Das Max-Ernst-Museum widmet sich den surrealistischen Skulpturen Alberto Giacomettis. Es fehlen einige Hauptwerke, aber das macht nichts.
Alberto Giacometti in BrühlEwig nur grausamer Sex, das kann es auch nicht sein
Man kann darüber streiten, ob André Breton der Gralshüter der von ihm begründeten surrealistischen Bewegung war – oder eher der Zuchtmeister eines obskuren Kults. Jedenfalls achtete er peinlich darauf, dass niemand von der Linie abwich, die er im Surrealistischen Manifest von 1924 vorgegeben und 1929 nach dem ersten Auseinanderbrechen der Gruppe kosmetisch überarbeitet hatte. Wer in Ungnade fiel, wurde unsanft hinausgeworfen. Für manche Ehemalige war das der Anfang vom Ende. Und für Alberto Giacometti der Beginn einer großartigen Karriere.
Dem Schweizer Künstler dürfte diese Episode seiner noch jungen Laufbahn sousreal vorgekommen sein. Schließlich hatte er sich nicht um die Mitgliedschaft beworben, sondern wurde 1930 von einer surrealistischen Splittergruppe, den „Andersdenkenden“, für die Pariser Bewegung gewonnen. Sie hatten seine „Löffelfrau“, eine von indigenen Fruchtbarkeitssymbolen inspirierte abstrakte Figur, ebenso für ein Bewerbungsschreiben gehalten wie seine Scheibenfrauen: flache Steine mit geritzten Ärmchen und jeweils einer Wölbung für Kopf (klein) und Becken (sehr groß). Ins surrealistische Weltbild übersetzt hieß das: Die Vernunft kreist als blasser Mond um den heißen Sexplaneten.
Alberto Giacometti machte aus dem Geschlechterkampf ein abstraktes Theater der Grausamkeiten
In den folgenden Jahren entwickelte sich Giacometti zum Liebling der Surrealisten. Er dachte sich immer neue „unbewusste“ Variationen des Geschlechterkampfes aus und verwandelte diesen in ein abstraktes Theater der Grausamkeiten. Seine „Schwebende Kugel“ wurde zum Paradestück: Das runde Weibliche hängt an einer Schnur über einer Art scharfkantigen Banane und wird von dieser im ewigen Hin-und-her geritzt (vielleicht reibt sich das männliche Prinzip hier aber auch an einer Vagina auf). Andere Werke aus dieser Zeit trugen Titel wie „Frau mit durchschnittener Kehle“ oder balgen sich in Käfigen. Breton dürfte über diese Störung der bürgerlichen Ruhe begeistert gewesen sein.
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Allerdings verging Giacometti schon bald die Lust an diesen von ihm so virtuos beherrschten Exerzitien. Sein Vater war 1933 gestorben, und er trauerte, indem er sich wieder für die menschliche Figur zu interessieren begann. Alles, was er zu erreichen hoffe, ließ er die surrealistischen Freunde wissen, sei ein Kopf, der bleibe. Worauf Breton entgegnet haben soll: Jeder wisse doch, wie ein Kopf aussehe. An dieser Aussage stimmt aus kunsthistorischer Perspektive zwar im Grunde nichts, aber einige Giacometti-Köpfe später hatte der Chefsurrealist genug gesehen: 1935 flog der Abtrünnige aus dem exklusiven Club.
An diese schicksalhafte Wendung im Leben Alberto Giacomettis erinnert jetzt das Max-Ernst-Museum in Brühl mit einer Ausstellung, die unter dem Titel „Surrealistischen Entdeckungen“ vor allem Arbeiten aus dem Frühwerk des weltberühmten Bildhauers zeigt. Mehr als 60 Skulpturen, Zeichnungen und Grafiken kamen aus den Depots der Pariser Fondation Giacometti nach Brühl, darunter einige seiner bedeutendsten Vorkriegswerke (die „Schwebende Kugel“ allerdings nur in einer 1965er-Version) und etliche Arbeiten aus der „Übergangszeit“, bevor Giacometti mit seinen spindeldürren Figuren erst zum Liebling der Existentialisten und später des weltweiten Museumspublikums aufstieg.
Als willkommener Anlass dient den Kuratorinnen der Ausstellung das Jubiläum des vor bald 100 Jahren verfassten Surrealistischen Manifests. Das passt einerseits wunderbar, andererseits hätte es dieses Anlasses gar nicht bedurft, denn Giacomettis „unentdecktes“ Frühwerk verdient es zu jeder Zeit, auf größerer Bühne präsentiert zu werden. Zwar lässt sich trefflich darüber spekulieren, wie wir die stämmigen „Scheibenfrauen“ oder einen herrlichen Vierkant-Kauernden aus dem Jahr 1926 heute betrachten würden, wüssten wir nicht um ihre zerbrechlichen, das gesamte Unheil des Jahrhunderts schulternden Verwandten. Aber Breton sah eines durchaus richtig: Unter den surrealistischen Objektkünstlern gibt es wenige, die Giacomettis Talent erreichten.
Die Brühler Ausstellung folgt im Wesentlichen der Chronologie der Ereignisse und setzt mit einigen kubistischen Objekten des Malersohns Giacometti ein. Darauf folgt ein Paar, das seine Wurzeln in den ethnologischen Museen von Paris kaum verleugnen kann: Mann und Frau sind aufs Wesentliche, ihre Geschlechtsteile und die Körpersilhouette reduziert. Sie geht als Fisch, er als grober Klotz. Spätestens die „Löffelfrau“ hätte Giacometti einen (niederen) Rang in den Geschichtsbüchern gesichert. Bei ihr und ihren Schwestern lässt sich staunend lernen, wie wenig menschliche Bauteile es für ein überzeugendes Ebenbild des Menschen braucht.
Eine unschuldige Miniatur mit Mutter und bezopfter Tochter wirkt in Brühl wie ein Hallo-Wach-Effekt
Selbst bei diesem schmalen Überblick kann man allerdings auch verstehen, warum Giacometti die ewige Sexualisierung von Formen und Objekten ermüdete; eine unschuldige Miniatur mit Mutter und bezopfter Tochter an der Hand wirkt in Brühl wie ein Hallo-Wach-Effekt. Eckige Totenköpfe haben eine ähnliche Wirkung, etwas verloren wirkt dagegen die 3D-Rekonstruktion eines Mannequins mit einem Instrumentenhals als Kopf. Bevor man sich über diese gut gemeinte Ergänzung ärgern kann, macht die Schau einen Sprung in die Kopfabteilung der 1940er Jahre.
Vielleicht würde Breton hier seine altbackene Meinung revidieren. Ein weißes Haupt mit zum Schrei geöffneten Mund gibt die Richtung vor, dazu kommt ein hängender Langnasiger, aber erst zwei zittrige, beinahe noch naturalistische Köpfe lassen die „Schreitenden“ des späten Stils erahnen. Das Kreatürliche beginnt das Menschliche zu dominieren, aber auf eine Weise, dass jeder seinen eigenen verstorbenen Vater in den zerklüfteten Formen erkennen kann.
Fehlt etwas? Ja, natürlich, vor allem die „Vollendung“ des späten Giacometti-Stils und einige Hauptwerke der surrealistischen Werkphase. Aber eine Ausstellung, die mit solchen Leihgaben prunken kann, sollte man nicht außerhalb von Paris, London oder New York erwarten. Für das Rheinland ist das Maximum in Brühl möglicherweise schon erreicht. Auf die Querverweise zum Hauspatron Max Ernst könnten die meisten Besucher (im Gegensatz zum Museum) vermutlich verzichten, sie bleiben jedenfalls anekdotisch. Und auch der Versuch, im nach-surrealistischen Giacometti Spurenelemente der reinen Lehre zu entdecken, überzeugt nur bedingt. Dass dieser zufällig auf die Idee zu seinen Menschenwäldern kam, mag ja sein. Aber Zufälle geschehen auch, ohne dass André Breton ihnen den Segen seines Manifests erteilt.
„Alberto Giacometti. Surrealistische Entdeckungen“, Max-Ernst-Museum des LVR, Comesstr. 42, Brühl, 1. September 2024 bis 15. Januar 2025. Der Katalog erscheint demnächst.