Amazons „Stranger Things“Hinter „Paper Girls“ verbirgt sich ein Comic-Genie
Cleveland – Zwölfjährige in Stone-Washed-Jeansjacken, die auf Bonanza-Rädern durch amerikanische Vororte fahren, über ihnen unnatürliche Himmelserscheinungen, darunter ein ominös dräuender Elektroniksoundtrack, der schließlich in einen fast vergessenen 80er-Jahre-Hit übergeht?
Der Trailer zur neuen Streaming-Serie „Paper Girls“ – sie läuft am 29. Juli an – macht unmissverständlich klar, dass Amazon Prime gerne sein eigenes „Stranger Things“ im Programm hätte. Allerdings haben sich die Doppelungen mit dem Netflix-Hit damit auch schon erschöpft. Jedenfalls, wenn die Showrunner dem Geist der zwischen 2015 und 2019 erschienenen Comic-Reihe des Szenaristen Brian K. Vaughan und des Zeichners Cliff Chiang treu bleiben, auf der ihre Serie fußt.
Davon kann man ausgehen, Vaughan ist als Produzent beteiligt und bringt selbst einiges an TV-Erfahrung mit: Unter anderem arbeitete er als Autor für die Mystery-Serie „Lost“ und adaptierte Stephen Kings Roman „Under the Dome“ fürs Fernsehen, ein Job für den ihn Steven Spielberg vorgeschlagen hatte.
Vom letzten Mann der Welt
Auch ist „Paper Girls“ nicht das erste und auch nicht das letzte Comic Vaughans, das in Bewegtbilder umgesetzt wird: In „Y: The Last Man“ (2002-2008) sterben von einem auf den anderen Augenblick alle männlichen Säugetiere, bis auf einen jungen Mann und sein Kapuzineräffchen. Die Serien-Verfilmung der postapokalyptischen und quasi-feministischen Comic-Reihe kann man in Deutschland auf Disney+ sehen, leider war schon nach einer Staffel Schluss.
Ebenfalls auf Disney+ findet man die immerhin drei Staffeln von Brian K. Vaughans Marvel-Serie „Runaways“ (2003-2007). Die war ursprünglich für die große Leinwand geplant, doch dann beschloss man, sich lieber voll und ganz auf das ungleich prominentere Superhelden-Team der Avengers zu konzentrieren.
Superkräfte gegen böse Eltern
Die Runaways sind dafür sehr viel charmanter: Sechs Teenager aus Los Angeles, die sich eigentlich nur gegenseitig tolerieren, weil ihre Eltern miteinander befreundet sind – was sich schlagartig ändert, als sie Zeugen werden, wie die Altvorderen ein Mädchen in einer okkulten Zeremonie opfern.
Superkräfte entwickeln, um die Sünden der Eltern auszubügeln: Warum war nur vor Vaughan niemand auf diese schlagende Pubertäts-Metapher gekommen? Die TV-Adaption leidet zwar etwas unter ihrem zunehmend schmaleren Budget, fängt dafür aber den Geist der Vorlage bestens ein.
Filmprojekt mit Oscar Isaac
Noch im Entwicklungsstadium befindet sich derzeit die Kinoverfilmung von „Ex Machina“. Mit der Comic-Reihe (2004-2010) reagierte Vaughan auf die politische Landschaft nach 9/11, die stürzenden Zwillingstürme konnte er von seinem damaligen Apartment in Brooklyn aus beobachten. Hauptprotagonist von „Ex Machina“ ist Mitchell Hundred, der als einzig existierender Superheld seiner Welt mit mechanischen Objekten kommunizieren kann.
Nachdem es ihm während des Terroranschlags auf das Word Trade Center gelingt, den United-Airlines-Flug 175 aufzuhalten, bevor er in den Südturm einschlägt, wird Mitchell zum Bürgermeister von New York gewählt. Oscar Issac wird den zaudernden Helden spielen, der Filmtitel soll dann „The Great Machine“ lauten – weil Isaac zufällig bereits die Hauptrolle in einem Film namens „Ex Machina“ gespielt hat.
Was alle Vaughan-Titel vereint, ist ihre enge Verzahnung von Popkultur und politischer Zeitdiagnostik, was sie so befriedigend macht, ist das im seriellen Erzählen nicht selbstverständliche Talent des Amerikaners, spektakuläre Ideen befriedigend zu Ende zu führen.
Auch die Geschichte der „Paper Girls“ ist mit ihrer 30. Ausgabe schlüssig auserzählt, oder ist zumindest wieder an ihrem Ausgang angekommen, schließlich handelt es sich um eine Zeitreise-Erzählung. Für die ist Brian K. Vaughan in seinen eigenen Kindheitsort in Cleveland, Ohio zurückgekehrt.
Generationenkonflikt als Zeitreise-Abenteuer
Seine Heldinnen sind vier zeitungsaustragende Mädchen im Jahr 1988, die sich bald nicht nur gegen mobbende Jungs zu Wehr setzen müssen, sondern inmitten eines globalen, epochenumspannenden Kriegs wiederfinden: Es geht um die Frage, ob Reisende aus der Zukunft die Vergangenheit verändern sollen oder nicht. Auf diese Weise erzählt Vaughan vom Konflikt zwischen den Generationen – eine Gottesfigur ist ein Grateful-Dead-T-Shirts tragender Boomer –, aber auch vom eigenen Erwachsenwerden. Die Zeitungsausträgerinnen begegnen ihren erwachsenen Ichs – und das ist der wahre Horror.
Einzig „Saga“, Brian K. Vaughans erfolgreichste und beste Comic-Serie, soll nach Willen ihres Autors niemals verfilmt werden. „Saga“ ist eine Weltraumoper für Erwachsene –mit explizitem Sex, leidigen Kinderbetreuungsfragen und sonst allen Dingen, die uns „Star Wars“ damals verschwiegen hat und an die sich wohl auch kein Streamingdienst und kein Filmstudio herantrauen werden.
„Paper Girls“ läuft ab dem 29. 7. auf Amazon Prime. Die Comic-Reihe ist im Cross Cult Verlag erschienen, ab de, 10. August auch als 800-seitige Gesamtausgabe für 60 Euro.