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77. Filmfestspiele von CannesZum Auftakt ist das Festival eine Frauensache

Lesezeit 5 Minuten
Agathe Riedinger steht vor Fotografen auf dem roten Teppich von Cannes.

Die französische Regisseurin Agathe Riedinger zeigte im Wettbewerb von Cannes ihren Film „Diamant Brut“ (Wild Diamond)

Mit emotionalen Dramen möchte Cannes die Politik am liebsten draußen lassen - im Wettbewerb scheint das bislang zu gelingen.

Ein Filmfestival, bei dem zur Abwechslung mal wieder das Kino die Hauptrolle spielt und nicht die Politik: Cannes‘ Festivalchef Thierry Frémaux erfüllt in seinem Amt gewiss die Wünsche vieler Leute, aber ob ihm das auch mit dem eigenen gelingt, ist mehr als fraglich. Die Croisette mag offiziell gesperrt sein für Demonstrationen zum Gaza-Krieg, aber pünktlich zum Festivalbeginn erlebt Frankreich seine bislang größte Me-Too-Welle. Neun Frauen beschuldigen den legendären Filmproduzent Alain Sarde („Mulholland Drive“, „Der Pianist“) sexueller Übergriffe, die er bestreitet.

Zugleich forderte eine Gruppe prominenter Filmkünstlerinnen wie Isabelle Adjani, Charlotte Arnould, Emmanuelle Béart oder Juliette Binoche in einem offenen Brief in der Tageszeitung „Le Monde“ effektivere Gesetze: „Es ist inakzeptabel, dass die Abweisungsrate von Beschwerden wegen sexueller Gewalt im Jahr 2022 die verrückte Zahl von 94 % erreicht hat.“ Auch Jury-Präsidentin Greta Gerwig betonte bei der Pressekonferenz ihre Zuversicht in einen gesellschaftlichen Wandel: „Ich finde, dass es nur gut ist, wenn die Leute in der Filmszene uns ihre Erfahrungen mitteilen und versuchen, die Dinge zum Besseren zu verändern. Das bewegt alles in die richtige Richtung.“

Keine Kulturministerin hält eine Rede und kein Festivaldirektor ergeht sich in devotem Dank

Eine geradezu magische Eröffnungsgala musste das Thema nicht einmal ansprechen, um die Wirkungsmacht weiblich geprägter Filmkunst zu feiern. Nach einem anrührenden Tribut an Gerwigs Charisma vor und hinter der Kamera teilte sich Ehrenpreisträgerin Meryl Streep die Bühne mit ihrer Laudatorin Juliette Binoche – um der Französin dann ihrerseits eine nicht weniger emphatische Spontan-Lobrede zu halten. Wie sie selbst habe sie in einer bruchlosen Karriere immer neue faszinierende Frauenfiguren erschaffen. „Als ich zum ersten Mal in Cannes war, vor 35 Jahren, war ich gerade 40 – und dachte, meine Karriere gehe zu Ende“, erinnerte sich Streep. „Das war damals bei Frauen in diesem Alter durchaus üblich in Amerika.“

Cannes ist eben nicht Berlin. Keine Kulturministerin hält eine Rede und kein Festivaldirektor ergeht sich in devotem Dank an die Wächter über üppiger als anderswo ausgeschüttete öffentliche Gelder. Bei der Gala sitzt auch Frémaux stumm im Publikum, wer ihn sehen will, muss sich einen restaurierten Filmklassiker im Programm ansehen – da hält er gerne eine Einführung. Der französische Eröffnungsfilm „Le deuxième acte“ bedurfte indes keiner Einführung. Mit einer Star-besetzten Komödie aus der Welt des Filmemachens ging das Festival mit dem nach einem einfachen Konzept gestrickten Film von Quentin Dupieux wie es schien auf Nummer Sicher.

Meryl Streep lächelt ins Publikum.

Meryl Streep bei der Eröffnung des Filmfestivals in Cannes

Vincent Lindon und Léa Seydoux bewegen sich in einem langen Tracking-Shot auf ein Restaurant zu, dem ein frustrierter Wirt (Manuel Guillot) den Namen des Films gegeben hat. Ernste Absichten verbinden Seydoux’ Filmfigur mit ihrem neuen Freund (Louis Garrel), den sie nun ihrem Vater vorstellen möchte. Leider ist dies schon der zweite Akt, und im ersten hat der Auserwählte schon in einem ähnlich langen Dialog gegenüber seinem besten Freund sein Desinteresse an dieser Liaison bekundet. Doch das ist alles halb so schlimm, denn was wir sehen ist nur ein Filmdreh. Und als sei das nicht genug Distanz gegenüber dem Geplänkel auf der Leinwand, führt dabei nicht einmal ein Mensch Regie, sondern eine künstliche Intelligenz.

Wenn nur der halbe Saal mit dem Dialogwitz etwas anfangen konnte, mochte es nur zum Teil Tempo der blitzartig vorbeifliegenden Untertitel liegen. Manche Komödien sind eben eher halblustig. Hauptsache mit Beginn des Wettbewerbs steigert sich die Qualität. Das galt durchaus für „Diamant Brut“ („Wild Diamond“): Dem Langfilmdebüt der Französin Agathe Riedinger gingen große Erwartungen voraus, jedenfalls schienen Tickets dafür vorab begehrter als für die Werke mancher weltbekannter Meister. In einem intimen, aber gleichwohl diskreten Handkamera-Realismus zeichnet Riedinger das Porträt einer 19-Jährigen, die versucht, sich über soziale Medien einen Weg aus den prekären sozialen Verhältnissen zu bahnen, die ihr Leben bestimmen.

Dem Langfilmdebüt der Französin Agathe Riedinger gingen große Erwartungen voraus

Die von der Neuentdeckung Malou Khebizi gespielte Liane nennt sich Influencerin, doch ihr Einfluss ist begrenzt. Die Zahl ihrer Follower wächst langsam, und ihre Versuche der Selbstoptimierung vor der Kamera wirken häufig hilflos. Überschwängliche und vernichtende Kommentare halten sich die Waage und nähren doch gleichermaßen eine Sehnsucht nach Aufmerksamkeit. Als die Casting-Agentin einer Reality-Show auf sie aufmerksam wird, aber dann lange nichts von sich hören lässt, geraten Hoffnung und Verzweiflung vollends aus dem Gleichgewicht.

Dieses bescheiden auftretende Psychogramm wäre leicht zu unterschätzen. Tatsächlich nähern sich Riedinger und Khebizi einem Massenphänomen mit seltener Ernsthaftigkeit. Die Frage, was Teenager dazu bringt, ihr Leben im Selfie-Stil auszubeuten und dabei noch dazu eine fragwürdige Konsumwelt zu bedienen, beantwortet kein Kulturpessimismus. Ohne äußere Psychologisierung und vor allem ohne die erwartbaren dramatischen Zuspitzungen, erzählt dieses erstaunliche Debüt eine Geschichte von öffentlicher Einsamkeit.

Es war wohl kein Zufall, dass allein Frauen dieses Festival eröffneten. Auch der zweite Wettbewerbsbeitrag hat eine unvergessliche Protagonistin. Der Schwede Magnus van Horn erzählt in „The Girl with the Needle“ das Drama einer jungen Fabrikarbeiterin, die in Kopenhagen nach dem Ersten Weltkrieg von ihrem Arbeitgeber geschwängert und verlassen wird. Als sie ihr Baby in die Hände einer zwielichtigen Adoptionsvermittlerin gibt, gerät sie selbst unter den Einfluss dieser Betrügerin.

Auch dieser Film lebt ganz von seiner Hauptdarstellerin. Mit der Dänin Vic Carmen Sonne ist schon die zweite preiswürdige Darstellerin zu entdecken, die sich in dem visuell anspruchsvollen Schwarzweißfilm ganz auf die Ausdruckskraft ihres Gesichts verlassen kann. Einmal sucht sie mit ihrer falschen Freundin Entspannung beim Kinobesuch mit einem zeitgenössischen Stummfilmdrama, und tatsächlich ist es wohl die große dänische Filmpionierin Asta Nielsen, die dieses klassische Kinodrama inspirierte. So kennen wir Cannes: Geschichtsbewusst und hochemotional eröffnet es einen vielversprechenden Wettbewerb.