Ausstellung in KölnWarum man früher lieber Leichen als lebende Modelle abzeichnete
Köln – Plinius dem Älteren zufolge war es die Tochter des Töpfers Blutades aus Korinth, welche die Porträtzeichnung erfand: Aus Liebe zu einem jungen Mann, der in die Fremde ging, zog sie den Schatten seines Gesichts, der vom Lampenlicht an die Wand geworfen wurde, mit Linien nach. Zeichnerisch, wie jedes Kind weiß, eignet man sich die Welt an, hält im Umriss fest, was selbst nicht fest umrissen ist. Insofern beginnt die Kunstgeschichte mit der Abstraktion.
„Linie lernen“, die neue Kabinettsausstellung im Wallraf-Richartz-Museum widmet sich der Zeichnung als lehr- und erlernbarer Kunst, in Ergänzung zur großen Maltechnik-Präsentation „Entdeckt!“ im Stockwerk darüber.
Zur Ausstellung
Die Graphikschau „Linie lernen. Die Kunst zu zeichnen“ ist bis zum 13. Februar im Wallraf-Richartz-Museum zu sehen.
Zur Ausstellung ist ein Katalog (83, Seiten 14 Euro) erschienen.
Die von Anne Buschhoff kuratierte Grafikschau ist nicht zuletzt ein Blick zurück auf die Ursprünge des ersten städtischen Museums der Stadt Köln. Denn die frühen Direktoren des „Wallrafianum“ in der Trankgasse 7 erteilten neben ihrer konservatorischen Arbeit auch Zeichenunterricht: Matthias Joseph De Noël, der erste Leiter des Museums, führte an Winterabenden zwölf bis 20 Schüler in die Geheimnisse der Zeichenkunst ein. Der Unterricht war kostenlos, lebende Modelle mussten die Schüler allerdings selbst mitbringen und bezahlen.
Ein Blatt mit recht dilettantisch ausgeführten Kopfstudien könnte sogar vom legendären Kölner Sammler selbst stammen. Das sei freilich, so Museumsdirektor Marcus Dekiert, bestenfalls eine „educated guess“.
Vater der Künste
Unbestritten dagegen ist die Vormachtstellung der Zeichnung, die seit der Renaissance eigentlich ungebrochen ist. Damals schlichtete Giorgio Vasari, der erste Kunsthistoriker, den „Paragone delle Arti“, den Streit um die Vormachtstellung zwischen Malerei und Bildhauerei, in dem er die Zeichnung zum „Vater der Künste“ ernannte. Ohne zeichnerische Entwürfe konnte kein Stein behauen, keine Leinwand bemalt werden.
Die Argumentation lässt sich gut an Cornelius Corts Kupferstich „Die Kunstakademie“ nach Jan van der Straet aus dem Jahr 1578 ablesen: Die pyramidenförmig aufgeschichtete Komposition zeigt den Ausbildungsweg des Künstlers, von den ersten Übungen bis zur Meisterschaft: Die Basis der Pyramide bilden fünf Jungen, die ein Skelett abzeichnen und eine Statue abzeichnen, dazu kommen noch zwei ältere Männer, die sich in der Führung des Zirkels und des Grabstichels üben. Genauere anatomische Kenntnisse lassen sich an einem Leichnam erwerben, der am linken Bildrand an einer Seilwinde aufgehangen ist: Was uns heute drastisch erscheint, diente damals der Schicklichkeit.
Mit dieser Arbeit korrespondiert ein Stich, den Reinier Vinkeles und Daniel Vrydag 1801 nach einer Vorlage von Pieter Barbier II und Jacques Kyper ausgeführt haben: Der hier gezeigte Zeichensaal befand sich im Gebäude der Felix-Meritis-Gesellschaft in Amsterdam, und weil der nur Mitgliedern zugänglich war, durfte hier nach weiblichen Modellen gezeichnet werden. Von dem an der Decke befestigten Gittergerüst wurden sogenannte Aktschlaufen gehangen: Sie sollten die Modelle abstützen und ihnen das lange Posieren erleichtern. Schließlich hatte sich die Zeichnung in ihrer Detailfülle längst vom flüchtigen Schattenriss emanzipiert.
Wem der Zugang zu solchen Privaträumen und Akademien verwehrt war – das galt bis ins 20. Jahrhundert hinein für viele Künstlerinnen – der konnte sich mit Zeichenbüchern behelfen, angefangen mit den Lehrbüchern Albrecht Dürers. Die Schau zeigt einige Beispiele aus Dürers Dresdner Skizzenbuch – dem Ziel ebenmäßiger Schönheit gingen komplizierte Vermessungsverfahren voraus.