Die Betten zu kurz, die Stühle zu niedrig, jeder Kleiderkauf eine Herausforderung – und das Küssen sowieso: So geht es Menschen, die sehr viel größer sind als der Durchschnitt.
Einige von ihnen sind im Kölner „Club langer Menschen” versammelt. Autorin Petra Pluwatsch, selbst nur 1,67 Meter groß, hat drei Riesen und eine Riesin zum Gespräch über die Vor- und Nachteile des großen Daseins getroffen.
Aus unserer Best-Of-Reihe.
Köln – Wenn Rainer Storz etwas nicht leiden kann, dann sind das diese Blicke im Fahrstuhl. Rauf, runter. Rauf, runter. Schuhe, Scheitel. Schuhe, Scheitel. „Irgendwann kommt dann unweigerlich die Frage: »Wie groß sind Sie eigentlich«?“ Nun, Storz ist 1,98 Meter groß. Gardemaß.
Er trägt Konfektionsgröße 106. Sein Bett ist extra-lang und extra-hoch. Wenn er seine 1,65 Meter große Ehefrau küssen will, steigt die schon mal auf eine „Kuss-Stufe“. Inzwischen, sagt Storz (48), könne er problemlos mit seiner Größe umgehen. Bis auf die Sache mit dem Fahrstuhl. „Ich sehe es nicht als Manko an, größer zu sein als die meisten Menschen, und ich leide auch nicht darunter.“
Best-Of-Artikel
Dieser Artikel ist im Januar 2018 im „Kölner Stadt-Anzeiger” erschienen. Im Rahmen unserer „Best Of”-Reihe veröffentlichen wir regelmäßig interessante Texte aus unserem Archiv.
Das war früher anders. Bei der Geburt misst Storz 59 Zentimeter. Ein großes Kind, doch längst nicht jenseits der Norm. In der Grundschule ist er bereits größer als alle anderen seines Jahrgangs. In der elften Klasse ist er der Größte an der Schule.
„Als ich 13 war, habe ich im Kinderkrankenhaus an der Amsterdamer Straße in Köln-Niehl eine Handwurzelknochenuntersuchung machen lassen.“ Anhand der Wachstumsfugen in der Hand kann die Größe, die ein Mensch vermutlich erreichen wird, schon im Jugendalter bestimmt werden.
„Als der Arzt sagte: Du wirst 1,98 Meter, war ich total erleichtert. Damit konnte ich leben. Hätte man mir gesagt: Du wirst 2,10 Meter, hätte mich das damals sehr bedrückt.“
Tagtäglich wird der Heranwachsende mit seiner ungewöhnlichen Körpergröße konfrontiert. „In der Tanzschule wollten viele Mädchen nicht mit dem Langen tanzen.“ Storz versteht das sogar, „Die Ergonomie ist einfach besser, wenn der Mann nicht zwei Köpfe größer ist als die Frau.“
Hosen und Ärmel sind oft zu kurz – Klamotten von der Stange passen Männern wie Storz nur bedingt. „Doch gerade als großer Mensch wollen Sie nicht mit einer zu kurzen Hose herumlaufen. Das sieht albern aus.“ Markenfirmen, oft die einzigen, die auch Größen für XXL-Menschen im Angebot haben, kann er sich als Schüler und später als Student nicht leisten.
Heute sitzen die Anzüge. Hosenbeine und Jackettärmel enden genau da, wo sie enden sollen. „Mit Geld lässt sich im Alltag eine Menge regeln“, sagt Storz, der als kaufmännischer Leiter arbeitet. Und: „Großsein ist teuer.“ Das Motorrad, das er seit kurzem fährt, war nicht das Billigste.
Doch eine andere Marke als eben diese eine kam bei seiner Beinlänge nicht in Frage. „Weil sich bei einem Motorrad Sattel und Lenker nicht verstellen lassen.“ Das Fahrrad hat einen extra großen Rahmen, der Haushalt, sagt Storz, sei seiner Größe angepasst. „Man will schließlich gescheit leben.“
„Brille zu schmal, Uhrband zu eng, Ärmel zu kurz“
Dass das mitunter nicht ganz einfach ist, wissen auch die anderen Mitglieder aus dem „Klub langer Menschen“. Natascha Pinke aus Köln beispielsweise: Sportschuhe, schwarze Hose, Pünktchenbluse. 1,88 Meter misst die gelernte Schneiderin, eine fröhliche Frau mit einem schnellen Lachen.
„Brille zu schmal, Uhrband zu eng, Ärmel zu kurz“, fasst sie die Alltagsbanalitäten eines überdurchschnittlich groß gewachsenen Menschen zusammen. Den Duschschlauch im Bad hat sie verlängert, „damit ich nicht immer gebückt in der Wanne stehen muss“. Der Toilettensitz ist erhöht.
Noch hat sich die Industrie den Bedürfnissen der Langen nicht angepasst, obwohl die Menschen weltweit immer größer werden. Deutsche Männer messen im Durchschnitt 1,80 Meter. Noch vor 100 Jahren waren sie 13 Zentimeter kleiner. Auch die Frauen haben zugelegt: von 1,59 auf 1,66 Meter.
Zwei Prozent der Frauen bringen es sogar auf 1,80 Meter und mehr. 6,3 Prozent der Männer sind größer als 1,90 Meter. „Früher lag Köln unter mir“, sagt Natascha Pinke. „Wenn ich die Hohe Straße runterguckte, hatte ich vielleicht drei Köpfe vor mir. Das ist heute anders. Ich sehe nur noch Köpfe.“
„Wer hinter mir sitzt, hat Pech gehabt“
Auch Natascha Pinke ist in ihrer Kindheit und Jugend durch ein Tal der Tränen gegangen. Vor allem auf „die kleinen Jungs“ aus ihrer Kindergarten- und Schulzeit ist die 50-Jährige bis heute nicht gut zu sprechen.
„Die haben mich geärgert, bis ich geheult habe.“ Leuchtturm hätten sie ihr nachgerufen. Lange Latte und andere Hänseleien. „Ich hatte keine Freunde und war überall eine Außenseiterin. Erst in der Ausbildung, als ich zeigen konnte, was in mir steckt, bin ich selbstbewusster geworden.“
Als sie neun ist, nehmen die Eltern sie mit in den „Klub langer Menschen“. Der Vater ist selber knapp 1,90 Meter groß, die Mutter und eine Schwester messen 1,84 Meter. Der zehnjährige Neffe könnte glatt als Teenager durchgehen. „In unserer Familie werden alle sehr groß.“
Natascha blüht auf im Klub. „Endlich war ich einmal nicht die Größte, sondern auf Augenhöhe mit anderen Kindern.“ Und: „Wir hatten alle die gleichen Probleme, auch wenn wir nicht ständig darüber gesprochen haben.“ Heute, sagt Natascha Pinke, stehe sie zu ihrer Größe. Was sie nicht zuletzt dem Klub zu verdanken habe. Kürzlich sei sie auf einer Damentoilette von einer alten Dame schräg angeguckt worden. „Die dachte, ich bin ein Mann, weil ich so groß bin.“
Früher hätte sie einen solchen Vorfall nicht so locker weggesteckt. „Ich verstecke mich nicht mehr. Wenn ich irgendwo sitze, kann ich über alle hinweggucken. Das ist halt so. Wer hinter mir sitzt, hat Pech gehabt. Aber ich sehe nicht ein, dass ich mich in die letzte Reihe stelle. Ich bin genau so ein Mensch wie alle anderen.“
Mindestmaß für Mitglieder
Die Idee, einen Treffpunkt für sehr große Menschen zu schaffen, stammt von Kae Sumner Einfeldt aus Oakland, Kalifornien. 1938 gründet sie zusammen mit acht Freunden den „Longfellows Club“. Den Klub der langen Lulatsche. Inspiriert, so die Legende, habe sie der Zeichentrickfilm „Schneewittchen und die sieben Zwerge“, den sie gerade für die Disney-Studios kolorierte.
Aus dem „Longfellows Club“ wird der „California Tip Toppers Club“ und schließlich „Tall Clubs International“, eine weltweite Bewegung für alle, deren Körpergröße alle Standardmaße sprengt. Auf dem Programm stehen Hauspartys, gemeinsame Tanzveranstaltungen, Bowling- und Kinoabende.
Auch in Deutschland findet die Idee Anklang. 1953 wird in München der „Klub langer Menschen Deutschland e.V“ gegründet. Das erforderliche Mindestmaß für eingeschriebene Mitglieder: 1,80 Meter für Frauen, 1,90 Meter für Männer. Heute gibt es in 21 Städten Bezirksgruppen.
Allerdings: Es fehlt der Nachwuchs. Ein Phänomen, über das auch andere Vereine klagen. „Das Vereinsleben ist nicht mehr so trendy. Einige Bezirke könnten sich eventuell auflösen, wenn der Nachwuchs fehlt“, sagt Oliver Heim von der 120 Mitglieder starken Bezirksgruppe Köln.
„Nicht alles lässt sich auf unsere Größe anpassen.“
Auch Heim (46) kam schon als Kind mit seinen Eltern in den Kölner Klub. Der Bankaufmann und Finanzwirt ist 2,03 Meter. Er verneige sich vor jeder Tür und buche auf Langstreckenflügen grundsätzlich einen Sitz am Gang, sagt er. „Damit ich irgendwie die Chance habe, die Beine auszustrecken. Zumindest, bis die Stewardess mit dem Tomatensaft kommt.“
Sein Büroschreibtisch, an dem er im Stehen arbeitet, ist ein Sondermodell mit extrem hohen Beinen. „Die Kollegen können darunter herlaufen.“ Trotzdem müsse er die Schuhe ausziehen, um einigermaßen bequem daran zu arbeiten. Überlänge, das wissen alle, die Extremmaß haben, kann auf die Knochen gehen, erst recht, wenn die Arbeitsbedingungen nicht optimal sind.
Vor allem in technischen Berufen könne es problematisch werden, sagt Heim. „Nicht alles lässt sich auf unsere Größe anpassen.“ Natascha Pinke kann ein Lied davon singen. Sie hat als junge Frau ein Praktikum in einer Druckerei gemacht. „Da stand ich den ganzen Tag breitbeinig an der Maschine.“
Heim lebt längst in Einklang mit seinem Zwei-Meter-Drei-Körper. „Ich finde es schön, so groß zu sein. Man hat immer den Überblick.“ Ein Vorteil, den auch Gerhard Flemig zu schätzen weiß. Der 68-Jährige ist gut drei Zentimeter kleiner als Heim und lebt in Düren.
Hier hat er viele Jahre als Lehrer am „Berufsförderungswerk für Blinde und Sehbehinderte“ gearbeitet. Heute macht er einmal im Monat Stadtführungen als „Schutzmann Wölk“ und trägt dabei eine preußische Uniform aus einem Karnevalsladen. „Mein Großvater war bei der preußischen Garde. So schließt sich der Kreis.“
Als Jugendlicher habe er sich regelmäßig auf dem Schulhof geprügelt, um sich Achtung zu verschaffen, sagt Flemig. „Anders ging das nicht.“ Heute bekomme er aufgrund seiner Größe automatisch den Respekt, den er früher einfordern musste. „Ich fühle mich wohl in meiner Rolle und sehe meine Größe als Potenzial. Ich kann nachts durch dunkle Gegenden gehen. Auch Krisensituationen lassen sich relativ leicht klären, wenn man größer ist als sein Gegenüber. Ich brauche nur aufzustehen und zu sagen: »Wiederholen Sie das noch mal.« Dann ist die Sache relativ schnell erledigt.“
Nur im Job habe er bisweilen darauf verzichtet, seine Größe auszuspielen. „Wenn die Situation kritisch war und ich zu meinem Vorgesetzten gerufen wurde, habe ich mich immer sofort hingesetzt. Damit nicht der Eindruck entstand, ich wolle meine Überlegenheit ausnutzen.“