Schreie übertönen das Donnergeräusch des türkisfarbenen Wassers. Es ist Lauras 22. Geburtstag. Sie feiert ihn mit ihrer Mutter und den vier Geschwistern im Europapark in Rust.
Drei Monate zuvor hatten die Ärzte in Norddeutschland die junge Frau totgesagt. „Was wollen Sie ihr noch zumuten? Hier ist Ende. Das lohnt sich nicht“, habe man der Mutter schnörkellos mitgeteilt. Die Diagnose: Nierensteine beidseitig, teils bis zu fünf Zentimeter groß, bei einer Operation könnten Organe verletzt werden. Die Prognose sei schlecht.
Der Weg zur Zweitmeinung führte von Norddeutschland nach Köln
Patientinnen und Patienten, die eine verheerende Diagnose ereilt, sind verzweifelt. Zu der Angst um die Gesundheit oder gar das eigene Leben gesellt sich oft eine Unsicherheit: Was, wenn der Arzt nicht alle Therapiemöglichkeiten in Erwägung gezogen hat? Was, wenn es doch eine Chance gibt?
Die Uniklinik Köln hat es sich zur Aufgabe gemacht, in diesen Fällen ein Sicherheitsnetz zu bieten. Per Mail können Patienten aus ganz Deutschland hier um eine Zweitmeinung bitten. „Das sehe ich auch als unsere Aufgabe als Uniklinik: Bei Krankheitsbildern zu beraten und den Patienten zu helfen, die eben einer komplexen Behandlung bedürfen“, sagt Professor Axel Heidenreich, Direktor der Klinik für Urologie und Leiter des Uro-Onkologischen Zentrums an der Uniklinik Köln. Die Kosten für die Zweitmeinung übernehmen die gesetzlichen Krankenkassen.
Laura kann vieles auch gut: Wasserbahn fahren zum Beispiel
Ute Schneider (alle Namen der Familie geändert), 48 Jahre alt, Mutter von fünf Kindern, im Norden zu Hause, ringt ein wenig nach Luft, wenn sie ihre Geschichte erzählt. Sie sitzt auf einer Patientenliege in der Uniklinik Köln, auf ihrem Schoß kuschelt Laura, neben ihr hat Tochter Emma den Kopf an den Oberarm der Mutter geschmiegt. Schneider bebt, sie spricht sehr schnell. Als wolle sie möglichst viele Informationen weitergeben, ehe der Luftstrom endet und sie zum Einatmen eine Pause machen muss.
Schneider will keine Pause machen. Die Empörung muss raus. Denn ihre Tochter Laura soll leben. „Natürlich lohnt sich das. Das lohnt sich bei ihr ebenso wie bei allen anderen auch.“
Laura Schneider ist mehrfach behindert. Sauerstoffmangel unter der Geburt. Sie ist sehr klein, sie ist sehr dünn. 21 Kilogramm wiegt Laura in ihren besten Zeiten. Ihr linkes Bein liegt schief, der Hüftknochen ist aus der Pfanne gerutscht. Sie kann einige Dinge bis heute nicht. Laufen, sprechen und alleine essen zum Beispiel. Sie kann aber vieles andere sehr gut. Wasserbahn fahren zum Beispiel. Mit der Mutter und den vier jüngeren Geschwistern im Kleinbus in den Urlaub fahren. Ballettvorstellungen besuchen. Sich die Fingernägel lackieren lassen. Ihren Geschwistern beim Zocken zugucken. „Ich gehe auch mit ihr reiten und setze sie zu mir aufs Pferd. Sie kommt zu allen Fußballspielen meiner Söhne mit. Wir machen das alles so, wie Familien das eben machen.“
Die Ärzte sagten: „Sie müssen ihr Sterben akzeptieren“
Ute Schneider packt nach der verheerenden Diagnose im vergangenen März also ihre Tochter in den Kleinbus, der in der Tiefgarage der norddeutschen Klinik steht, und fährt nach Hause. Im Ohr rauschen noch die Stimmen der Ärzte: „Sie werden niemanden finden, der sie operiert. Sie müssen ihr Sterben akzeptieren.“
Schneider akzeptiert nichts. Sie setzt sich an den Computer und sucht nach dem Wunder: ein Urologe, ein Spezialist, ein Fachmann bei der Behandlung von Menschen mit mehrfachen Behinderungen. Einer, der sich den Eingriff zutraut. Viele Kliniken in ganz Deutschland hat sie nach dieser Person durchsucht. Als sie fündig wird, hat sie 1600 Kilometer auf dem Tachometer.

Oberarzt Dr. Enno Storz untersucht die Nieren der Patientin. „Das ist ein Tipptopp-Ergebnis.“
Copyright: Uwe Weiser
Dr. Enno Storz fährt mit dem Ultraschallkopf über Lauras Rücken, seine Augen fixieren den Bildschirm, über den er in ihre Nieren blicken kann. Auch Laura verfolgt das Geschehen aufmerksam. „Da kann alles gut abfließen. Sie kann gut entgiften. Das ist ein Tipptopp-Ergebnis“, sagt Storz.
Lauras Zustand hat sich nach der Operation stabilisiert
An der Uniklinik ist er Experte für Nierensteine, die minimalinvasiv entfernt werden müssen. Laura Schneider summt vergnügt vor sich hin. Auf ihrem Sweatshirt prangt eine blaue Palme, Beach-Club steht da. Ute Schneider drückt die Hand ihrer Tochter. Zweimal hat Dr. Storz Laura im vergangenen Jahr endoskopisch operiert. Einmal im Sommer, kurz nach Lauras Besuch im Europapark, einmal im November, schon am darauffolgenden Tag schob Ute Schneider ihre Tochter mit der Laterne durch das Heimatdorf. Ein funkelnder Stern. Storz konnte alle Steine beseitigen. Seither hat sich Lauras Zustand stabilisiert. „Die Wahrscheinlichkeit, dass die Steine zurückkommen, ist gering. Mit guter Pflege kann ihre Tochter damit alt werden.“
Professor Axel Heidenreich erklärt das Wunder: „Wir haben hier die urologisch-operative Erfahrung, wir haben hier die entsprechenden Anästhesisten, aber auch eine hervorragende postoperative Betreuung auf der Kindernephrologie. Dadurch können wir hier Kinder oder Menschen mit schweren Behinderungen behandeln, die in vielen anderen Kliniken abgelehnt werden.“ Und dazu habe man einen Fachmann wie Storz, der auch Kinder operieren könne und deshalb auch mit der Anatomie einer kleinen Erwachsenen keine Schwierigkeiten habe.
Uniklinik Köln: Heidenreich bekommt jährlich 600 Mails
Schneider ist nicht die einzige, der man in Köln helfen konnte. Knapp 600 Mails bekommt allein Heidenreich, so sagt er, jährlich, in denen Patienten aus ganz Deutschland ihn um eine Zweitmeinung bitten. Er beantworte alle oder leite sie an den zuständigen Experten weiter, vergibt Termine oder lädt zur Videosprechstunde ein.
Der Eingriff, einmal über die Seite, einmal über die Harnröhre, war komplex, die Behandlung der Ursache für die Nierensteine dagegen fast banal: „Vornehmlich bedurfte es einer Ernährungsumstellung. Durch das viele Liegen wird viel Kalzium aus dem Knochen freigesetzt. Hinzu kam der hohe Kalzium- und Vitamin-D-Gehalt der Sondennahrung, mit der die Patientin ernährt wurde. Zusammen trieb das den Kalziumwert im Körper in die Höhe und verursachte die Steine in der Niere“, erklärt Storz. Die Lösung: Laura löffelt jetzt kalziumarme Babynahrung, statt Sondenkost zu trinken.
Da gesetzlich Versicherte ihren Arzt oder ihre Ärztin frei wählen können, kann jeder Patient nach grundsätzlich jeder Diagnose einen weiteren Mediziner seiner eigenen Wahl zu Rate ziehen. Zweitgutachter können ihre Beratungsleistungen mit der gesetzlichen Krankenkasse abrechnen. Die AOK Rheinland/Hamburg weist auf Anfrage allerdings darauf hin, dass für die konsultierten Ärztinnen und Ärzte auch hier das Wirtschaftlichkeitsprinzip und somit die Vermeidung von medizinisch nicht notwendigen Doppelbehandlungen gelte.
Wer eine Zweitmeinung einholen möchten, sollte laut Verbraucherzentrale NRW den behandelnden Arzt oder die behandelnde Ärztin darüber informieren und sie bitten, Berichte, Laborwerte und Ergebnisse von Röntgenuntersuchungen auszuhändigen. Alle Patienten haben grundsätzlich das Recht, die vollständige Patientenakte einzusehen oder eine Kopie zu verlangen. Alternativ kann eine elektronische Abschrift erbeten werden.
Gesetzlich Versicherte können bei bestimmten planbaren Operationen aber auch von einem strukturierten Zweitmeinungsverfahren nach § 27b des Sozialgesetzbuchs profitieren. Dieses wurde 2019 eingeführt und hat den Vorteil, dass teilnehmende Ärzte eine besondere Qualifikation dafür vorweisen müssen. Sie dürfen zudem nicht in der selben Praxis oder Klinik wie der erste Arzt arbeiten.
Für folgende Operationen ist es gesetzlich vorgeschrieben, dass der erstbehandelnde Arzt seinen Patienten spätestens zehn Tage vor dem geplanten Eingriff auf die Möglichkeit einer Zweitmeinung hinweisen muss: Amputation beim Diabetischen Fuß, Mandel-Op, Gebärmutterentfernung, Op bei Aneurysma, Herzkatheter-Untersuchung, Implantation Herzschrittmacher, Künstliches Hüftgelenk, Ersatz Kniegelenk, Arthroskopie der Schulter, Operationen der Wirbelsäule. Spezialisten nach Diagnose und Wohnort erhalten Patienten hier.
Das Sterben hat man abgesagt, Laura wird weiterleben
In der Cafeteria der Uniklinik gibt es erst einmal ein Getränk und ein paar Süßigkeiten für die sieben Jahre alte Emma. Schon um drei Uhr morgens musste sie aufstehen, um ihre Mutter und ihre Schwester zur Untersuchung nach Köln zu begleiten. Von der Schule ist sie in solchen Fällen befreit, die großen Brüder kommen einen Tag allein zu Hause klar. Ute Schneider wirkt fast ein bisschen sprachlos. Wie ein Fußballtrainer, der immer an den Titelgewinn geglaubt hat, als einziger in der Mannschaft, und dem dann doch schwindelig wird vor Glück, wenn er die Trophäe tatsächlich in die Hand gedrückt bekommt. Das Sterben hat man abgesagt, Laura wird weiterleben. „Sie ist integriert in ihre Familie. Sie hat vier jüngere Geschwister“, sagt Ute Schneider. „Ich bin immer für sie da. Me-Time? Sowas brauche ich nicht. Schon bei der Vorstellung, allein mit Freundinnen rauszugehen, schnürt sich mir der Hals zu. Ich mache alles mit meiner Familie. Das ist mein Leben.“
Laura wird im Sommer mit der ganzen Familie nach Marbella reisen, baden, sich sonnen, sie wird dabei sein, wenn die Mutter im Garten die Beete harkt, zu Silvester planen die beiden einen Besuch beim Schlagerboom. Und ganz bestimmt wird sie irgendwann mal wieder schreiend vor Glück mit der Atlantica in Rust in die Tiefe donnern.