Zwang zum Mikrozensus96-jähriger Demenzpatientin droht Strafe wegen Nicht-Teilnahme
Köln – 183 Fragen auf 60 Seiten – für die gewissenhafte Beantwortung aller Fragen des Mikrozensus 2016 benötigen selbst kerngesunde Menschen mehrere Stunden. Auch Anneliese Winkelmann wurde als Teilnehmerin (siehe „Kleine Volkszählung in Nordrhein-Westfalen“) ausgewählt. Dass sie es allerdings schafft, ihn überhaupt auszufüllen, ist ausgeschlossen.
Die Kölnerin ist 96 Jahre alt, seit 14 Jahren lebt sie in einem Seniorenheim in Vingst. Seit zwei Jahren ist sie schwer demenzkrank. Pflegestufe 5, Härtefall. „Mich erkennt sie meistens überhaupt nicht“, sagt ihr Sohn Wolfgang Winkelmann (72). Ihre neuen Hörgeräte verlege sie andauernd, die Zahnprothesen würden hin und wieder auch im Hausmüll landen. „Wie soll sie da 60 Seiten persönliche Fragen beantworten?“
Dies hat Winkelmann auch bei den Statistikern des NRW-Landesbetriebs Information und Technik (IT NRW) vorgetragen, die die Befragung durchführen. Die Antwort: Sie muss. Es ist, einmal ausgewählt, ihre bürgerliche Pflicht. Kurz vor Jahreswechsel drohte die Behörde sogar mit einem Zwangsgeld, sollte der von Anneliese Winkelmann ausgefüllte Mikrozensus-Fragebogen nicht bei IT NRW eingehen. „In der Regel wird beim Mikrozensus ein erstes Zwangsgeld in Höhe von 200 Euro verhängt“, teilt eine Behördensprecherin auf Anfrage des „Kölner Stadt-Anzeiger“ mit. Die Teilnehmer würden nach einem festgelegten mathematischen Auswahlverfahren bestimmt. „Es ist unerlässlich, dass auch kranke und alte Menschen den Fragebogen ausfüllen.“
Der erste Brief landete vermutlich im Papierkorb
„Ist ihnen das nicht möglich, muss eine andere Person, die auch sonstige Aufgaben der Teilnehmer übernimmt, die Fragen nach bestem Wissen und Gewissen beantworten“, so die Behördensprecherin. Bei Winkelmann wären das demnach ihr Sohn Wolfgang oder einer seiner zwei Brüder. Bei einfachen Fragen wäre das wohl kein Problem: „Zu welcher Altersgruppe gehören Sie?“ Bei anderen Fragen, etwa zur Aus- oder der Schulbildung, fiele die gewissenhafte Antwort schon schwieriger. Wolfgang Winkelmann hält den Zwang zum Ausfüllen für falsch: „Es kann doch nicht der Sinn der Umfrage sein, dass ich irgendwas erfinde, oder?“, fragt er.
Abgesehen vom Zwangsgeld scheint das aber die einzige Möglichkeit zu sein. Der erste Brief, mit dem IT NRW den Fragebogen schickte, landete indes vermutlich im Papierkorb. „Meine Mutter dachte wohl, es sei Reklame“, sagt Winkelmann. „Erst als das Zwangsgeld angedroht wurde, habe ich überhaupt davon erfahren.“ Nun wünscht sich Winkelmann etwas mehr Verständnis und Flexibilität der Behörde. „Auf keinen Fall wird das Zwangsgeld bezahlt“, sagt der Rentner. „Bei meiner Mutter ist doch eh nichts zu holen.“
Und doch wird Anneliese Winkelmann auch 2017 wieder einen Mikrozensus-Fragebogen zugeschickt bekommen, vier Jahre in Folge ist die Teilnahme verpflichtend. Wenn alles korrekt läuft, werden sie und ihr Sohn dann allerdings weniger Ärger damit haben: Ab diesem Jahr gibt es einen neuen Sonderfragebogen, den dann nur der Leiter des Pflegeheims ausfüllen muss.
Mikrozensus liefert Daten zur wirtschaftlichen und soziale Lage der Bürger
Welche Ausbildung haben die Menschen in NRW? Wohnen ältere Menschen überwiegend allein? Wie ist die Situation Alleinerziehender? Antworten auf solche und weitere Fragen soll der Mikrozensus geben. Der Landesbetrieb Information und Technik NRW startet am Donnerstag mit den Befragungen für das Jahr 2017. Ein Überblick
Was ist der Mikrozensus?
Mikrozensus bedeutet „kleine Volkszählung“. Er ist eine repräsentative Haushaltsbefragung, bei der zufällig ausgewählte Personen Auskunft über ihre Lebenssituation geben. Der Mikrozensus liefert Daten zur Bevölkerungsstruktur sowie der wirtschaftlichen und sozialen Lage der Bürger. Schon seit 1957 werden dafür jedes Jahr ein Prozent aller Haushalte im gesamten Bundesgebiet befragt.
Welche Themen werden erforscht?
Gefragt wird nach Alter, Familienstand, Staatsangehörigkeit, Schulbesuch, Erwerbstätigkeit und Altersvorsorge. Darüber hinaus gibt es wechselnde Schwerpunktthemen – in diesem Jahr Schichtarbeit und Gesundheit. Einer Behördensprecherin zufolge werden etwa Fragen zum Rauchen gestellt. Insgesamt umfasst der Mikrozensus 2017 genau 214 Fragen.
Welche Haushalte nehmen am Mikrozensus teil?
In NRW werden für den Mikrozensus rund 76 000 Haushalte befragt. Es werden nicht Personen, sondern Gebäude beziehungsweise Wohnungen ausgewählt. Allerdings sind bestimmte Personen innerhalb eines Gebäudes mit der Beantwortung der Fragen beauftragt. Sie werden nach einem mathematischen Zufallsverfahren ausgewählt und nehmen in der Regel an vier aufeinander folgenden Jahren an den Befragungen teil.
Wie werden die Befragungen durchgeführt?
In NRW übernehmen 350 Interviewer die Befragungen – auf alle Wochen des Jahres verteilt. Sie kündigen sich schriftlich an. Die ausgewählten Haushalte können die Fragebögen auch selbst ausfüllen und per Post verschicken.Müssen die ausgewählten Haushalte mitmachen?
Die ausgewählten Haushalte sind gesetzlich dazu verpflichtet, am Mikrozensus teilzunehmen. Es müssen alle Mitglieder eines ausgewählten Haushaltes mitmachen. Für die allermeisten Fragen besteht eine Auskunftspflicht. Einen Teil der Fragen können die Befragten freiwillig beantworten. Das gilt etwa für Fragen nach der Gesundheit. (dpa)