Lövenich – Es ist frisch geworden über Nacht, Tom Bartels trägt einen dunkelblauen Schal unter der hellblauen Daunenjacke. Vor seiner Haustür in Lövenich begrüßt er seine Nachbarin, Frau Rong. Und Frau Rong findet, dass es Zeit ist für ein paar Klarstellungen. Erstens: „Ich bin 89 Jahre alt.“ Zweitens: „Ich wohne seit 1957 hier.“ Viel länger als Tom Bartels, seine Partnerin Tina Schlosser und Josh (12), die seit 2003 im Kölner Westen leben. Len (9), der jüngste Sohn der Familie, kennt nur den Wohnort Lövenich. „Frau Rong“, sagt der Sportmoderator, „hat uns alles über die Geschichte dieses Stadtteils erzählt.“ Wir stehen vor dem Rosenplatz, einer kleinen Grünanalage, die Gärten stehen voll mit mächtigen Laub- und Nadelbäumen. Hat alles der Großvater gepflanzt, 1957, sagt Frau Rong. „Damals war es laut hier, die Züge.“
Züge passieren den Stadtteil heute noch, Güterverkehr und S-Bahn, es gibt auch einen S-Bahnhof in Lövenich. Doch die Anlage ist weit weg, mehr als einen Kilometer. Heute ist nichts mehr von der Rumpelei von einst zu hören. „Ich kann gar nicht glauben, dass hier alles mal offen war. Und laut“, sagt Tom Bartels in die Stille des kalten Vormittags.
Die Haltestelle Lövenich ist ein wichtiger Treffpunkt für Bartels. Von hier aus startet er in die Welt. Fährt zu Bundesliga-Spielen, um sie anschließend für die Sportschau zu kommentieren. Rast ins Studio des SWR nach Stuttgart, um dort „Sport im Dritten“ zu moderieren; oder nach Mainz als Gesicht der Sendung „Flutlicht“. Oder fährt nach Frankfurt, um von dort mit dem Flugzeug in die Welt zu starten. Nach Brasilien zum Beispiel. Wie im Sommer 2014. Dort war er 35 Tage.
Wir erreichen den Bahnhof, Bartels sagt: „Ich kenne hier jeden Stein.“ Den Fahrplan zum Kölner Hauptbahnhof hat er im Kopf – „Abfahrt immer um 18 Minuten nach der vollen Stunde“. Bartels Stimme ist unverkennbar, tief, klar, laut. Die bekannte Fernseh-Stimme. Die Stimme, die „Mach ihn. Mach ihn. Er macht ihn“ schrie, hoch und laut. Das war am 13. Juli 2014, 113. Minute. Bartels saß auf der Reportertribüne des Maracana-Stadions von Rio de Janeiro. Die „Mach ihn“-Sätze sind ihm rausgerutscht, als Mario Götze das 1:0 gegen Argentinien erzielte. Die Entscheidung. Bartels hat den WM-Sieg stimmlich in die deutschen Wohnzimmer und auf die Fanmeilen getragen.
Tina Schlosser erzählt noch, wie hektisch es immer werde im Hause Bartels, wenn eine Abfahrt bevorstehe: „Um Viertelnach ruft Tom immer: Tina, Wagen drehen, los jetzt.“ Gerade noch so und irgendwie („wie sage ich nicht“) schafft sie es, „doch noch, den Tom pünktlich am Bahnhof abzusetzen“. Und der „fährt dann um 18 nach gemütlich als wäre nichts gewesen, zum Kölner Hauptbahnhof“.
Eine Stunde später sitzen wir bei Nico in einem italienischen Restaurant. Es liegt auf dem Klubgelände des TC Brauweiler, dessen Vorsitzender Tom Bartels ist. Nico sagt: „Ciao Thomas“. Thomas, nicht Tom. Es ist die korrekte Bezeichnung. So nannten ihn seine Eltern am 13. September 1965, dem Tag seiner Geburt.
Bei Nico ist Bartels Stammgast. Die Außenterrasse ist renoviert, im Sommer „ist es herrlich hier“. Nico sei ein vorzüglicher Gastgeber: „Er hat ja immer auf.“ Doch Nico sagt: „Nein, Thomas. Weihnachten mache ich für drei Tage zu.“
Das Finale war nicht nur für Götze und seine Mitspieler der bisherige Höhepunkt ihrer Karrieren. Auch Bartels bezeichnet das Spiel als „wichtigsten Abschnitt meines beruflichen Lebens“. Und er ist „relativ froh, dass es gut gelaufen ist. Dass ich keine Sprachunfälle gebaut habe.“ Die Situation vor dem Spiel war schon sehr nervenaufreibend. Bartels konnte sich so gut zureden wie er wollte, die Situation so sehr abschwächen, wie nur möglich – am Ende blieb bei ihm auch gedanklich immer die wichtigste Tatsache stehen: „Es wird jeder zuschauen. Jeder. Das ist nicht so einfach zu verstehen. Eine größere Bühne gibt es nicht.“ Und es ist nicht einfach, damit umzugehen. Bartels hatte nur einen Wunsch: „Bitte lass mich einen Tag haben, an dem ich keine Aussetzer habe. Bitte nicht verhaspeln. Bitte alle Spieler erkennen. Bitte alle Spielsituationen richtig deuten und erklären.“
So ist es dann gekommen. „Mit dem von mir produzierten Ergebnis kann ich gut leben“, sagt Bartels. Und die „Mach ihn“-Sätze? „Kamen aus dem Nichts. Unvorbereitet. Ich weiß nicht, ob ich das so schon mal gesagt habe.“ Jetzt ist es so. Da kann sich Bartels nicht mehr wehren. Er wird immer wieder darauf angesprochen. Ein Spieler des 1. FC Köln etwa hat ihm per Whatsapp ein Video geschickt, in dem er die Lippen zu Bartels’ Jubelkommentar bewegt. „Ist okay so, freut mich sogar“, sagt der Sprecher.
Bartels ist bekannt für seine akribische Recherche, bei Skisprung-Reportagen kann er die Trainer, den Sprungstil, die Skimarke, die Landepräferenzen und die Windverträglichkeit jedes Athleten und noch viel mehr Details abrufen. Beim Schwimmen, der dritten großen Sportart, die er moderiert, weiß er alles über die Wasserqualität des gerade vorhandenen Beckens, über die Zeiten der Stars und ihre Entwicklung; über Startblockaktivitäten und Jubelgesten. Und nach dem Tor im Maracana erwähnte er, dass Siegtorschütze Götze seine Technik bei Borussia Dortmunds Jugendtrainer Volker Pröpper gelernt habe. „Daraufhin ist der Pröpper wohl vom Sessel gefallen. Der konnte einfach nicht glauben, dass ich seinen Namen erwähnt habe“, erzählt Bartels.
Die Schlussworte, der wichtige große Satz jedoch, den sich Bartels im Falle eines Sieges vorgenommen hat zu sagen, das war keine „Mach ihn“-Inspiration, sondern zurechtgelegt. „Mir fiel etwas zur Christus-Statue ein, die ich vor dem Spiel gesehen habe.“ Und herausgekommen ist dann gleich nach dem Schlusspfiff: „Jetzt ist es vollbracht. Ja, ja und noch mal ja. Deutschland ist zurück im Fußball-Himmel. Weltmeister!“ All diese Sätze werden nun immer wieder ausgegraben, wenn es um diese WM, das Tor, den Sieg und die letzten Worte zum Spiel geht.
Nach einem Zwischenstopp bei RTL und Premiere hat Bartels inzwischen mit dem SWR einen neuen Arbeitgeber. Seine fest definierten Arbeitsbereiche: Moderation, Kommentierung von Fußballspielen, Skispringen und Schwimmen – „perfekt“, sagt er.
Für die TV-Auftritte müssen seine Anzüge fein gebügelt und aufbereitet sein. Dafür hat er eine Stamm-Reinigung gefunden: Gilles am Rhein-Center in Weiden. Der Besitzer freut sich über Bartels Besuch: „Was haben wir denn heute dabei?“ Bartels zählt durch: „Sechs Hemden. Ein Anzug. Eine Hose.“ Könne er alles morgen abholen. Bartels ist zufrieden.
Daheim in Lövenich, in einer abgelegenen Welt, in der seine Kinder ihre Leidenschaft für seltene, dort lebende Vögel („So was hast du hier auch!“) entdeckt haben, findet Bartels die Ruhe, die er nach seinen Einsätzen braucht: „2014 war ich 180 Tage von zu Hause weg.“ An Lövenich schätze er, „dass es ein praktisches Wohnen ist, nicht nur für mich und Tina ist hier alles in der Nähe – auch für die Kinder: Kindergarten, Schule, Fußballplatz, Freunde, Natur“.
Bartels lebt seit 1989 in Köln, damals ist er zugezogen aus Melle in Niedersachsen. Er hat an der Sporthochschule studiert und fand über den WDR zum Fernsehen. Und blieb im Rheinland, obwohl sein Arbeitgeber in Stuttgart residiert. „Ich fahre zu diversen Sitzungen. Den Rest klären wir telefonisch“, sagt Bartels.
In Lövenich liegt auch Bartels’ bevorzugtes Jogging-Revier, obwohl es sich in der jüngeren Vergangenheit extrem verändert hat: „Anfangs bin ich durch freie Landschaft und Felder bis zu einer Stelle gelaufen und wieder umgekehrt.“ An dieser Stelle im Neubaugebiet Widdersdorf stehen nach wie vor fünf Linden, ein Wegkreuz und eine Parkbank. Bartels wundert sich immer wieder über die ständigen Veränderungen: „Inzwischen laufe ich hier durch ein Spalier von Wohnhäusern. Unglaublich. Das hat was von Metropolis. Ich kann da nur staunen.“
Frau Rong geht es genauso.