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Soziale Schieflage in Köln„Menschen werden gezwungen, im Dreck zu leben“

Lesezeit 4 Minuten
Abendstimmung an der Unterführung am Wiener Platz

Abendstimmung am Wiener Platz, einem der Hotspots für Obdachlose in Köln

Sozialforscher Thomas Münch forscht zu Wohnfahrt, Arbeits- und Sozialpolitik. Und kritisiert die Stadt Köln im Interview massiv.

Herr Münch, wie gestaltet man kommunale Sozialpolitik richtig?

Die Bürgermeisterin von Los Angeles sagte an ihrem ersten Arbeitstag, sie werde den sozialen Notstand ausrufen. Sie hebt die Bekämpfung von Armut in das Zentrum ihrer Tätigkeit. Frau Reker beschwichtigt die Folgen der Strompreissteigerungen eher. Man geht in Köln nicht sensibel genug mit dem sozialen Schiefstand um. Unsere Stadtspitze hat öffentlich noch keine Überlegungen angestellt, wie Strom in Zukunft für alle finanzierbar bleiben soll. Stand jetzt steuern wir auf massenhafte Stromschulden und auch Stromsperren zu. Man müsste als Stadt gemeinsam mit der Rhein-Energie Sozialtarife einführen, um alle mitzunehmen.

Bis 2030 soll es in Köln keine Obdachlosigkeit mehr geben, wenn es nach Sozialdezernent Harald Rau geht. Ist das realistisch?

Ich hoffe es. Aber das Problem der Wohnungslosigkeit hat damit zu tun, dass wir in den vergangenen 20 Jahren im Grunde nichts dafür getan haben, den sozialen Wohnungsbau in Köln voranzutreiben. Über Nacht löst man so ein strukturelles Problem nicht. Dass unser Sozialdezernent Harald Rau das Thema Housing first jetzt weit oben auf seine Agenda schreibt, ist gut. Das ist eine wichtige Einsicht. Finnland zeigt, dass es funktionieren kann. Ohne ausreichende Investitionen durch die öffentliche Hand wird es aber bei reinen Konzepten bleiben. In Köln leben 500 bis 1000 Menschen im engen Sinne auf der Straße, es ist absolut machbar und notwendig, diesen Menschen Wohnungen zumindest anzubieten.

Wie bewerten Sie die Angebote, die es gibt?

Die Struktur der Wohnungslosenhilfe entspricht der Nachkriegszeit. Die Kölner Einrichtungen sind teilweise so konzipiert, dass dort aus guten Gründen niemand leben will, es sind teilweise „Läusehotels“ mit Mehrbettzimmern. Man sollte aufhören, in solche Projekte zu investieren und stattdessen schauen, dass man menschenwürdige Räume schafft und zur Verfügung stellt. Es kann nicht sein, dass Menschen in einer reichen Stadt in einem der reichsten Länder der Welt gezwungen werden, im Dreck zu leben.

Wer wird in Köln sozialpolitisch aus Ihrer Sicht vergessen?

Zwölf Prozent der Kölnerinnen und Kölner gelten als arm, und diese Menschen haben oft zu Recht das Gefühl, dass sich um sie niemand kümmert. Wenn wir in Chorweiler Wahlbeteiligungen von etwa 15 Prozent haben, dann erkennen wir genau darin das Problem unserer Politik. Wenn man die GAG politisch nicht in die Lage versetzt, sich dem Thema mit einer anderen Ernsthaftigkeit anzunehmen, dann passiert eben auch nichts. Wohnungen und Energieversorgung dürfen nicht dem freien Spiel des Marktes überlassen werden. Denn sonst verschlimmert sich die soziale Lage weiter. Man sucht immer öfter das Heil darin, dass wohlhabende Menschen mit ihren Spenden Stiftungsprojekte vorantreiben, um so die soziale Lage zu verbessern. Darauf darf sich eine Stadtgesellschaft niemals verlassen, diese Geldvergaben sind nicht demokratisch legitimiert und nicht auf Dauer angelegt. Man muss sich als Stadt der eigenen Verantwortung stellen, dass es jeder und jedem möglich sein muss, hier ein würdiges Leben zu führen.

Was ist entscheidend, damit eine Umgestaltung von Orten wie Neumarkt, Ebertplatz oder Wiener Platz, an denen Obdachlosigkeit omnipräsent ist, gut funktioniert?

Mir fehlt in der Diskussion, dass man auf Expertise eingeht, etwa von der Polizei. Man braucht realitätsnahe Angebote, das bedeutet: Ein Ende der Vertreibungspolitik, einen Drogenkonsumraum am Neumarkt, der bedarfsgerecht rund um die Uhr geöffnet ist, öffentliche Toiletten. Die Menschen, die auf dem Neumarkt leben, sind auch Kölnerinnen und Kölner, sie gehören zu dieser Stadt. Das sollte man in Verwaltung und Politik auch klar so kommunizieren. Die Großstadt ist eine spezielle Form des Zusammenlebens, man sollte sich nicht über jeden aufregen, der sich in der U-Bahn schlecht benimmt. Es geht um Toleranz.

Wie bewerten Sie insgesamt die Arbeit von Harald Rau?

Es ist sehr schwierig, von außen in eine solche Rolle zu stoßen. Wenn wir denken, dass wir jemanden von außen als Sozialdezernent installieren können, der aus einem kleinstädtischen Umfeld kommt, in Köln nicht vernetzt ist und auch keine großen Erfahrungen in der Führung von Stadtverwaltungen gemacht hat – und das trifft auf Harald Rau zu – dann ist das eigentlich fahrlässig. Dennoch hat er sich an vielen Punkten wacker geschlagen und das Thema Housing first versucht er nun tatsächlich voranzutreiben, das unterstütze ich sehr. Viel mehr konnte er nicht bewegen. Man erwartet von Großstädten immer sehr viel, egal ob es um die Unterbringung von Geflüchteten oder die Bewältigung der Corona-Krise geht, Krisen sollen kommunal gelöst werden, ohne dass die notwendigen Gelder zur Verfügung stehen. Das Gespräch führte Paul Gross