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Buch-Empfehlung „60 Kilo Kinnhaken“Ein Roman nicht nur für Island-Fans

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Die Natur Islands ist gewaltig und kann unbarmherzig sein - so wie im Fall der jüngst evakuierten Stadt Grindavik.

Die Natur Islands kann unbarmherzig sein – so wie im Fall der jüngst evakuierten Stadt Grindavik.

Der isländische Autor erzählt meisterhaft witzig von Islands verspätetem und überstürztem Aufbruch in die Moderne – den Heringen sie Dank.

Nicht nur der Titel, auch das Buch hat Niederstreck-Qualitäten. Und damit ist neben der literarischen Wucht vor allem der Umfang gemeint: 672 Seiten dick ist der zweite Band von Helgasons insgesamt auf drei Bände angelegten Island-Saga. Schon der Auftakt „60 Kilo Sonnenschein“ kommt ähnlich umfassend daher. Aber lassen Sie sich davon bloß keine Angst einjagen! (Und starten Sie am besten von vorn!)

Denn Hallgrimur Helgason, einer der allerbesten Autoren Islands, erzählt in diesem Schelmenroman grandios, fulminant und unglaublich komisch von seiner Insel und ihren sehr wenigen Bewohnern, die am Anfang des 20. Jahrhunderts vom Mittelalter buchstäblich in die Moderne katapultiert werden. Die Handlung spielt zwischen 1906 und 1918 im fiktiven Ort Segulfjördur, unverkennbar angelehnt an die Geschichte der nördlichsten Stadt Islands, Siglufjördur.

Held ist der vaterlose Gestur, ein Überlebenskünstler wie alle anderen unehelichen Kinder, Knechte, Mägde und Alten, die die Winter mit Flechtenschleim oft nur gerade so überleben. Erfrierungen von Körperteilen gilt es ebenso zu trotzen wie dem Sturm, der einen beim nächtlichen Latrinengang ins Meer wehen könnte. Ein bitteres Leben, unter den Bedingungen ein eigentlich unmögliches. Wirklich alles muss der gnadenlosen Natur abgetrotzt werden in diesem Land, das Lawinen niest und in dem überhängende Schneebretter zu Fallbeilen werden. Stricken, Alkohol, Liebesabenteuer und – gerne auch obszöne — Poesie halten die Romanfiguren in den große Teile des Jahres dunklen Tagen und Nächten am Leben. In den nächtelosen Sommern führen die Heringschwärme, die an Segulfjördur vorbeiziehen, zunehmend zum Goldrausch. Tatsächlich wäre die Entwicklung Islands ohne Heringsboom anders verlaufen.

In Segulfjördur fallen die Norweger mit Schiffen und riesigen Fangnetzen ein, sie bauen die ersten Fabriken des Landes. Die Einführung des elektrischen Lichts wird für die Isländer zum religiösen Happening. Man verfolgt den Aufstieg des Dorfs zusammen mit dem zu Beginn des zweiten Bands gerade volljährig gewordenen Gestur und dessen sexuellen und finanziellen Eskapaden. Am Ende holt das Schicksal zu einem ziemlich mächtigen Kinnhaken aus. Helgason erzählt mit einem ganzen Kabinett skurriler Figuren vom Abenteuer Menschsein.

Hallgrímur Helgason: „60 Kilo Kinnhaken“, dt. von Karl-Ludwig Wetzig, Tropen, 672 Seiten, 26 Euro, E-Book: 20,99 Euro