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Attentat in New YorkWarum feiert Amerika einen Mörder?

Lesezeit 5 Minuten
Dieses von der Pennsylvania State Police veröffentlichte Bild zeigt Luigi Mangione, der Brian Thompson, CEO von United Healthcare, erschossen haben soll.

Dieses von der Pennsylvania State Police veröffentlichte Bild zeigt Luigi Mangione, der Brian Thompson, CEO von United Healthcare, erschossen haben soll.

Luigi Mangione hat mutmaßlich den Chef einer Versicherung erschossen. Die Reaktionen weisen auf einen tiefen Riss in der Gesellschaft hin.

Am frühen Morgen des 4. Dezembers ist Brian Thompson, Chef des Versicherers United Healthcare, gerade am New York Hilton Midtown Hotel in der 54. Straße West angekommen, als er von mehreren Schüssen in den Rücken und in die rechte Wade getroffen wird. Der Schütze flieht zu Fuß. Kurz darauf sehen ihn Passanten auf einem E-Bike von der 6. Avenue in den Central Park einbiegen. Eine knappe halbe Stunde nach der Tat wird Thompson im Mount Sinai West Krankenhaus für tot erklärt.

Ein Mord mitten im Herzen Manhattans, ein feiges Attentat. Fast noch schockierender fallen die Reaktionen der amerikanischen Öffentlichkeit aus: Sympathie für den Attentäter, Verachtung für das Opfer. Als CEO eines notorisch zahlungsunwilligen Krankenversicherers sei Thompson für das Leiden und den Tod von Tausenden seiner Mitbürger verantwortlich, da falle das Mitgefühl mit einem toten Multimillionär schwer, lautet der Konsens. Gefolgt von einer Flut an schwarzem Humor und Häme in den sozialen Medien: Den Post, den die United Health Group zum Tod ihres CEOs veröffentlicht, kommentieren mehr als hunderttausend Facebook-Nutzer mit dem „Haha“-Emoji.

Auch „Saturday Night Live“ nimmt den Mord zum Anlass für Witze

Das ist kein Randphänomen mehr und auch kein Klassenkampf. Selbst konservative Kommentatoren, die zur Ordnung rufen, werden von ihrem Publikum virtuell niedergebrüllt. Der in den USA bei Links wie Rechts beliebte Stand-up-Comedian Bill Burr vergleicht Versicherungs-Chefs mit herzlosen Gangstern, und Colin Jost witzelt in der Comedy-Show „Saturday Night Live“: „Es sagt wirklich etwas über Amerika aus, dass ein Mann kaltblütig ermordet wurde und die beiden Hauptreaktionen waren: ‚Ja, die Gesundheitsversorgung stinkt!‘ und ‚Girl, dieser Schütze ist echt heiß.‘“ Der gutaussehende Killer wird zur Robin-Hood-Figur verklärt.

Die McDonald’s-Filiale in Altoona, Pennsylvania, in der ein Kunde den mutmaßlichen Täter Luigi Mangione erkannt hat, wird online mit einer Litanei schlechter Bewertungen überzogen: In dem Laden wimmele es von Ratten. Derweil haben die Konkurrenten von United Healthcare Bilder und Lebensläufe ihrer Führungskräfte in aller Stille von ihren Internetseiten entfernt und Sicherheitsdienste mit dem Schutz ihrer CEOs beauftragt.

Die Menschen haben das Vertrauen in die Eliten verloren, ja man traut sich kaum mehr, den Begriff zu verwenden

War je zuvor ein Mord so offen gefeiert worden? In der „New York Times“ fühlt sich die Soziologin Zeynep Tufekci an die Tumulte des „Gilded Age“ erinnert, also der Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs nach dem amerikanischen Bürgerkrieg, als Industrielle wie J.P. Morgan, John Rockefeller oder Cornelius Vanderbilt mithilfe von Lohnsklaverei, Korruption und Monopolbildung extreme Reichtümer anhäuften.

Die Tech-Milliardäre von heute mit den Räuberbaronen von damals zu vergleichen, das klingt nach allzu schnell abgefeuerter Meinung. Aber Tufekci zitiert den Historiker Jon Grinspan, nach dem die USA während des vergoldeten Zeitalters (das eben kein goldenes war) unter anderem ein Amtsenthebungsverfahren, zwei Präsidentschaftswahlen, die vom Verlierer der Wählermehrheit gewonnen wurden und drei tödliche Attentate auf US-Präsidenten erleben mussten: Das eklatante Ungleichgewicht bei der Verteilung des Wohlstands drohte den Gesellschaftsvertrag zu zerreißen. Die Parallelen zur aktuellen Situation nicht nur in den Vereinigten Staaten sind offensichtlich.

A New York police officer stands on 54th Street outside the Hilton Hotel in midtown Manhattan where Brian Thompson, the CEO of UnitedHealthcare, was fatally shot Wednesday, Dec. 4, 2024, in New York. (AP Photo/Stefan Jeremiah)

Ein New Yorker Polizeibeamter steht auf der 54th Street vor dem Hilton Hotel in Midtown Manhattan, wo Brian Thompson, der CEO von United Healthcare, am Mittwoch, 4. Dezember 2024, in New York tödlich erschossen wurde.

Die Menschen haben das Vertrauen in die Eliten verloren, ja man traut sich kaum mehr, den Begriff zu verwenden. Das betrifft längst nicht nur die CEOs großer Versicherungen, sondern auch das politische Establishment, die Gerichte, die traditionellen Medien, die Wissenschaft, die Stars aus Hollywood und dem Musikgeschäft. Geschichten über organisierten sexuellen Missbrauch durch das oberste Prozent der Reichen und Berühmten – man denke nur an die noch aufzuklärenden Fälle Jeffrey Epstein und P. Diddy – scheinen wildeste QAnon-Verschwörungsmythen zu bestätigen.

Das soziale Ungleichgewicht erklärt hier viel. Den meisten Menschen mag es erheblich besser gehen als zu Zeiten der Räuberbarone. Aber der Eindruck bleibt, das kapitalistische Versprechen gelte nur für eine dünne Schicht von Möchtegern-Königen und -Kaisern. Dazu kommt noch die Entzauberung durch das digitale Zeitalter: Soziale Medien erlauben Unternehmen oder Prominenten unvermittelte Nähe zu ihren Kunden oder Fans. Aber sie sind nun mal keine Einbahnstraße. Die digitale Egalität der Mittel liefert auch das „Wie“ zum „Warum“: Der technikaffine Tatverdächtige konnte den Aufenthaltsort von Brian Thompson offensichtlich nachverfolgen, die Tatwaffe hatte er mithilfe eines 3D-Druckers selbst angefertigt.

Was unsere Gegenwart ebenfalls vom vergoldeten Zeitalter unterscheidet, hat der Wirtschaftswissenschaftler Paul Krugman vor kurzem folgendermaßen beschrieben: „Nicht nur die Arbeiterklasse fühlt sich von den Eliten betrogen; einige der wütendsten, verbittertsten Menschen in Amerika sind Milliardäre, die sich nicht ausreichend bewundert fühlen.“ Ebenjene Milliardäre, die demnächst einen großen Teil der zweiten Trump-Regierung bilden werden, gewählt mit den Stimmen der ganz gewöhnlichen Eliten-Hasser.

Plutokraten wie Elon Musk bedienen sich wie Donald Trump eines Diskurses der Affekte: Hass, Wut und Häme ersetzen Argumente. Bevor dieser etwas erwidern könnte, schießt man dem Gegner in den Rücken. Der Mörder von Brian Thompson hat am Tatort Patronenhülsen mit den Aufschriften „delay“, „deny“ und „depose“ zurückgelassen. „Verzögern“ und „verweigern“ summiert die Taktiken, mit denen Versicherer die Zahlung von Ansprüchen ihrer Kunden vermeiden. „Depose“ bedeutet, jemanden zu entthronen. Das geht selten ohne Gewalt. Es spiegelt auch die Ungeduld wider, mit der sich die Betrogenen ihre Würde und ihren Wohlstand zurückholen wollen, ohne langwierigen Marsch durch die Institutionen. Genau das aber versprechen ihnen die populistischen Milliardäre.