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Kritik zum vierten AlbumDas sind die besten und schlechtesten neuen Songs von Annenmaykantereit

Lesezeit 5 Minuten
Die Künstler Henning May (l, 31), Christopher Annen (M, 33) und Severin Kantereit (r, 31) sitzen auf einem Sofa. Am Freitag, 3.3.2023 wird das vierte Studioalbum der Kölner Band AnnenMayKantereit veröffentlicht.

Henning May (l, 31), Christopher Annen (M, 33) und Severin Kantereit (r, 31)

Das Kölner Trio AnnenMayKantereit veröffentlicht am 3. März mit „Es ist Abend und wir sitzen bei mir“ sein viertes Studioalbum. Unsere ausführliche Kritik.

Als Jochen Distelmeyer mit seiner Band Blumfeld 1999 über die Liebe und die Arbeit an ihr sang, klang das folgendermaßen: „Das zwischen Dir und mir/ Wir brauchen Worte dafür/ Weil wir uns gleichen/ Und doch unterschiedlich sind/ Wenn wir die Dinge anders sehen/ Oder einander missverstehen/ Und trotzdem wollen/ Dass es zusammen geht.“

Henning May genügen auf „Es ist Abend und wir sitzen bei mir“, dem neuen Album des Kölner Trios AnnenMayKantereit, zehn ein- und zweisilbige Worte, um denselben Punkt zu machen: „Wer verliebt sein will, muss reden/ so ist das eben.“

Das dürfte ein Grund für den außerordentlichen Erfolg der drei Schulfreunde vom Schiller-Gymnasium sein, die nun auch bereits die 30 überschritten haben: Sie schreiben keine Seminararbeiten übers Leben, sie sagen, wie es ist, im Hier und Jetzt. Von wegen „Alles nix Konkretes“ (so hieß das Debütalbum), viel greifbarer geht es kaum.

Es hilft, wenn er sie mit seinem kehlig-knarzigen Bariton vorträgt. May ist der Freund, der endlose WG-Diskussionen mit einer Lakonie zusammenfasst, von der man nie genau weiß, ob sie nun etwas geistesschlicht oder schlichtweg brillant ist. Man weiß nur, dass man ihm unmöglich nicht zustimmen kann.

AnnenMayKantereit schreiben keine Seminararbeiten übers Leben

„Sommer, Sonne, Kuchengabel“ beginnt allen Ernstes ein Song namens „Erdbeerkuchen“, der dieses Banalitätsprogramm bewusst auf die Spitze treibt. Christopher Annen schrammt seine offen gestimmte Gitarre dazu wie Keith Richards mit Sahne und Schlagwerker Severin Kantereit drückt immer mehr aufs Tempo, kurz gesagt: Es rockt, aber es geht eben nicht um blaue Wildlederschuhe oder Autobahnabfahrten Richtung Hölle, sondern um Federweißer und Filterkaffee. All denjenigen, die AnnenMayKantereit ihre wohlanständige Harmlosigkeit, wenn nicht gar Spießigkeit vorwerfen, scheint dieses kurze Stück gewidmet.

Man kann aber auch sagen: Selbst wenn sie den Rock’n’Roll nicht neu erfinden (und wer könnte das schon), so haben sie dem Genre doch wenigstens ein neues Themenfeld eröffnet. Wham bam, thank you Kaffeekränzchen.

Kleine Kiffer-Abenteuer an der Weißhausstraße, Ecke Uni-Center

So viel zur Feier des Augenblicks. Die ja auch, wie man auf AnnenMayKantereits vorhergehenden, von der Pandemie-Vereinzelung extrem angefassten Album „12“ nachhören kann, eine Trauerfeier sein kann.

Alles, was gestern war, wird von AnnenMayKantereit jedoch sofort mit dem warmen Mantel der Nostalgie umhüllt: Kleine Kiffer-Abenteuer an der Weißhausstraße, Ecke Uni-Center, der Vater, der immer an früher denken muss, wenn er Orangen schält, begleitet von einer süßlich-wehmütigen Piano-Melodie, oder auch Niederlagen und Erfolge im Fußballverein.

Wenn Henning May hier – ausnahmsweise mal mit hemmungslosem Pathos – zum Refrain „Es gibt keinen Stern, der so leuchtet/ wie das Flutlicht überm Ascheplatz“ anhebt, klingt er beinahe wie Herbert Grönemeyer, dem beim Gedanken an „Bochum“ die Brust schwillt.

Am krassesten wirkt diese Instant-Verklärung freilich in „Als ich ein Kind war“, wo May sehnsüchtig auf eine Zeit zurückblickt, in der man nachmittags RTL II statt Insta guckte, die Post noch gelb, die Wiesen grün und Linda de Mol eine „berühmte Frau“ war. Am Ende ertönt eine verlorene Chet-Baker-Trompete, begleitet vom Einwahlgeräusch eines Modems.

Seltsame Sehnsucht nach Linda de Mol und Modem-Geräuschen

Für jeden von uns kommt der Moment, in der Alltagsgegenstände zu Museumsstücken werden, in dem es sich nicht mehr leugnen lässt, dass man einmal in einer ganz anderen Zeit gelebt hat. Darüber lässt sich singen, es handelt sich ja letztlich um die Konfrontation mit dem Tod, aber AMK ziehen aus ihren Rückschauen keine weiteren Schlüsse, außer einem diffusen „Es ist so verrückt, wie viel Zeit vergeht“.

Viel besser sind sie immer da, wo es um einen Neuaufbruch geht, um das Herausschreiten in die Welt nach den Sofajahren unterm Zeichen des Virus.

„Du musst Dich einfach mal wieder so bewegen, wie Du Dich fühlst“, fordert die gedoppelte Stimme vom May den Hörer im Auftaktstück „Lass es kreisen“ auf, und Bandneuzugang Sophie Chassée zitiert zwischendrin Herbie Flowers berühmten Basslauf aus „Walk on the Wild Side“, bevor sie in einen ziemlich unwiderstehlichen Sambarhythmus wechselt. Chassées Beiträge sind durchweg das größte musikalische Plus des Albums, aber ganz generell kann man feststellen, dass AMK an ihren Instrumenten vorankommen, ohne ihres ursprünglichen Charmes verlustig zu gehen.

Er möchte „angenehm untergehen in der Masse der Maskierten“, wünscht sich Henning May in „Lass es kreisen“, aber auch in „Es ist Abend“ und „Ausgehen“ feiert er das fröhliche Beisammensein, das angenehm-ungeplante Driften der Zeit, wenn man sie zusammen verbringt.

Das sind die glücklichen und geglückten Momente dieser Platte, die AnnenMayKantereit, laut Promozettel, wohl tatsächlich im Beisein von Freunden und Freundinnen in ihrem Kölner Studio aufgenommen haben. Im geselligen Überschwang haben sie auch endlich „Tommi“, ihre so ranschmeißerische wie unwiderstehliche Köln-Hymne auf einem Studio-Album festgehalten.

Das beste Lied von „Es ist Abend und wir sitzen bei mir“ haben AnnenMayKantereit aber einer „Katharina“ gewidmet, die ihr Licht (und auch ihre Wut), wie zu viele Frauen, allzu sehr unterm Scheffel stellt. „Katharina, ich glaub’ an dich, so viele Zweifel, die brauchst du nicht“, ruft Henning May ihr zu und Christopher Annens euphorischer Coldplay-Gitarrenriff geht hier völlig in Ordnung.

Ein wunderbarer, solidarischer, mitreißender Popsong. Wer sich demnächst abends zu mir setzt, bekommt den garantiert vorgespielt.

„Es ist Abend und wir sitzen bei mir“ erscheint am 3. März bei Universal Music