Eine Betrachtung über den Rausch des Sehens in der Lagunenstadt. Von Giandomenico Tiepolo bis Emma Stone.
Ältestes Filmfest der WeltBei den 80. Filmfestspielen von Venedig ist man den Bildern verfallen
Um 1900 macht man in Venedig eine naheliegende, aber unerwartete Entdeckung. Die Serenissima ist nicht nur eine Stadt auf dem Wasser, sondern hat, abseits vom alten Zentrum, auch eine Nähe zur weiten Adria. Auf dem Lido, einem kargen, bis dahin fast unbewohnten Landstreifen im Norden, entstehen plötzlich große Villen und Hotels, denn es lockt eine neue, elementare Erfahrung: das Baden im Meer!
Sie zieht nicht nur die Einheimischen, sondern auch viele Fremde und Gäste aus ganz Europa an. Unter ihnen ist der Schriftsteller Thomas Mann, der nicht in die alte Stadt und zu ihren Sehenswürdigkeiten reist, sondern auf den Lido fährt. In dem am Strand gelegenen Hotel Des Bains wird er sich 1911 einquartieren und eine Figur erfinden, die ein - wie es diskret heißt - „ruhevoll inniges Verhältnis zum Meere“ sucht. Kaum ein Jahr später veröffentlicht Mann den späteren Klassiker dieser Erfahrung, die Novelle Tod in Venedig, die der italienische Filmregisseur Luchino Visconti in den frühen 70er Jahren in eben diesem Hotel verfilmen wird.
Das Hotel des Bains ist leider seit vielen Jahren geschlossen, es wartet auf eine komplette Restaurierung und damit auf seine Auferstehung. Stattdessen fuhren die Filmcrews aus aller Welt, die in den vergangenen Tagen zu den 80. Filmfestspielen auf den Lido eilten, das benachbarte Hotel Excelsior an. Sie erreichten es auf direktem Weg vom Flughafen oder Bahnhof mit einem Wassertaxi, das den kleinen Bootshafen des Hotels ansteuert, wo bereits Horden von Fotografen warteten: „Die Sonnenbrille abnehmen!“ - „Bitte winken!“- „Schauen Sie her, nicht zur Seite!“
Das älteste Filmfestival der Welt gibt es seit 1932. Von anderen berühmten Festivals wie denen in Cannes oder Berlin unterscheidet es sich vor allem dadurch, dass es Thomas Manns Verzauberung durch das Meer und seine Umgebung als großes, rauschhaftes Spektakel inszeniert, an dem sich das in Scharen herbeiströmende Publikum beteiligt. Von der zentralen Anlegestelle der Vaporetti am Lido führt eine hunderte von Metern lange Flaniermeile zum Strand. Modeläden und Restaurants zu beiden Seiten, man schreitet als Paar oder in kleiner, gut gewandeter Gesellschaft über den hellen Marmorbelag, unterhält sich laut und pointiert, verweilt immer wieder und trinkt den ersten und zweiten Aperol Spritz.
Am Strand entlang verläuft eine weitere breite Allee, die zu den Filmpalästen führt, wohin es das Publikum ab Mittag vermehrt hinzieht. In den großen Sälen, die zum Teil über tausend Gästen Platz bieten, laufen dann bis in die tiefe Nacht nicht nur die Filme, die sich um den Hauptpreis des Goldenen Löwen bewerben, sondern auch ältere Filmklassiker, Experimentalfilme oder Filme, die dem Wettbewerb aus dem Weg gehen, aber dennoch in Venedig gesehen werden wollen.
In der Nähe der Laufstege vor den Filmpalästen wird das Publikum bald auch den Filmcrews begegnen, die aus ihren Quartieren eintreffen und um die Aufmerksamkeit der Fans buhlen. Gedämpftes, sich steigerndes Murmeln, spitze Schreie, frenetischer Jubel – solche unterschiedlichen Grade der Aufmerksamkeit deuten darauf, was man von ihnen jeweils erwartet. Weh dem, der seine Wege trotz brillantem Putz unerkannt zieht und wie der Hauptdarsteller des deutschen Filmbeitrags Die Theorie von Allem zugeben muss, dass ihn kein Mensch erkennt und die Theorie noch nicht in eine Praxis der Begeisterung umgeschlagen ist.
Jeder Crew stehen danach die Zeremonien der Filmpräsentation einer Premiere bevor. Die Kleidung muss vorher aufeinander abgestimmt werden, dann werden sich alle hinüber zum Palazzo del Cinema begeben, wo die Filmenthusiasten ihre Fotos schießen, Autogramme erhalten und im Idealfall einen Star vom roten Teppich pflücken, um das Selfie mit seinem Ebenbild zu garnieren.
Davon unbeeindruckt wird die Crew auf und ab gehen, lächeln und winken, bis sie vom Festivalleiter eingeladen wird, den Palazzo über die Haupttreppe zu betreten. Im Innern wird sie reservierte Sitze im ersten Rang des großen Vorführungssaals einnehmen. Sie wird einzeln namentlich vorgestellt und nimmt Platz, dann wird es dunkel. Nach der Vorstellung gibt es den mehr oder minder verdienten Applaus, dessen exakte Länge (wie viele Minuten?) von den Beobachtern und Kritikern genau konstatiert und später in den Presseberichten gemeldet wird. Kehrt danach Ruhe ein, bewegen sich die Massen wieder nach draußen, wo kalte Getränke und Snacks warten.
Wenn sie draußen dicht gedrängt stehen und von den Bildern auf den Smartphones und Tablets nicht lassen wollen, erinnern sie an das Urbild der Filmfestspiele: Das Gemälde Novo Mondo von Giandomenico Tiepolo, das sich heute in einem der schönsten Paläste der Stadt befindet, der Cà Rezzonico. Entstanden ist das über fünf Meter breite Fresko um 1791, vor dem Untergang der alten Republik, deren Sitten es noch einmal auf ungewöhnliche Weise porträtierte.
Die Szene spielt im venezianischen Carneval. Eine eilig herbeigelaufene Menschenmenge drängt sich in fiebriger Erwartung, etwas Besonderes vorgeführt zu bekommen, vor einem Zelt, in dem eine Laterna magica Bilder einer exotischen („neuen“) Welt zeigt. Die verstreute Gesellschaft besteht aus Menschen aller Stände und wird von einem Mann, der die Reihenfolge der Zuschauer zu ordnen versucht, angewiesen, sich nacheinander in das Zelt zu begeben.
Kurios und ungewöhnlich ist, dass die Gestalten nur von hinten gezeigt werden. Ihre Mimik und ihr Gebaren bleiben verborgen, wichtiger ist dem Maler, der zusammen mit seinem Vater Giambattista Tiepolo am rechten Bildrand in der distanzierten Haltung eines Beobachters zu erkennen ist, die Darstellung einer Ekstase des Sehens, die durch die neuartigen Medien ausgelöst wird. Sie sind die Boten der Zukunft, die Venedig von seiner großen Vergangenheit verabschieden, um jener Bildfaszination Platz zu machen, die später auf dem Lido Venedigs große Paläste baut.
Dadurch ist Novo mondo zu einem der vielsagendsten Gemälde der venezianischen Malerei geworden. Es verweist auf die Geschichte einer jahrhundertealten Gesellschaft, die sich dem Sehen und Schauen seit ihren Anfängen wie keine andere verschrieben hat. Ihre Bevölkerung ist durch die Jahrhunderte einem glanzvollen Illusionismus verfallen, der auch die Menschen für die Dauer von kaum zwei Festivalwochen in festliche Selbstdarstellerinnen und Selbstdarsteller verwandelt.
Vor dem Filmgelände aber wartet tagsüber das Meer, unaufdringlich, glitzernd in metallischem Blau, mit hellen Wellenspitzen. Wer das Gelände kennt, findet Wege, an den Strand zu gelangen und eines der kleinen Camerini aufzusuchen, in denen man sich für das Bad umkleiden und ein „ruhevoll inniges Verhältnis zum Meere“ eingehen kann. Bis am Abend dann wie von Geisterhand die Bar des Hotel des Bains sich plötzlich doch öffnet, und die Massen hereinströmen und die wilden Bilder tanzend aus den Köpfen schütteln.