Otto Freundlich war ein verfemter Klassiker der Moderne, Martin Noël widmete ihm sein spätes Werk. Im Kunstmuseum Villa Zanders ist jetzt zu sehen, warum.
Ausstellung in Bergisch GladbachWenn die Linie mit der Farbe kämpft
Auf perverse Weise haben vielleicht nur die Nazis die wahre Bedeutung Otto Freundlichs für die moderne Kunst erkannt. Sie setzten seine 1912 entstandene Skulptur „Großer Kopf“ auf das Titelblatt der „Entartete Kunst“-Ausstellung und sicherten ihm damit seinen Platz in der Kunstgeschichte. Allerdings fiel es der Nachwelt dann schwer, in Freundlich, der 1943 in einem deutschen KZ ermordet wurde, mehr zu sehen als den Lieblingsfeind der NS-Politiker. Dabei hatte sich 1938 noch halb Paris bewundernd um seine abstrakten, wie Kirchenfenster leuchtenden Gemälde geschart.
In den 1930er Jahren fand Freundlich zu seinem „Spätstil“, der die moderne Auflösung des Gegenstands mit dem Farbzauber der mittelalterlichen Glasfensterkunst verband. Er setzte seine Farben wie gebrochene Glasstücke auf die Leinwand, um aus den abstrakten Gemälden kosmische Energien für eine soziale Revolution zu ziehen. Mit den Gegenständen, hoffte Freundlich, würde auch das Besitzdenken aus der Welt verschwinden, und die Gesellschaft würde sich, wie die Farben auf seinen Bildern, zu einem neuen, besseren Ganzen fügen.
Im Gegensatz zu Otto Freundlichs Utopien sind die Farben seiner Gemälde kaum verblasst
Im Gegensatz zu Freundlichs Utopien sind die Farben seiner Gemälde kaum verblasst – davon konnte man sich zuletzt 2017 in einer großen Werkschau im Kölner Museum Ludwig überzeugen und bereits 1978 im Landesmuseum Bonn. Dort sah der Bonner Maler Martin Noël (1956-2010) Freundlichs Bilder und war von ihnen ähnlich fasziniert wie 40 Jahre zuvor Picasso, Braque oder Kandinsky. Er begann, alles über Freundlich zu sammeln, was er bezahlen konnte (vor allem Bücher), und als Noël glaubte, genug über ihn zu wissen, wagte er es, ihm einzelne Bilderserien zu widmen. In den letzten acht Jahren seines Lebens schuf er mehr als 200 Werke, die Freundlichs abstrakte Farben wieder aufleben lassen und doch vollkommen eigenständige Erfindungen sind.
Jetzt zeigt das Kunstmuseum Villa Zanders in Bergisch Gladbach diese freundliche Aneignung eines nach dem Krieg lange vergessenen Werks. Deren Prinzip blieb im Wesentlichen gleich: Noël zoomte in Freundlichs Bilder hinein, griff sich einzelne „Farbscherben“ heraus und setzte sie, deutlich vergrößert und leicht verändert, auf bearbeitete Holzplatten. Meist beschränkte er sich darauf, ein oder zwei breite Farbstreifen übereinander zu setzen, wobei er das Holz um die Streifen herum abtrug und diese als Reliefs mit scharf geschnittenen Konturen stehen ließ.
Auf diesen Freundlich-Serien, die Titel wie „Otto“ oder „Stolp“, Freundlichs Geburtsort, tragen, ist wenig zu sehen und gerade deswegen sehr viel. Wer nicht achtlos vorbeigeht, schaut genauer hin und bemerkt, dass es Noël um feinste Farbunterschiede und Schattierungen ging, um die „negative“ Oberflächenstruktur des abgetragenen Holzes und vor allem um die schwungvollen Farbränder. Angeblich zeichnen diese exakt einzelne der manchmal etwas zittrigen Konturen auf den Gemälden Freundlichs nach. Allerdings pauste Noël nicht ab, sondern zog die Linien freihändig. So viel künstlerische Freiheit nahm er sich dann doch.
Freundlich-Leihgaben sind empfindlich und teuer und nehmen in der Villa Zanders den deutlich kleineren Teil der Ausstellung ein. Aber die wenigen Beispiele, die Petra Oelschlägel in ihrer Abschiedsausstellung präsentiert, sind gut gewählt, sie zeigen, was Otto Freundlichs „Spätwerk“ ausmacht und umfassen sogar eines seiner Glasfenster. Man versteht auch rasch, was Noël an diesen „Glasmalereien“ begeisterte, zumal, wenn man sein Werk ein wenig kennt. Im alten Malerstreit darüber, ob die Linie oder die Farbe das Bild bestimmen (also ob dort die formgebende Kontur oder das Chaos der Farben herrscht) schlug er sich auf die Seite der Linie, und das zu einer Zeit, als die Streitfrage tatsächlich akademisch geworden zu sein schien. Aber Noël folgte dem, was ihm tagtäglich unter die Augen kam. Ihn faszinierten Risse im Straßenbelag oder in Häusermauern so sehr wie die Schatten, die Blumen werfen, und er begann, auf Gemälden oder Holzdrucken beides in eine Form zu bringen, die zugleich ganz Linie und ganz Farbe ist.
Martin Noël nahm seine Kunst buchstäblich aus dem Leben
Martin Noël nahm seine Kunst buchstäblich aus dem Leben. Was ihm bei Spaziergängen oder Wanderungen auffiel, hielt er als Skizze fest, trug es nach Hause und verwandelte es in ein nahezu abstraktes Zusammenspiel aus Linien vor einem einfarbigen Hintergrund; der ursprüngliche Eindruck lässt sich manchmal noch erahnen. So suchte er nach der flüchtigen Schönheit im Unbeachteten und scheinbar Unbedeutenden. Mit der Linie hielt er fest, was er dabei fand, und mit der Farbe hauchte er ihm Leben ein.
Ganz ähnlich hielt er es auch mit den Gemälden Freundlichs. Auch sie waren für ihn eine „übersehene“ Wirklichkeit, die er mit Blicken durchwanderte und deren Besonderheiten er in sein eigenes Kunstverständnis übertrug. Er gab dabei durchaus eigenen Vorlieben nach, denn so viel Rosa und Himmelblau wie auf seinen Freundlich-Bildern gibt es bei diesem nicht. In anderen Dingen folgte er seinem Vorbild gerne, etwa, wenn er miteinander verwandte Farbtöne nebeneinander setzte. Freundlich neigte dazu, viele verschiedene Schattierungen von Blau oder Rot zu „Farbverläufen“ zu arrangieren.
Aus der Art schlagen in der Ausstellung einige Großformate, auf denen Martin Noël mit über die gesamte Leinwand verteilten Farben die abstrakten Freundlich-Gemälde in lockerer Form zu imitieren scheint. Aber sie sind weniger ein Zeichen von Unentschiedenheit als von Experimentierfreude. Gleiches gilt für Fotografien, auf denen nichts als unscharfe, gegeneinander gesetzte Farbflächen zu sehen sind. Hier zoomt Noël so lange in die Welt hinein, bis ihre Konturen verschwimmen. Das Gegenteil gelang ihm mit seinen Freundlich gewidmeten Holzbildern. Das vertraute „Otto“ im Titel tragen diese ganz zu Recht.
„Martin Noël – Otto Freundlich“, Kunstmuseum Villa Zanders, Konrad-Adenauer-Platz 8, Bergisch Gladbach, Di., Fr. 14-18 Uhr, Mi., Sa. 10-18 Uhr, Do. 14-20 Uhr, So. 11-18 Uhr, bis 25. August 2024. Der Katalog zur Ausstellung kostet 34 Euro.