Köln – „So etwas passiert eigentlich nie. Normalerweise bekommen wir immer zu wenige Fragebögen zurück.“ Die Soziologin Julia Bernstein ist Professorin für Diskriminierung und Inklusion in der Einwanderungsgesellschaft in Frankfurt. Zum ersten Mal in der Forschung zum Thema Antisemitismus in Deutschland befragte sie die Betroffenen selbst zu ihrer Situation – also deutsche Juden und Jüdinnen.
„Warum das vorher noch niemand getan hat, verstehe ich nicht. Das ist ja so, als würde man Männer zum Thema Sexismus befragen,“ erzählt Bernstein am Dienstagabend im Hörsaal der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln. Dort haben sich Lehramtsstudierende und Interessierte eingefunden, um ihren Vortrag über Antisemitismus an deutschen Schulen zu hören und im Rahmen der von Joachim Frank, Chefkorrespondent des „Kölner Stadt-Anzeiger“, moderierten Veranstaltung zu diskutieren. Denn in Bernsteins initialer Studie hatte sich die Schule als einer der zentralen Orte von Judenhass herauskristallisiert.
Witze über den Holocaust
„Du Jude“ wird längst als eines der beliebtesten Schimpfworte auf deutschen Schulhöfen gebraucht, und auch Witze über den Holocaust gehören häufig zum Schulalltag dazu. Also führten Bernstein und ihr Team 227 Interviews an 171 Schulen mit sowohl jüdischen Schülern als auch mit jüdischen und nicht-jüdischen Lehrkräften.
„Was machst du hier?“, erzählt Bernstein, ist eine Frage, mit der sich Juden und Jüdinnen in Deutschland allzu häufig konfrontiert sehen. In dieser Frage schwingen viele verschiedene Bedeutungen mit: Was machst du hier im Land der Täter? Wie kannst du hier leben, nach dem, was passiert ist? Aber auch: Wir wollen dich nicht hier haben.
Bernsteins Studie kam unter anderem zu dem Ergebnis, dass es auch 70 Jahre nach dem Holocaust längst nicht selbstverständlich ist, dass jüdische Menschen in Deutschland leben. Auch Sophie Brüss von der Servicestelle für Antidiskriminierungsarbeit bestätigt: „Es wird per se exkludiert, denn es wird automatisch davon ausgegangen, dass es keine Juden im Raum gibt, es sei denn, jemand outet sich explizit.“ Das führt auch an Schulen zu einem problematischen Umgang mit Antisemitismus. Viele Lehrer bagatellisieren das Thema und lassen die Kinder mit ihren „Juden-Witzen“ einfach gewähren.
Schutzlos und allein gelassen
Hinzu kommt, dass vor allen Dingen israelbezogener Antisemitismus von Lehrkräften meist überhaupt nicht als solcher erkannt wird. Gerade wenn muslimische Schüler ihren Zorn auf Israel an jüdischen Mitschülern auslassen, tun viele Lehrer das als persönlichen Konflikt ab anstatt einzuschreiten. Betroffene fühlen sich als Folge meist allein gelassen und schutzlos.
So plädiert Bernstein für eine umfassende Aufklärung für angehende Lehrkräfte über Antisemitismus. Denn das Phänomen ist oft nur schwer zu fassen. Es ist äußerst vielgesichtig und nicht selten sogar in sich widersprüchlich. Insbesondere die modernen Formen des Antisemitismus werden meist nicht erkannt oder führen zu Verunsicherung, wie man sich diesen stellen kann.
Gleichzeitig warnt Myrle Dziak-Mahler, Geschäftsführerin des Zentrums für LehrerInnenbildung, davor, das Problem des Antisemitismus nur an die Schulen abzuschieben: „Antisemitismus ist ein gesellschaftspolitisches Problem, es muss von der Gesellschaft angegangen werden und darf nicht an die Pädagogen allein delegiert werden.“