Die Bundeskunsthalle zeigt die Migrationsgeschichte Deutschlands aus der Sicht der Migranten – und man könnte heulen vor Wut und Scham.
Ausstellung in BonnDie traurige Geschichte des einmillionsten Gastarbeiters
Am 10. September 1964 stieg Armando Rodrigues de Sá am Deutzer Bahnhof unter dem Blitzlichtgewitter der Pressefotografen aus seinem Zug. Ein ihm unbekannter Mann – es handelte sich um den Vorsitzenden des Arbeitgeberverbandes der Metallindustrie im Regierungsbezirk Köln – überreichte Rodrigues einen Strauß Nelken. Das zweisitzige Zündapp-Mokick, das er noch dazu geschenkt bekam, ist heute im Bonner Haus der Geschichte ausgestellt.
Rodrigues hat nur einmal damit für die Fotografen posiert, gefahren hat er es nie, er besaß keinen Führerschein, niemand hatte sich die Mühe gemacht, im Vorfeld danach zu fragen. Es ging ja auch gar nicht um ihn. Der 38-jährige Zimmermann aus Portugal war nach Zufallsprinzip vom Arbeitgeberverband zum einmillionsten Gastarbeiter der Bundesrepublik Deutschland erklärt worden.
Wie es Armando Rodrigues de Sá anschließend erging, das erfährt man, wenigstens ansatzweise, in der Ausstellung „Wer wir sind – Fragen an ein Einwanderungsland“ in der Bundeskunsthalle, nur wenige Meter vom Haus der Geschichte entfernt. Der unfreiwillige Millionenmann, liest man hier, starb 15 Jahre später in Portugal an Magenkrebs, wohl eine Spätfolge seiner Arbeit. Dass er in Deutschland krankenversichert gewesen wäre, hatte ihm niemand erklärt. Die Ersparnisse, für die er Land und Familie verlassen hatte, gingen für die Behandlung drauf.
Die Schau legt Zeugnis ab vom völligen Versagen der Mehrheitsgesellschaft
Die meisten Migrationsgeschichten, denen man in „Wer wir sind“ begegnet, erzählen von Schicksalen und Gegebenheiten, die man hierzulande allzu gerne vergisst, selbst wenn man im Hinterkopf von ihnen wusste. Die Schau stellt, so steht es im Pressetext, kritische Fragen an Deutschland als Einwanderungsland. Man könnte es freilich sehr viel direkter sagen: Sie legt Zeugnis ab vom nahezu völligen Versagen der Mehrheitsgesellschaft denjenigen Menschen gegenüber, die sie in den Jahren des Aufschwungs als billige Arbeitskräfte nach Deutschland gelockt hatte.
Eine Hexenhausvokabel, gewiss, aber angesichts der Abfolge von Entwürdigungen, denen sich die „Gastarbeiter“ unterziehen mussten, durchaus angebracht – von unnötigen medizinischen Tests, über die Sonderzüge, mit denen sie unter unzumutbaren Bedingungen nach München oder Köln verfrachtet wurden, bis zur Unterbringung in lagerähnlichen Unterkünften. Von Ausbeutung, Alltagsrassismus und dem tödlichen Terror von rechts, dem sich ein großer, schwer verdaulicher Block widmet, ganz zu schweigen.
Die Anwerbepraxis der DDR war im Übrigen nicht viel besser: Hier versprach man Migranten aus den „sozialistischen Bruderstaaten“ Ausbildung gegen Arbeitskraft, ließ den Part mit der Ausbildung aber schnell wieder unter den Tisch fallen.
In Köln soll 2027 das „Haus der Einwanderungsgesellschaft“ eröffnen
Es geht in der von Johanna Adam, Lynhan Balatbat-Helbock und Dan Thy Nguyen kuratierten Ausstellung nicht ausschließlich um Arbeitsmigration, sondern auch um Geflüchtete, um Sinti und Roma, um jüdisches Leben in Deutschland. Das könnte ein bisschen viel werden, doch eint die einzelnen Themenfelder, dass sie konsequent aus der Sicht der Migrantinnen und Migranten erzählt werden.
Ein Großteil der Exponate – Fotos, Schriftstücke, Protestschilder – stammt aus der rund 150 000 Objekte umfassenden Sammlung des „Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland“ (DOMiD). Dieses Migrationsmuseum wird es bald wirklich geben, in der ehemaligen KHD-Halle 70 in Köln-Kalk.
Zuletzt hat sich die Eröffnung des „Haus der Einwanderungsgesellschaft“ um zwei Jahre auf frühestens 2027 verzögert. Aber es wird kommen, und es ist, wie man in Bonn sehen kann, überfällig. Viele Interviews, die man in Bonn hören kann, sind im Umfeld von Nuran David Calis’ Stück „Mölln 92/22“ entstanden: Zum 30. Jahrestag des Mordanschlags hatte der Regisseur die Überlebenden auf der Bühne des Schauspiels Köln zu Wort kommen lassen, endlich.
Ergänzt werden diese Dokumente mit Positionen aus der bildenden Kunst, es sind bekannte Namen wie Hito Steyerl, Harun Farocki oder Hans Haacke dabei, noch eindrücklicher sind allerdings die Werke der Betroffenen: Die Zeichnungen des Kroaten Dragutin Trumbetaš aus den 1970er Jahren etwa spiegeln die deutschen Erfahrungen des gelernten Schriftsetzers mit feinen Linien, aber der unverhohlenen Aggression des Herabgesetzten wider.
Man könnte heulen, vor Wut und Scham, aber man muss sich dieser Aggression aussetzen, sie weist den Weg zu einer gerechteren Gesellschaft.
„Wer wir sind – Fragen an ein Einwanderungsland“ ist bis zum 8. Oktober 2023 in der Bundeskunsthalle in Bonn zu sehen. Begleitend gibt es eine Publikation für 9 Euro.