ARD-Improvisationsfilm„Klassentreffen“ fordert Schauspieler, ohne peinlich zu werden

Interessante Wiederbegegnung: Die Ex-Schüler Hergen (Marek Harloff) und Marion (Jeanette Hain) treffen auf Herrn Rebentisch (Burghart Klaußner), ihren früheren Lehrer.
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Familie hat man, Freunde kann man sich aussuchen, heißt es. Bei Mitschülern ist es irgendetwas dazwischen. Wir haben keinen Einfluss darauf, wer mit uns im Klassenzimmer sitzt; aber wir entscheiden, mit wem wir viel Zeit verbringen, wen wir an uns heranlassen und wen nicht. In einem Klassenverbund gibt es das ganze Spektrum zwischenmenschlicher Gefühle: Freundschaft, Abneigung, Gleichgültigkeit, Bewunderung, Neid, manchmal Liebe, manchmal Hass. Und jeder spielt in diesem Gefüge eine Rolle. Es gibt Klassenclowns und Streber, Anführer und Außenseiter; es gibt Schlaue, Sportliche und Angehimmelte.
Das kann eine explosive Mischung sein. Und so verwundert es nicht, dass Regisseur und Autor Jan Georg Schütte nach seinen Improvisations-Filmen „Altersglühen – Speed Dating für Senioren“, für den er einen Grimme-Preis gewann, und „Wellness für Paare“ nun ein Klassentreffen zum Thema seines neuen Filmes macht.
Rollenprofile, aber kein Drehbuch für die Darsteller
die Termine
Das Erste zeigt „Klassentreffen“ an diesem Mittwoch um 20.15 Uhr. Im Spartenkanal One ist er am 10. März, 20.15 Uhr, zu sehen.
Zudem zeigt One am 8. März von 21 Uhr an alle sechs Folgen der aus dem Material ebenfalls entstandenen Serie „Klassentreffen“. (ksta)
Auch bei diesem Projekt galt: Die Darsteller erhielten vorab Rollenprofile, aber es gab kein Drehbuch. Als Motiv diente ein leerstehender Gasthof in Hürth, der für 32 Kameras hergerichtet wurde. 24 Kameraleute waren während des Drehs im Einsatz, 2600 Meter Kabel mussten unsichtbar verlegt werden. Jeder Darsteller hatte in seiner Kleidung ein unsichtbares Mikrofon versteckt, dessen Signale über Funk auf das Mischpult des Tonmeisters übertragen wurden.
Schütte konnte ein hochkarätig besetztes Ensemble gewinnen: Annette Frier, Charly Hübner, Anja Kling, Jeanette Hain, Nina Kunzendorf, Fabian Hinrichs, Oliver Wnuk, Elena Uhlig, Kida Khodr Ramadan, Anna Schudt, Christian Kahrmann, Marek Harloff, Aurel Manthei, Nadja Zwanziger, Nicole Kersten, Guido Renner, Björn Jung und Burghart Klaußner als ehemaliger Lehrer. Sie alle ließen sich auf dieses Projekt ein. Allesamt Profis, doch das Lampenfieber war bei den meisten groß, bevor es losging.
„Oh Gott, worauf habe ich mich da bloß eingelassen“
„Gedanke kurz vor Dreh: Oh Gott, worauf habe ich mich da bloß eingelassen, kalter Schweiß auf Stirn, Herzrasen, Fluchtreflex. Gedanke selber Tag ein paar Stunden später nach Drehschluss: Oh Gott, ich möchte nie wieder anders arbeiten“, fasst etwa Harloff seine Gefühlswelten zusammen. Denn ein solcher Film ist ein Wagnis. Es gibt schließlich einen Grund, warum Billy Wilder einst sagte, für einen guten Film brauche es drei Dinge: ein gutes Buch, ein gutes Buch, ein gutes Buch. Deshalb ist das Risiko zu scheitern hoch bei solchen Experimenten – bester Beweis war der Impro-„Tatort“ „Babbeldasch“, der bei Kritik und Publikum gleichermaßen durchfiel.
Doch Jan Georg Schütte konnte sich ganz auf seine Schauspieler verlassen. Die waren mit großer Spielfreude und Mut zum Risiko am Werk. Und wie nicht anders zu erwarten, hat Schütte ihnen Biografien verpasst, die viel Konfliktpotenzial liefern: Da ist etwa Krischi (Hübner). Der Schuhfabrikant lebt mit seiner Ehefrau und den vier gemeinsamen Kindern auf einem Bauernhof bei Krefeld. Er ist politisch weit nach rechts gerückt, will die deutsche Heimat vor Fremden retten. Das wiederum macht seinen zu Schulzeiten besten Freund Ali (Ramadan) fassungslos.
Das Ehepaar Gesa (Frier) und Thorsten (Wnuk) haben das Treffen organisiert. Die beiden Lehrer sind seit der Schulzeit zusammen. Sie haben die kürzeste Anreise, fahren mit dem Rad zur Kneipe. Sie tragen die gleiche Jacke, den gleichen Helm. Doch Thorsten war einst in die irgendwie schräge Marion (Jeanette Hein) verliebt, die nun auf der Feier rumerzählt, sie führe mit ihm eine geheime Beziehung.
Geschichten von Gewinnern und Verlieren
Es sind Geschichten von Gewinnern wie Sven (Hinrichs), der es als Anwalt in den USA zu Geld gebracht hat, gar nicht eingeladen war, und nun beweisen will, dass er nicht mehr das Arschloch ist, als das ihn alle in Erinnerung haben. Und es sind Geschichten von Verlieren wie Andi (Manthel). Ein Punkt fehlte ihm damals, um das Abi zu bestehen. Ein Punkt, den ihm der auch anwesende frühere Deutschlehrer (Klaußner) nicht gegeben hatte. So wurde nichts aus Andis Traum vom Germanistikstudium. Heute schlägt er sich als Aushilfspfleger durch, weil er auch die Ausbildung zum Krankenpfleger aufgrund seiner Prüfungsangst nicht erfolgreich abschließen konnte. Im Lauf der Zeit offenbaren sich bei allen alte Wunden, Sehnsüchte und Verletzungen. Die vergangenen 25 Jahre haben keinen unbeschädigt gelassen, jeder hat mindestens eine Leiche im Keller.
Gefilmt wurde „Klassentreffen“ an einem Stück. Nach genau vier Stunden und zwölf Minuten beendete Schütte die Dreharbeiten in denen 7800 Minuten Material aufgezeichnet wurden. Es dauerte Monate, ehe Schütte und Benjamin Ikes daraus im Schnitt die 90 Minuten Film destillieren hatten.
Ein außergewöhnlich lebensnaher Film
Herausgekommen ist ein außergewöhnlich lebensnaher Film, der nie peinlich wird. Mag sein, dass die eine oder andere Figurenzeichnung etwas arg schablonenhaft geraten ist, so hätte etwa Annette Frier die unsichere Gesa sicherlich auch ohne den doch sehr übertrieben altbackenen Look überzeugend dargestellt. Und einige Charaktere wie etwa Nina (Kersten) kommen zumindest in der Spielfilmfassung fast gar nicht vor.
Dennoch ist das Experiment eindeutig geglückt, auch weil man sich als Zuschauer schnell zurecht- und wiederfindet in diesem Beziehungsgeflecht. Wer allerdings in nächster Zeit auf ein Klassentreffen eingeladen ist, wird sich nach den 90 Minuten vielleicht noch einmal überlegen, ob er sich das wirklich antun soll.