Das Thema Krebs begleitete sie ihr ganzes Leben. Als Tochter eines Röntgenarztes in Köln, als Ärztin, und schließlich starb sie selbst an Krebs.
„Mit dem Kopf durch die Wand“Wie die Kölnerin Mildred Scheel den Kampf gegen Krebs revolutionierte
Es gibt Tage, da passieren Dinge, die sich einem ins Gedächtnis einbrennen. Wenn zwei Welten aufeinandertreffen und besondere Ereignisse ganz nah sind. Der 25. September 1974 war für Cornelia Scheel so ein Tag. Die damals Elfjährige kam – wie sonst auch – von der Schule nach Hause. „Nach Hause“ bedeutete damals die Villa Hammerschmidt in Bonn, wo sie als Tochter des damaligen Bundespräsidenten Walter Scheel mit ihrer Familie lebte.
Im Amtssitz des Bundespräsidenten herrschte auch an diesem Tag geschäftiges Treiben, besonders in einem Raum in der ersten Etage. „Da saßen lauter Männer und meine Mutter“, erinnert sich Cornelia Scheel. Die Stimmung sei „geradezu euphorisch“ gewesen. „Cornelia, wir haben gerade etwas Großartiges geschaffen“, habe Mildred Scheel an diesem Tag zu ihr gesagt. Es war der Tag, an dem ihre Mutter die Deutsche Krebshilfe gründete.
Pro Jahr erkranken etwa 500.000 Menschen in Deutschland an Krebs. Heute sind viele Krebsarten heilbar. „Aber früher waren die Heilungschancen für Krebserkrankungen sehr schlecht“, sagt Gerd Nettekoven, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Krebshilfe. Die Diagnose kam meist einem Todesurteil gleich.Es gab keine organisierte Krebsmedizin, keine Krebszentren, nur begrenzte Therapiemöglichkeiten und auch kein gesetzliches Krebs-Früherkennungsprogramm.
Das Thema Krebs begleitete Mildred Scheel ihr ganzes Leben. Sie wuchs als Tochter eines Röntgenarztes in Köln auf, begleitete den Vater oft in seine Praxis und erlebte, wie erkrankte Patienten irgendwann nicht mehr wiederkamen. Sie wurde Ärztin, arbeitete ebenfalls in der Röntgenologie und diagnostizierte häufig Knochentumore. Die schlechte Versorgungslage, die Hilflosigkeit ihrer Patienten – all das war ihr bestens bekannt. Und schließlich starb sie selbst an Krebs.
Cornelia Scheel: „Meine Mutter fand es anstrengend, die Rolle der Außenministergattin zu spielen“
Als Mildred Scheels Ehemann Walter Scheel (FDP) 1969 Außenminister der BRD wurde, musste sie ihren Beruf notgedrungen aufgeben. „Meine Mutter fand es anstrengend, die Rolle der Außenministergattin zu spielen“, erinnert sich Scheels Tochter Cornelia im Gespräch. Damenprogramme absolvieren, als – wie Cornelia Scheel es ausdrückt – „Salatgarnitur“ an der Seite ihres Mannes stehen und über lange Zeit von den Kindern getrennt sein: Eine Aufgabe, die Mildred Scheel vor allem absolvierte, um ihren Mann zu unterstützen. Der wurde 1974 Bundespräsident und die Familie Scheel zog mit drei Kindern und Hund in die Bonner Villa Hammerschmidt.
Wie die Präsidentenfrauen vor ihr übernahm auch Mildred Scheel Ehrenämter, unter anderem die Schirmherrschaft des Müttergenesungswerkes. Aber die engagierte Ärztin wollte sich vor allem für die Erforschung von Krebserkrankungen einsetzen. Die Deutsche Krebshilfe sollte allerdings nie eine staatliche Organisation sein, sondern finanziell unabhängig und flexibel.
„Wir sehen uns heute nach wie vor als Bürgerbewegung, die sich für die stetige Verbesserung der Versorgung krebskranker Menschen einsetzt - und das auf allen Gebieten der Onkologie“, sagt Gerd Nettekoven. Die Arbeit der Deutschen Krebshilfe sei ohne die hohe Spendenbereitschaft und das Vertrauen der Bevölkerung nicht möglich: Seit der Gründung kamen demnach Spenden in Höhe von 3,5 Milliarden Euro zusammen.
Cornelia Scheel erinnert sich, wie ihre Mutter ihre Position als Frau des Bundespräsidenten nutzte, um möglichst viel Geld für die Krebshilfe zu sammeln: Bei Abendessen vertauschte sie die Platzkarten so, dass sie neben Vorständen von großen Unternehmen saß. Ihre Mutter sei beharrlich gewesen und habe erst locker gelassen, wenn sie am Ende des Abends einen Scheck bekam. „Pack dein Portemonnaie wieder ein, die Scheel kommt“, soll eine Frau ihrem Mann zugeraunt haben, als Mildred Scheel sich ihnen auf einer Veranstaltung näherte.
Über die Hälfte aller Krebserkrankungen sind heute heilbar
Für ihr Engagement erhielt Mildred Scheel unzählige Auszeichnungen und Ehrungen, unter anderem 1979 das Große Bundesverdienstkreuz. Mildred Scheel trat als emanzipierte und eigenständige Persönlichkeit auf. In der Öffentlichkeit wurde sie nicht mehr nur als die Frau eines ehemaligen Bundespräsidenten, sondern als die Gründerin der Krebshilfe bekannt. Walter Scheel soll sogar einmal angesprochen worden sein, ob er nicht der Ehemann von Frau Dr. Mildred Scheel sei.
Heute sind nach Mildred Scheel mehr als 1 Million Straßen, Stipendien und Ortschaften benannt. Anlässlich des 50-jährigen Jubiläums hat das Bundesfinanzministerium eine Sonderbriefmarke mit einem Porträt von Mildred Scheel herausgegeben.
Weil es bis Anfang der 1980er-Jahre keine organisierte Palliativmedizin in Deutschland gab, setzte sich Mildred Scheel für die Eröffnung spezialisierter Stationen ein – und stieß zunächst aus Widerstand der Ärzteschaft: „Ärztinnen und Ärzte vertraten seinerzeit die Auffassung, dass palliativmedizinische Versorgung Tag für Tag von ihnen bereits sichergestellt würde“, erinnert sich Gerd Nettekoven, der den Vorgang persönlich erlebte. Aber Scheel setzte sich durch – 1983 wurde an der Uniklinik Köln die erste Palliativstation Deutschlands eröffnet. Nettekoven nennt das einen Meilenstein in der Geschichte der Deutschen Krebshilfe. Er sagt über Mildred Scheel: „Wenn es nötig war, ist sie mit dem Kopf durch die Wand gegangen.“
Scheel stieß auch die Gründung des Palliativzentrums der Kölner Uniklinik an. Im „Mildred-Scheel-Haus“ können die Betten ins Grüne geschoben werden, wenn Patienten nicht mehr laufen können. Die Grundsteinlegung erlebte sie allerdings nicht mehr: Mildred Scheel starb am 13. Mai 1985 in Köln an Darmkrebs.
Auch Mildred Scheel erkrankte an Krebs und starb 1985 daran
Ihr Anspruch, 50 Prozent aller Krebserkrankungen heilen zu können, ist heute erreicht. „Meine Mutter würde sich wahrscheinlich wahnsinnig darüber freuen, aber zufrieden wäre sie nicht“, sagt Cornelia Scheel. Sie selbst ist seit 2017 die Vorsitzende des nach ihrer Mutter benannten Fördervereins der Deutschen Krebshilfe. Im „Mildred-Scheel-Haus" arbeitet sie ehrenamtlich als Hospizbegleiterin.
Die Deutsche Krebshilfe setzt vor allem auf Information, Prävention und Forschung. Ein Großteil der Spenden fließt in die Unterstützung von Studien und Forschungsprojekten. Besonders große Fortschritte machte die Wissenschaft etwa in der Kinderkrebsmedizin. Heute können mehr als 80 Prozent betroffener Kinder geheilt werden.
Das Ziel bleibt die Heilbarkeit aller Krebserkrankungen. Um eine erfolgreichere Therapie gegen Bauchspeicheldrüsenkrebs entwickeln zu können, hat die Krebshilfe ein Forschungsprogramm mit einem Budget von 40 Millionen Euro ausgeschrieben.