Die Kölner Schauspielerin Annette Frier bezieht, nach den Vorwürfen gegen Til Schweiger, Stellung zum Status quo in der Filmbranche.
Annette Frier über die Filmbranche„Es gibt zweifelsfrei Machtmissbrauch – und der ist systemimmanent“
Frau Frier, zurzeit diskutiert die Filmbranche über Zustände an Sets und Machtmissbrauch bei Filmdrehs. Auslöser war ein „Spiegel“-Artikel über Til Schweiger. Was haben Sie gedacht, als Sie diesen lasen?
Annette Frier: Ich fand das nicht besonders geheimnisvoll. Und musste daran denken, dass ich zwei Wochen vorher Benjamin von Stuckrad-Barre auf dem Cover sah. Das hat doch eine Verwandtschaft und eine fast zeitgeistige Logik. Das System frisst sich selbst auf, und das finde ich in großen Teilen ok. Man wundert sich, warum gerade jetzt? Offensichtlich beschäftigt sich die Gesellschaft gerade intensiv mit dem Thema Macht und Missbrauch. Da wird dann vieles nach oben gespült.
Aber es ist gut, dass alles nach oben gespült wird?
Diese Sache war vermutlich überfällig. Ich gehe davon aus, dass vieles so stimmt und dass dem ein Riegel vorgeschoben wird, ist natürlich richtig. Trotzdem sehe ich keinen Anlass, mich an irgendeiner Form von kollektiver Verurteilung zu beteiligen. Meine letzte Begegnung mit Til liegt schon ein paar Jahre zurück, und es war ein sehr amüsanter Drehtag. Er hat eine Leiche gespielt, die Cordula Stratmann und ich verschwinden lassen mussten. Sein Kommentar am Abend war: „Ich weiß schon, was die schreiben werden: Der kann nicht mal Leiche.“
Kolleginnen melden sich jetzt zu Wort und sagen, es gebe ein strukturelles Problem in Ihrer Branche. Sehen Sie das auch so?
Ich sehe das strukturelle Problem auch, aber nicht ganz grundsätzlich nur in der Filmbranche. In den Theatern sind die Zustände zum Teil viel krasser. In der Filmbranche ist unglaublich viel passiert in den letzten Jahren, was Tarifverträge und die Organisation von Gewerkschaften angeht. Es haben sich viele Dinge verbessert. Nach meiner Erfahrung werden am Set Überstunden bezahlt, es werden auch Tarifverträge eingehalten. Zu 90 Prozent arbeite ich in Zusammenhängen, wo das tadellos funktioniert.
Also alles halb so schlimm?
Ich möchte nicht sagen, dass es keine Missstände gibt. Im Gegenteil. Missbrauch kann in jedem Raum stattfinden, in dem Macht eine Rolle spielt. Wer die Macht und die Kohle hat, sagt, wo es lang geht. Das ist systemimmanent. Aber es ist eben auch nicht so, dass an jedem zweiten Set Gewalt und respektlose Brüllereien stattfinden. Die generelle Problematik, gibt es in vielen Branchen: Je höher die Machtposition der einzelnen Person ist, was wiederum mit der Währung Ruhm und Geld zu tun hat, umso perfider werden die Möglichkeiten, Schaden anzurichten. Je mächtiger eine Person ist, umso wichtiger ist es, dass diese Person umfänglich geschult ist, damit verantwortungsvoll umzugehen. Solange sich unsere Gesellschaft dem Geld und nicht den Menschen verpflichtet, werden diese Zustände herrschen. Erschwerend kommt gerade am Filmset hinzu, dass oft sehr kurzfristig weitreichende Entscheidungen getroffen werden müssen.
Warum ist das ein Knackpunkt?
Hier ein worst case Beispiel: Eine Figur funktioniert nicht, jemand muss umbesetzt werden. Dann kann man nicht wie in Gremien der Politik über Wochen, Monate oder Jahre Entscheidungen prokrastinieren. In so einem Moment kann nur hierarchisch entschieden werden. Das ist sicher nicht demokratisch. Eine Person muss eine Entscheidung treffen. Diese ist meist mit eruptiven Gefühlsausbrüchen verbunden, weil es sowohl um viel Geld als auch um große Träume geht. Und dann ist das Ganze nicht mehr unbedingt rational. Hier stößt man dann automatisch an Grenzen.
An welche Grenzen?
An emotionale Grenzen. Menschen eben. Es gibt aber auch ganz lapidare Beispiele: Wenn ein Praktikant, eine Praktikantin sagt, ich fühle mich nicht gut behandelt, weil ich um sechs Uhr morgens aufstehen und so schwer schleppen muss, ok, das ist halt der Job. Das ist keine Ausbeutung, das ist das Kennenlernen der Filmarbeitswelt.
Aber ist nicht das Machtgefälle am Set genau das Problem? Sie sind prominent, Ihre Stimme hat Gewicht. Ein freiberuflich arbeitender Beleuchter zum Beispiel steht da vielleicht schon anders da.
Absolut, wenn ich als Hauptdarstellerin mit sehr viel Macht in dieser Funktion bemerke, dass etwas nicht stimmt, ist es meine Aufgabe, meinen Mund aufzumachen. Mehr als andere. Aber glauben Sie mir, die Beleuchter-Teams in Köln sind ausgebucht bis ins Jahr 2024. Damit möchte ich nichts kleinreden, aber die müssen nicht bei Til Schweiger arbeiten. Nochmal: Es gibt zweifelsfrei Machtmissbrauch auf vielen Ebenen, und der ist systemimmanent. Deswegen braucht es eine gesellschaftliche Transformation. Wer solche Veränderungen grundsätzlich ablehnt und ein „Weiter so“ proklamiert, diskreditiert sich selbst.
Sehen Sie diese Transformation in der Filmbranche?
Ich sehe auf jeden Fall einen Aufbruch. Ich erlebe, dass Leute, die jetzt von der Filmhochschule kommen, völlig anders aufgestellt sind, als wir das vor 20 Jahren waren. Das ist eine andere Ausbildung im Miteinander, und das begrüße ich. Und im Übrigen sollte man in dieser Debatte auch ehrlich zu sich selbst sein.
Wie meinen Sie das?
Ich frage mich, was denn gewesen wäre, wenn Til Schweiger mich vor drei Monaten für seinen nächsten Film angefragt hätte, der wahrscheinlich wieder der erfolgreichste Film des Jahres wird. Hätte ich das gemacht oder nicht, mit dem konkreten Wissen von mir vertrauten Kolleginnen, wie angespannt die Set-Atmosphäre während der letzten Filme war? Die Frage kann sich jeder nur selbst beantworten, ist für mich aber letztlich wesentlich aufschlussreicher als jedes Gossip-Gespräch zu dem Thema.
Aber es liegt doch nicht nur in der Verantwortung des Einzelnen.
Nein, ich finde, es ist Voraussetzung, dass es dieses Bewusstsein gibt, dass Leute in Machtpositionen wissen, dass sie eine Riesenverantwortung tragen und ein ganzes Team davon abhängig ist. Sie sind nicht nur dem Produkt und dem Ergebnis verpflichtet, sondern genauso der Lebenszeit der Mitarbeitenden. Diese Maxime gehört in den Arbeitsalltag. Das unterstütze ich, wo und wie ich kann. Trotzdem muss ich mir die Frage stellen, wann und wo bin ich persönlich korrumpierbar.
Das Thema Alkoholmissbrauch ist ja im Zusammenhang mit Til Schweiger nur sehr am Rande diskutiert worden. Läuft da nicht auch gesellschaftlich etwas falsch?
Allerdings. Man weiß ja, dass Gewalt oft einhergeht mit Alkoholsucht. Und alle nehmen das hin, weil es gesellschaftlich anerkannt ist. Wieso hat niemand von Produktionsseite gesagt, wir machen den Film nur unter der Bedingung: „Du bist nüchtern“?
Vielleicht, weil das unserem Bild eines Kreativen entspricht? Nach dem Motto: Denen muss man Eskapaden verzeihen.
Totaler Bullshit. Das hartnäckige Klischee vom besoffenen Künstler, dem Enfant-Terrible. Das ist Schwachsinn und selbstzerstörerisch. Wieder so ein gesellschaftliches Phänomen. Bei Marihuana ist die Empörung riesengroß, tägliche Alkoholexzesse sind total normal. Das ist doch absurd.
Und was entgegnen Sie, wenn manche sagen, solche Debatten wie die um Til Schweiger führten dazu, dass man irgendwann gar nichts mehr dürfe und die Kunst erstickt werde?
Dann sage ich: Es wird gar nichts erstickt. Es ist doch im Gegenteil ganz schön, dass aufgrund der aktuellen Moraldebatten die Kunst erst wieder aufgefordert ist, sich gegen etwas aufzulehnen. Das hat doch Jahre lang nicht stattgefunden, alles war erlaubt und deswegen auch ein bisschen egal. Und jetzt versucht die Gesellschaft, wieder Grenzen zu ziehen. Das ist wohl ein zyklischer Vorgang. Funktionieren kann das alles sowieso nur, wenn sich sowohl das System als auch die/der Einzelne sich bewegt. Insofern sollten wir vielleicht alle lernen, unseren nächsten Shitstorm mit offenen Armen zu empfangen…. Amen!