Weil sie sich gegen ihren Vergewaltiger wehrte, wurde Reyhaneh Jabbari 2014 erhängt. Der Kampf der Frauen im Iran geht weiter. Ein neuer Dokumentarfilm erzählt die Geschichte Jabbaris.
„Auch wenn es mein Leben kostet“Reyhaneh Jabbari: Vergewaltigt und hingerichtet
Die Stimme klingt leicht verzerrt, Hintergrundgeräusche sind zu hören. Es handelt sich um einen Telefonmitschnitt, aufgenommen mit einem Handy. Und doch sind die Worte der jungen Frau glasklar: „Ich, Reyhaneh Jabbari, bin 26 Jahre alt. Ich soll erhängt werden, aber das macht mir keine Angst. Ich will allen meine Geschichte erzählen. Die Menschen sollen sie hören und sich ihr eigenes Urteil bilden. Dann können sie, wenn sie wollen, den Strick um meinen Hals enger ziehen. Alle sollen erfahren, was ich mit 19 erlebt habe, das mich den Tod nicht mehr fürchten lässt.“
Als Reyhaneh Jabbari diese Sätze spricht, gehört sie zu den rund 2000 Insassinnen des Teheraner Frauengefängnisses Shahr-e Rey. Ihre Mutter Shole Pakravan zeichnete den Anruf auf. Jabbari wurde am 25. Oktober 2014 im Alter von 26 Jahren hingerichtet. Sie hatte es sieben Jahre zuvor gewagt, sich gegen ihren Vergewaltiger zu wehren.
Nun können alle ihre Geschichte verfolgen, so wie es sich Jabbari gewünscht hat. Im Dokumentarfilm „Sieben Winter in Teheran“ erzählt die deutsche Regisseurin Steffi Niederzoll im Kino vom vergeblichen Kampf um Jabbaris Leben – und den Folgen.
Eine Geschichte der Entrechtung von Frauen im Iran
Für deren Mutter ist der Kampf noch immer nicht abgeschlossen. Noch immer gilt es, Frauen zu retten. Pakravan hat die Gruppe Madaraneh (Mutterschaft) gegründet. Sie setzt sich ein gegen die Todesstrafe im Iran. „Im Iran kannte ich mehr als 100 Familien, die sich in der gleichen Situation befanden wie ich“, so Pakravan. „Jetzt sind noch mehr dazugekommen. Mit einigen stehe ich in Kontakt.“ Pakravan ist zur Aktivistin geworden. Sie lebt heute in Berlin.
Die Geschichte ihrer Tochter ist eine über die Entrechtung von Frauen im Iran, vor allem über das mutige Aufbegehren gegen die Unterdrücker. Sie erinnert an die Geschehnisse um den Tod von Jina Mahsa Amini. Die 22-Jährige musste vor genau einem Jahr auf einer Polizeistation sterben, weil sie ihr Kopftuch nicht so trug, wie es die sogenannten Sittenwächter verlangten. Monatelang gingen die Menschen unter dem Slogan „Frau, Leben, Freiheit“ auf die Straße.
Dutzende Demonstrantinnen und Demonstranten hingerichtet
Vom Aufstand gegen das Regime hört man im Westen nur noch wenig. Die Hinrichtung von Demonstrantinnen und Demonstranten hat begonnen und geht wohl schon in die Dutzende. Das System scheint sich in seiner Übermacht wieder sicher zu fühlen. Doch noch immer ignorieren viele Iranerinnen die Kopftuchpflicht. Die Angst vor Drangsalierungen hält sie nicht mehr zurück. In der Hochzeit der Proteste hielten es viele Beobachtende für unmöglich, dass sich das Regime auf Dauer an der Macht würde halten können.
Es war ein normaler Frühlingstag 2007, als Jabbaris Leben zerbrach. So hat sie es in den Briefen geschrieben, die entlassene Mitgefangene in die Freiheit schmuggelten.
Jabbari saß in einer Eisdiele und telefonierte. Die Informatikstudentin arbeitete nebenbei als Innenarchitektin für einen Freund. Ein Mann am Nachbartisch sprach sie an. Er habe ihren Anruf mitgehört, sagte Dr. Morteza Sarbandi. Er plane, eine Praxis für Schönheitschirurgie einzurichten. Ob Jabbari ihm helfen könne.
Bei dem Besichtigungstermin geriet Jabbari in eine Falle. Der Mann sperrte die Tür ab. „Zier dich nicht so, was ist schon dabei?“, sagte er nach den Erinnerungen Jabbaris. Als er ihr den Rücken zuwandte, erstach sie ihn mit einem Küchenmesser. Sie flüchtete, als ein zweiter Mann die Tür von außen aufschloss. Noch in derselben Nacht wurde sie zu Hause bei ihren Eltern festgenommen.
Wie sich herausstellte, war Sarbandi ein ehemaliger Mitarbeiter des Geheimdienstes. Die Behörde setzte alles daran, den Prozess gegen Jabbari zu steuern.
Jabbari wurde im Gefängnis gefoltert
Ihre Tochter habe ein „modernes Leben im 21. Jahrhundert“ führen wollen, sagt Mutter Pakravan, eine sanfte, aber entschlossene Frau mit grauen Haaren. Jabbari sei im Iran dabei gewesen, alle „Hindernisse auf dem Weg zu ihren Träumen aus dem Weg“ zu räumen.
Im Gefängnis wurde Jabbari nach eigenen Worten gefoltert: Schlafentzug durch eine ewig brennende Neonlampe, Schläge, Tritte, Verbrennungen, Isolation. Ihre Familie wolle nichts mehr mit ihr zu tun haben, habe man der jungen Frau gesagt. Erst später konnte sie mit ihrer Mutter, ihrem Vater Fereydoon Jabbari und ihren beiden Schwestern Shahrzad und Sharare telefonieren.
Schon bevor der Prozess überhaupt begann, wurde Jabbari mit 30 Hieben wegen „außerehelichen Kontakts“ ausgepeitscht. Eineinhalb Jahre später wurde sie zum Tod verurteilt. Der Richter war gegen einen Islamgelehrten ausgetauscht worden. Er sagte, Jabbari hätte sich vergewaltigen lassen und dann Anzeige erstatten sollen. Er berief sich auf ein erzwungenes Geständnis, das Jabbari nach der Drohung, auch ihre jüngere Schwester Shahrzad zu foltern, unterschrieben hatte. Man hatte Shahrzad der Beihilfe zum Mord bezichtigt.
Die Jahre bis zur Vollstreckung des Urteils müssen sich endlos gezogen haben, für die Familie draußen und für Jabbari drinnen. Aus der Haft heraus wurde sie zu einer Kämpferin für vergewaltigte Frauen. Im Film hören wir ihre Stimme: „Die Gesetze über Vergewaltigung und Notwehr wurden von Männern geschrieben. Widersetzt du dich, bist du schuldig. Wehrst du dich, bist du schuldig. Fügst du dich, bist du schuldig.“ Sie wolle „aus ganzem Herzen meine Stimme erheben im Namen aller Frauen, die vergewaltigt wurden. Auch wenn es mein Leben kostet.“
Jabbari hätte sich retten können. Ihre Mutter hatte Kontakt zum Sohn des getöteten Vergewaltigers aufgenommen. Hätte der Sohn Jalal der Inhaftierten verziehen, wäre das Gesetz der Blutrache außer Kraft gesetzt worden. Jalal verlangte, dass Jabbari ihre Aussage über die versuchte Vergewaltigung zurückzieht. Dazu war sie nicht bereit.
Pakravan setzte alle Hebel in Bewegung. Der Fall ihrer Tochter kam offenbar sogar in den Verhandlungen um den Atomvertrag mit dem Iran zur Sprache. Menschen in Kanada, Australien, Frankreich und auch in Deutschland, protestierten für die Freilassung Jabbaris.
Die Familie sitzt im Auto, während Jabbari hingerichtet wird
Die heftigste Filmszene ist die Nacht der Hinrichtung. Die Familie verbringt sie im Auto vor dem Gefängnis. Auch davon gibt es verwackelte Handyaufnahmen, die später Verwandte über die Türkei ins Ausland brachten. Die ganze Geschichte sollte dokumentiert werden. Wir sehen eine Mutter, die darum ringt, nicht die Fassung zu verlieren.
Irgendwann kommt die Nachricht aus dem Gefängnis: Alles sei vorbei. Jalal, der Sohn des Vergewaltigers, muss den Stuhl unter der Verurteilten weggestoßen haben. So sieht es das Gesetz vor.
Mutter Shole Pakravan gelang 2017 mit Shahrzad die Flucht über Istanbul nach Deutschland. Ihre Schwester Sharare konnte vier Jahre später folgen. Dem Vater Fereydoon Jabbari ist der Reisepass entzogen worden. Protestiert seine Frau für Menschenrechte, sieht er sich nach Angaben des Filmteams jedes Mal Repressalien ausgesetzt.
Der Sohn des Vergewaltigers hatte Jabbari nicht verziehen. Umgekehrt hat sie dies getan. Wir hören im Film Reyhaneh Jabbaris Worte: „Freiheit bedeutet nicht, aus den Gefängnismauern auszubrechen, sondern aus den Mauern der Gedanken und der Seele.“ Und dann: „Ich sehne den Tag herbei, an dem kein Mädchen mehr vergewaltigt wird. Ich sehne den Tag herbei, an dem niemand mehr seine Macht ausnutzt. Ich sehne den Tag herbei, an dem die Rechte der Schwachen nicht mehr verletzt werden.“
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